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Als nun auch ein arbeitsfreier Sonntag nach dem andern verging, ohne daß Franz den Hof betrat, fing Trudi doch allmählich an, sich über sein Ausbleiben zu beunruhigen und nach anderen Gründen dafür zu suchen als in seiner anstrengenden wirtschaftlichen Tätigkeit. Sie hatte ihn einmal in der Kirche gesehen und dort einen fest auf sie gerichteten traurigen Blick von ihm aufgefangen. Was hatte der zu bedeuten? eine ihr aus seinem Herzen von fern zugesandte Anklage? aber um welcher ihr unbewußten Schuld willen? Hatte sie ihn durch ein von ihm mißverstandenes Wort oder durch ein ungewollt kühles Benehmen verletzt? Aber wann und wo sollte das geschehen sein? sie konnte sich auf etwas dem Ähnliches durchaus nicht besinnen. Oder – – Ammerie hatte ihr einmal gesagt, daß sein und Jakobinens Vater einen Pakt geschlossen hätten, ihre Kinder dermaleinst miteinander zu verheiraten. Sollte das nun zur Tat werden und Franz sich dem Willen seines Vaters gefügt haben? Dann freilich – und es dünkte sie die wahrscheinlichste ihrer Mutmaßungen – dann mußte sie hinter der für ihn Auserkorenen zurückstehen und ihm auf immer entsagen. Daheim unter der lieblosen Behandlung ihres Stiefvaters war sie an Entbehrungen und Entsagungen vollauf gewöhnt; hier aber, wo sie im Schoß der Armbruster'schen Familie über alles Wünschen und Erwarten wie ein Kind des Hauses gehalten wurde, mußte ihr der aufgedrungene Verzicht gerade auf das höchste Glück, das ihr die Zukunft noch bescheren konnte, einen unermeßlichen Schmerz bereiten.
Daß sie, statt von äußeren Umständen und ihr feindlichen Einflüssen um ihre Hoffnung betrogen zu werden, sich in ihren düsteren Ahnungen täuschen könnte und ihre Befürchtungen nur vorübergehend schattende Wolken wären, die ein Windhauch aus Sonnenaufgang her vom wieder blauenden Himmel verscheuchen würde, diese Möglichkeit kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie vergrub sich in ihr Leid und schaffte mit verdoppeltem Eifer in Haus und Hof, um nicht immerfort nur ihren trüben Gedanken nachzuhängen, aber ihre jugendliche Frohheit war in die Brüche gegangen und hatte einem schwermütigen Ernste Platz gemacht.
In Gegenwart der Hausgenossen beherrschte sie sich und zwang sich zu einer Heiterkeit, an der ihr Inneres keinen Anteil hatte. Nur Ammerie gegenüber gab sie sich keine Mühe, zu scheinen, was sie nicht war, und der in ihrer Heimlichkeit zwar durch kein offenes Geständnis, aber durch manches auf neckische Anspielungen ihr zufällig entschlüpfte Wort schon ziemlich Eingeweihten blieb Trudis bedrückter Gemütszustand nicht lange verborgen. Endlich hielt die ein rückhaltloses Vertrauen unter Freundinnen Verlangende das hartnäckige Schweigen der anderen nicht mehr aus und wollte wissen, was es zwischen Franz und Trudi gegeben hatte. Denn daß nur Franz der Urheber von Trudis Kummer war, stand für sie so fest wie daß fließendes Wasser und eine rollende Kugel nicht bergauf, sondern bergunter laufen.
Als die beiden Mädchen einmal, mit einer Handarbeit beschäftigt, in ihrem Zimmer allein saßen und Trudis Brust ein hörbar tiefer Atemzug hob und senkte, fing Ammerie unvermittelt an: »Wie lange ist es denn her, daß du ihn nicht gesehen und gesprochen hast?«
Trudi ließ die Hände in den Schoß sinken und starrte die ihre Sorgen Erratende verdutzt an, aber die heuchelnde Frage: wen meinst du denn? brachte sie nicht über die Lippen: »Ach, es können Wochen her sein,« sprach sie traurig.
»Und warum kommt er nicht?«
»Ich weiß es nicht,« hauchte Trudi.
»Ihr habt also keinen Streit miteinander gehabt?«
»Nein, niemals.«
»Ja, hast du denn gar keine Vermutung, weshalb er sich von dir zurückhält?«
»Doch, eine, und die stützt sich auf eine Mitteilung, die du mir früher einmal gemacht hast.«
»Nun?«
»Er wird die Jakobine heiraten wollen oder müssen.«
»Wollen sicher nicht!« behauptete Ammerie mit aller Entschiedenheit. »Du hast es doch oft genug mit angesehen, wie wegwerfend er Jakobine behandelte. Und von müssen kann auch keine Rede sein. Wer will ihn dazu zwingen? Das kann auch sein Vater nicht.«
»Vielleicht bedarf es dazu keines großen Zwanges,« erwiderte Trudi bitteren Tones. »Jakobine ist ein reiches Mädchen, und ich bin bettelarm.«
»So!« versetzte Ammerie, »was du doch für Grillen fängst! Ob reich oder arm, liebe Trudi, das ist Franz keinen Pfifferling wert. Dem darfst du eine so niedrige Gesinnung nicht zutrauen, daß er nur nach Geld freien sollte. Das täte er nun und nimmermehr, auch wenn nicht das Bild einer gewissen anderen in seinem Herzen wohnte.«
»Bist du dessen so gewiß, daß mein Bild in seinem Herzen wohnt?«
»Du etwa nicht?« fragte Ammerie.
»Hab's auch einmal geglaubt, – jetzt kann ich es nicht mehr,« sprach Trudi mit Tränen in den Augen.
»Aber Trudi!« rief Ammerie, »soll ich dir die Beweise dafür an den Fingern herzählen? Erinnere dich doch an die Lesen in den Wingerten, an unsere Tanzstunden hier oben auf dem Söller, an die lustigen Spinnstuben, an Franzens Besuche hier bei uns, wo er manchmal mit pochendem Herzen wie ein verängstigter Schulbube vor dir stand und kaum einen vernünftigen Satz hervorstottern konnte. Wie du da noch an seiner Liebe zweifeln kannst, begreif ich nicht.«
Diese Vorhaltungen verfehlten ihres Eindruckes auf Trudi nicht, und schon viel gefaßter sagte sie: »Ja, dann gib du mir doch einen Beweggrund für sein Ausbleiben an, wenn du einen finden kannst.«
»Ich weiß freilich auch keinen,« mußte Ammerie bekennen. »Möglich, daß bei Gersbachers etwas vorgefallen ist, was Franz nötigt, unser Haus eine Zeitlang zu meiden, vielleicht eine Mißhelligkeit zwischen dem alten Grobian und meinem Vater, die erst beigelegt werden muß, ehe sie wieder freundschaftlich mit uns verkehren können. Soll ich mal hingehen zu ihnen und mit meiner berühmten Schlauheit leise auf den Busch klopfen, um zu sehen und zu hören, wie Hase da läuft?«
»Nein, das sollst du nicht!« fiel Trudi schnell ein. »Dein leises Aufdenbuschklopfen, das ich mir lebhaft vorstellen kann, würde die Spannung nur noch verschärfen, und ich will nicht, daß du dir meinetwegen Ungelegenheiten in deiner Verwandtschaft machst.«
»Ach was, Ungelegenheiten! da frag ich den Kuckuck danach,« wetterte Ammerie. »Macht denn Franz dir keine Ungelegenheiten mit seinem dummen Mucken und Bösetun? Aber nimm ihn dir doch selber vor, daß er mit der Sprache herausrückt.«
»Nein, das kann ich nicht, und das tu ich nicht, um alles in der Welt nicht,« erklärte Trudi.
»Nun dann werd ich ihn fragen; ich kann das sehr gut, und mich soll er nicht mit Ausflüchten und leeren Redensarten abspeisen. Ich halt ihn am Schlafittchen und laß ihn nicht eher los als bis er mir alles ehrlich gebeichtet hat,« sagte Ammerie.
»Er würde denken, du kämest in meinem Auftrage,« wandte Trudi ein.
»Laß ihn doch in seinem Dickkopfe denken, was er Lust hat,« erwiderte Ammerie heftig. »Du mußt unter allen Umständen wissen, wie du mit ihm dran bist, entweder oder! so oder so!«
»Es wäre mir doch erwünschter, wenn du es auf andere Weise erfahren könntest, was Franz gegen mich hat,« bat Trudi.
»Na, ich werd's versuchen, und sollt' ich dazu in ganz Wachenheim herumtappen und Blindekuh spielen müssen,« versprach Ammerie. »Aber darauf gebe ich dir meinen Kopf zum Pfande, daß Franz nicht zu Kreuze kriecht, und wenn die beiden alten Brummbären, der Gersbacher und der Steinecker, sich noch so klotzig vor ihm auf die Hinterbeine stellen. Und wenn's Not an Mann geht, bin ich auch noch da und springe Knall und Fall dazwischen, daß sie ihr blaues Wunder haben sollen.«
Ammeries mutiges Draufgängertum hatte etwas sehr Ergötzliches und richtete Trudi aus ihrer Verzagtheit einigermaßen auf; lächelnd reichte sie der unerschrockenen Freundin die Hand.
Nun schwiegen sie beide. Nach einer Weile aber fing Trudi wieder an: »Sage mal, Ammerie, glaubst du, daß deine Eltern von meiner – von meinem Geheimnis etwas wissen?«
»O bewahre! nicht das geringste,« versicherte Ammerie überzeugungsvoll. »Meinen Vater kenn ich durch und durch, der denkt an so was gar nicht. Und Mütterle? – ach nein! die noch weniger.«
»Das ist mir sehr lieb; ich glaub's auch nicht,« sprach Trudi. –
Die Tage schwanden ohne neues zu bringen dahin, und mit ihnen verblich auch wieder mehr und mehr der schwache Schimmer von Hoffnung, den Ammerie mit ihrer festen Zuversicht zu Franzens Treue und Standhaftigkeit in Trudis Herzen entfacht hatte. Sie hatte der einer tröstlichen Kunde Harrenden nichts über die Meinung im Gersbacher'schen Hause melden können, weil sie infolge von Trudis Verbot gar nicht dort gewesen war und ihr das sachte Herumhorchen im Städtchen nichts genutzt hatte.
Da wollte die abermals Enttäuschte von dem aufreibenden Hangen und Bangen ablassen und sich in ihr Los schicken, zeitlebens hier auf dem Abtshofe zu bleiben, wenn die lieben Alten sie dauernd bei sich behalten wollten, die sie dann, selber alternd und verblühend, in unauslöschlicher Dankbarkeit für die erwiesene Wohltat hüten und pflegen wollte wie sie nur wüßte und könnte.
Schon hatte sie sich bei der Ausmalung dieses bescheidenen Zukunftsplanes eine gewisse Ruhe erkämpft, als einmal gegen Mittag Ammerie der in der Küche Hantierenden von außen durch das offene Fenster zurief: »Trudi, komm flink in den Garten! ich hab eine Spur!«
Trudi lächelte ungläubig zu der nicht viel verheißenden Botschaft. Da sie aber bei der Küchenarbeit entbehrlich war, so folgte sie lässig und doch nicht ganz ohne Neugier der Vorauseilenden in den schattigen Laubgang, wo sie vor dem Belauschtwerden sicher waren.
Dort berichtet nun Ammerie: »Ich habe den Schneckenkaschper gesprochen, und denke dir, was mir der erzählt hat! Er hat neulich seinen Großvater, den Hammichel, mit Jakobinen in vertrauter Zwiesprach am Steineckerschen Gartenzaun abgefaßt. Patz hat die beiden im Gebüsch aufgestöbert. Jakobine ist sofort in größter Bestürzung und Verwirrung davongelaufen, und der Alte hat den Jungen fürchterlich ausgeschimpft, daß er ihm nachgeschlichen ist und ihn bei der Unterredung gestört hat. Was sagst du dazu?«
»Ist das alles?« fragte Trudi.
»Alles? alles?« äffte ihr Ammerie nach. »Ist das etwa nichts? kannst du dir das weitere nun nicht von selber zusammenklauben?«
»Nein, daraus kann ich mir gar nichts zusammenklauben.«
»Ja, siehst du denn nicht ein, was daraus zu folgern und zu schließen ist?« fuhr Ammerie ungeduldig werdend und sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tupfend fort.
»Nein, ich bin leider nicht so schlau wie du,« lachte Trudi.
»Nun, daraus folgt doch sonnen-, mond- und sternenklar, daß, wie Hammichels Einmischung zeigt, die Hindernisse und Schwierigkeiten, mit denen man Franzens Verbindung mit dir hintertreiben will, nicht bei Gersbachers, sondern bei Steineckers ausgeheckt und zu Schlingen und Stricken für euch gedreht werden, und endlich, daß noch nichts entschieden ist, denn sonst hätte Jakobine keine Ursach, sich in eine Verschwörung mit dem alten Ränkespinner, dem Hammichel, einzulassen.«
»Also du hast nichts Geringeres als eine höchst bedrohliche Verschwörung gegen mich entdeckt. Ammerie, da hast du eine großartige Spur gefunden,« mußte Trudi wieder lachen.
»Auch noch Spott?« schmollte Ammerie. »Ist das der Dank für meine Umsicht, daß ich – daß –«
»Daß dir der Schneckenkaschper zufällig begegnet ist, der von den gefährlichen Abmachungen der beiden Verschwörer kein Sterbenswort gehört hat.«
»Das ist kein Zufall, das ist Schickung, die wir nicht unbeachtet lassen dürfen,« sprach Ammerie, sich gekränkt von Trudi abwendend.
»Sei nicht böse!« lenkte Trudi begütigend ein. »Komm her und laß uns jetzt einmal ernsthaft darüber reden.« Sie schob ihren Arm unter den der schnell Versöhnten, und so schritten sie beide den Gartenweg entlang. »Was meinte denn Kaschper zu der von ihm auseinandergesprengten Zusammenkunft?«
»Er meinte, wo Hammichel seine Spürnase hineinsteckte, das könnte niemals etwas Gutes sein, und bei seiner Feindschaft gegen uns Armbrusters handelte es sich in seinen heimlichen Abmachungen mit Jakobinen sicher um einen uns zugedachten bösen Streich. Darum hätte er, Kaschper, dir und mir aufgelauert, um uns diese Mitteilung zu machen und uns zu warnen. Mehr konnte er nicht sagen, aber er hat mir versprochen, scharf aufzupassen und uns sofort zu benachrichtigen, wenn er etwas uns Nachteiliges aufschnappen würde.«
»Der liebe Junge!« sprach Trudi. »Ich glaube, der ist schon viel klüger und gewitzter als die meisten von ihm annehmen.«
»Freilich ist er das,« stimmte Ammerie zu. »In dieser Beziehung ist er ja bei dem Alten in der besten Lehre. Uns ist er sehr anhänglich und ergeben und wird uns immer gern zu Diensten sein. Wir können ihn vielleicht noch gut gebrauchen, um dies und jenes aus dem feindlichen Lager zu erfahren.«
»Wenn ich nur wüßte, was die beiden am Gartenzaun gegen uns angezettelt haben!« sagte Trudi.
»Ja, das auszuspintisieren bin ich doch noch nicht schlau genug,« lachte Ammerie.
Sie sannen nun schweigend darüber nach, was sie tun sollten, um eine Klärung der wie ein schwül drückendes Gewitter in der Luft schwebenden Beziehungen zwischen Franz und Trudi herbeizuführen. Aber sie grübelten vergeblich, keiner von beiden kam ein erleuchtender Gedanke.
»Es hilft uns alles nichts, Trudi, als mit Franz selber zu reden,« nahm Ammerie das Gespräch endlich wieder auf. »Und das gescheiteste wäre, wenn du das tätest mit der einfachen Frage: Franz, wie stehen wir zwei miteinander?«
Trudi erwiderte: »Dazu bin ich zu stolz und auch zu demütig ihm gegenüber. Du wirst mich schon verstehen, was ich damit sagen will.«
Ammerie nickte stumm und drückte leise der Freundin Arm. »Ich wollte, es fiele mir etwas ein, wie man Franz einmal auf die Probe stellen könnte,« hub sie bald wieder an, »auf eine entscheidende, alle Zweifel lösende Probe, der er nicht ausweichen könnte und bei der er unzweideutig Farbe bekennen müßte.«
Trudi blieb auf dem Flecke stehen, sah Ammerie überrascht an und sprach: »Ja! – das ist ein guter Vorschlag. Aber,« fuhr sie nach kurzer Überlegung fort, »so recht will mir das doch nicht gefallen; es kommt mir unwürdig und nicht ehrlich vor, es sieht aus, als wollten wir Franz eine Falle stellen, und überlisten mag ich ihn nicht; freiwillig muß er sich zu dem entschließen, was ihm sein Herz gebietet. Ein durch einen Überfall, einen Handstreich errungener Sieg hat in meinen Augen keinen großen Wert. Nein, nein, keine Probe! Geduld müssen wir haben, Ammerie! und wenn es mit der Geduld zu Ende geht, – bei mir ist es schon so weit – so bleibt nichts übrig als Entsagung auf Liebe und Liebesglück,« schloß Trudi in tiefer, innerer Bewegung.
Ammerie wollte darauf noch etwas erwidern, aber da läutete es Mittag auf dem Turme.
»Komm!« sagte Trudi nun in ruhigem Ton, »dein lieber Vater verlangt Pünktlichkeit von uns.«
Sie verließen den Garten und schritten dem Hause zu.