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Agathens Koffer stand gepackt. Frau Wittke lief nun schon drei Tage lang mit geschwollenen Augenlidern herum, konnte es noch immer nicht begreifen, daß Agathe, wie sie sie jetzt kurzweg nannte, nicht bei ihnen bleiben wollte, wo doch selbst ihr Gustav gesagt hatte: »Wenn ick ooch sonst keen Freund bin von'm fremden Jesicht ejal an meinem Tisch – die kleene Frau dürftest du dir dreist als Jesellschafterin nehmen, Anneken.«
Agathe, das zarte Gesicht noch durchsichtiger in dem schwarzen Trauerkleid, nahm den Abschied ebenfalls nicht leicht. Anna Wittke indessen eiferte, zornig fast durch den sanften, passiven Widerstand. »Na ja ... die alten Grafen ... das is Familie für Sie. Wir sind Fremde. Aber fragt sich doch, wo Sie mehr am Platz sind.«
Agathe legte ihre blasse, schmale Hand beschwichtigend auf Frau Wittkes Arm. »Am Platz ist man, wo man gebraucht wird – nicht da, wo man nur Luxus ist ...« Wenn sie es so recht bedachte, die gute Anna Wittke – es war das Leben, mit seinen vielen Verwandlungen. Als wär's ein Theaterstück. Und sie machte sich ihre ganz eigenen Gedanken, wenn sie an den schlanken hübschen Grafen Xaver Sternfeld dachte, der damals zum Leichenbegängnis des alten Fürsten gekommen war, und der so blaß und mit so lieben Augen sie gebeten hatte, sich der armen kleinen Frau anzunehmen, bis sie sich von dem furchtbaren Schock erholt hätte. Sie hatte ihn dafür richtig angeschnauzt: »Nu nee – wir werden sie auf die Straße setzen.« Und an der Tür hatte sie noch gehört, wie er zu der jungen Durchlaucht gesagt hätte: »Tag und Nacht will ich arbeiten für Sie. Aber jetzt ... meine Eltern sind arme Leute ... liebe ... liebe, kleine Agathe ...«
Seitdem waren viele Briefe gekommen – aus Wien und aus der Schweiz. Bis dann eines Abends Agathe sagte: »Die Wirtschafterin der alten Grafen hat schwere Gicht. Da ist schon das beste, ich helfe dort ein wenig aus.« Und war dabei rot geworden – so rot!
Frau Wittke aber, die jetzt doch schon wußte, was Takt war, konnte es sich am Vorabend des Abschieds doch nicht verkneifen, zu fragen: »Wäre das nicht ein lieber, netter Mann für Sie, der junge Graf Sternfeld?«
Und hätte sich wiedermal ohrfeigen können, als Agathe von »seiner Frau« sprach. Richtig – das hatte sie ja ganz vergessen, obwohl ihr Gustav es ihr schon einmal erzählt hatte. Eine Stumper war es, von dem Wiener Affairisten Stumper die Tochter. Die auch mitmanschte in Geschäften, was dem jungen Grafen nicht paßte, und die ihn nicht locker ließ wegen des schönen Titels, und der er doch nichts Ernstes vorwerfen konnte, so daß es zu keiner Scheidung kommen wollte. Ach du lieber Gott ... Das lag alles nicht so einfach – und gar so frohen Tagen fuhr die arme kleine Agathe auch nicht entgegen!
So schluchzte denn die Frau Wittke grad so haltlos und ausgiebig auf dem Bahnsteig, solange sie noch den letzten Ringel der grauen Rauchschlange des Zuges, erspähen konnte, der Agathe nach Wien entführte, wie sie einst in der Kastanienallee geschluchzt hatte – als die verständnislose Herrin ihr einmal ein irgendwo aufgegabeltes Buch, über das sie die Wirklichkeit vergessen, um die Ohren geschlagen und dann ins Feuer geworfen hatte. »Ick weeß ja nich mal, wie't zu Ende jeht,« hatte sie damals geheult.
Auch jetzt wußte sie nicht, wie es zu Ende gehen würde ... Und wußte nicht, wie das mit ihr selbst weitergehen sollte, die denken und leben gelernt hatte durch das zarte, feine, willensstarke Geschöpf ...
Erst als sich Herr Wittke heftig seinen spiegelblanken Zylinder aufknallte und unmutig rief: »Na, nu is Schluß, Anneken ...« – erst da fand sie sich zurück zu ihrem Gustav.
In Dresden machte die verwitwete Fürstin Agathe von Hoheneck Station, um mit dem Notar zu sprechen. Was ihr nach dem Tode ihres Mannes verblieb, genügte kaum, um ihr Leben während einiger Wochen zu fristen. Er hatte sich wohl trotz aller Aufklärungen nie einen Begriff gemacht von den tatsächlichen Verhältnissen. Denn in seinen vielen Testamenten, die er gerade in den letzten Monaten geschrieben, hatte er sie immer aufs neue zu seiner »Universalerbin« ernannt, ihr nur zur Bedingung gemacht, nie das Geringste von seiner für ihn nicht mehr existierenden Tochter anzunehmen.
Der Notar sagte: »Diese Bedingung steht in keinem Verhältnis zu dem, was der Fürst Ihnen hinterläßt. Soviel ich weiß, lebt seine Tochter in überaus glänzenden Verhältnissen, und es wäre somit natürlich – –«
»Die Wünsche meines Mannes waren und sind mir nach seinem Tode Befehle, Herr Notar. Da ich seinen Namen trage, habe ich mich ihnen zu fügen.« Sie sagte es leise und bestimmt, leistete die Unterschriften, die von ihr verlangt wurden, und verabschiedete sich. Der Notar geleitete sie zur Treppe.
Als Agathe den schon einmal, vier Wochen nach der Katastrophe, beschrittenen Weg zur Ruhestätte ihres Mannes einschlug, einen Immortellenkranz am Arm, sah sie eine schlanke, blonde Frauengestalt am Grabe stehen. Sie war in schwere Schleier gehüllt, ein Strauß kostbarer Orchideen lag auf dem efeuumsponnenen Hügel.
Agathes Herz schlug so rasch und hart, daß ihr war, als müßte die Frau es hören. Denn die Frau weinte nicht und betete nicht. Die Frau stand da mit schlaff herabhängenden Armen und starrte in die Luft. Agathe wollte hinter einen Baum treten, wollte jetzt nicht mit der Tochter des Mannes sprechen, die, wenn auch nur ganz lose und unbewußt, mit Ursache gewesen sein mochte an seinem Tod. Aber Wanda drehte sich um und sagte, als wäre es das Selbstverständlichste, daß sie Agathe hier traf: »Hier müssen wir uns wiedersehen!« Ihre Stimme klang anders als früher. Sie hatte etwas Müdes, Gebrochenes.
»Ich will dich nicht vertreiben, Wanda. Ich fürchte nur, wir beide haben keinen Raum an diesem Grab.«
Wandas Gesicht verlor jede Farbe. »Bist du so geworden, Agathe?« All die Jahre, die sie zusammen verlebt, gearbeitet, gehofft, verloren, schossen wie in wilder Jagd zwischen sie hindurch, umkreisten sie ... stießen sie aufeinander zu.
»Deinem Bruder wäre es lieb, uns friedlich beisammen zu wissen,« sagte Wanda leise.
»Meinem Mann wäre es eine Qual – wenn er es wüßte.«
»Der Lebende hat recht, Agathe.«
»Lebend ist – wer in uns lebt.« Agathe legte stumm ihren bescheidenen Kranz zu Füßen des Hügels nieder.
Wanda trat auf sie zu, riß sie an den Händen zu sich empor. »Wir hätten Freundinnen werden können, Agathe ... gerade jetzt.«
»Gerade jetzt können wir es nicht sein ... gerade jetzt nicht.«
Da sahen sie einander an, ohne Feindseligkeit, mit leiser Trauer nur, daß sie aneinander vorbeigehen mußten – wollten sie einander nicht geringachten, um ihrer Treulosigkeit willen.
Ganz leer und kalt ward es plötzlich in Wandas Seele. »Ich habe unser altes Palais gesucht. Wollte es kaufen, mieten – wollte darin wohnen, warten, bis Tom zurückkehrte von seiner großen Reise. Dann erst wollte ich es verlassen. Ich habe es nicht gefunden. Da, wo es gestanden – wird ein Warenhaus errichtet – –« Alle Armseligkeit ihres Daseins, alles Darben ihres Empfindens lag in ihren Worten und aller zertretener Stolz.
»Mehr ist nicht übriggeblieben, als was hier unten liegt,« sagte Agathe.
Da sank Wanda in die Knie, breitete die Arme weit aus, daß ihre Hände im Efeu versanken. Und ihr war, als hätte sie jetzt endlich das Haus gefunden, das alte Palais, in dem ihre Wiege gestanden, in dem sie ihre ersten Laute gestammelt – das Haus, das ihre ersten Erinnerungen barg, das verknüpft war mit allem, was ihrer Jugendjahre edelste Blüte gewesen. Hier war es ... ihr Haus ... hier ... wo sein altes Wappen ruhte mit dem alten Wahlspruch ... Sie fiel mit dem Gesicht in die kühlen Blätter, stöhnte: »Tom ... Tom!«
Agathe wurde sehr bleich. Nicht an ihr war es zu richten. Nicht an ihr zu verzeihen. Sie ließ den Schleier herunter und eilte wie gejagt und als fürchtete sie, zurückgerufen zu werden, davon. Am selben Abend reiste sie weiter nach Wien. – –
Wie gebrochen kam Wanda in ihr Hotel zurück. Seit Wochen lebte sie wie »auf dem Sprung,« wagte kaum, das Nötigste auszupacken, telephonierte zweimal täglich nach Berlin an ihre Bank, um zu fragen, ob etwas gekommen sei. Außer geschäftlichen Briefen, die immer sparsamer einliefen, und etlichen Sportblättern hatte ihr noch nichts nachgesandt werden können. Von Stephens war seit Monaten keine Nachricht gekommen, von Tom King kein Wort seit seiner Abreise. Nicht einmal die Bestätigung vom Eingang der überwiesenen Gelder. Die afghanische Gesandtschaft hatte im Auftrage ihres Staatsoberhauptes Tom Kings Eisenbahnwohnung gekauft, mit allem, was sie an Büchern, Bildern, Wertsachen enthielt. Es war eine große Summe gewesen, der Wanda den größten Teil ihres eigenen in Berlin deponierten Vermögens hinzugefügt hatte.
Das unheimliche Schweigen erklärte sie sich mit plötzlich erstandenen Schwierigkeiten, zum Teil vielleicht materieller Art, in die man ihr keinen Einblick hatte gewähren wollen. Sie sagte zur Winter: »Entweder bin ich die Frau meines Mannes oder nicht. Er hat nicht erlaubt, daß ich ihn begleite. Er kann mir nicht verbieten, ihm zu helfen.« Sie fügte hinzu: »Vielleicht war es gut, daß er gefahren ist.« Und sie hielt die Maske ruhiger Zuversicht fest – auch dann, als die Winter kaum noch wagte, ihr die allmorgendliche Antwort der Bank »Nichts eingetroffen« zu übermitteln.
An dem Tag aber, da Wanda vom Friedhof zurückkehrte, zermürbt, aufgerüttelt, krank vor Sehnsucht nach ihrem Mann, dem einzigen Menschen, der noch zu ihr gehörte – die eine Ausgestoßene war für das, was sich ihre »Familie« genannt hatte – an diesem Tag lag endlich ein Brief auf dem Mitteltisch ihres bescheidenen Zimmers. Er trug den Stempel von Denver-Colorado und war an Mister Tom King persönlich, Deutsche Reichsbank Berlin, adressiert.
Nur die Briefe von Michael waren »persönlich«, und es waren die einzigen, aus denen Tom King nur Bruchstücke erfuhr. Wanda öffnete ihn, weil er Nachrichten enthalten konnte, die eine telegraphische Erledigung verlangten. Sie nahm sich nicht die Zeit, Hut und Mantel abzulegen oder sich zu setzen. Am Fenster stehend, riß sie den Umschlag auf. Der Brief war nicht von Michael. Er trug die charakteristischen drei Kreuze, mit denen Stephens besonders wichtige Briefe »eigenhändig« zu zeichnen pflegte.
»Mein alter Junge! Höre mich ruhig an, wenn Du kannst. Wenn Du nicht kannst, dann nimm Dir gleich den erstbesten Strick und hänge Dich auf. Aber das wäre schade. Man soll nie vor dem Schluß der Vorstellung aus dem Theater gehen. Vielleicht ist das letzte Wort eine Überraschung, um die es sich lohnt zu bleiben.
Also, old fellow ... Michael ist tot, und die Bildhauerin ist tot. Vielleicht hätten sie gerne noch gelebt, aber man hat sie erschlagen. Wer sie erschlagen hat, ob die Neger oder verdächtige Subjekte, die aus anderen nicht so verrückten Staaten herübergekommen waren, oder die ersten Kingstowner, die ihren Grund und Boden in Gefahr sahen, das weiß kein Mensch. Tot sind sie, und von Kingstown hast Du nur Schulden – wenn Du als Schulden anerkennst, was man von Dir verlangen will. Michael hat in Mexiko zehntausend Maschinengewehre bestellt gehabt, fünfzigtausend Pistolen und achtzigtausend Uniformen. Jeden Tag hat er sich mit der Roma unter ein Zelt auf einen Elefantenrücken gesetzt und hat, was schwarz und braun war in Kingsland, exerzieren lassen. Dann hat er seiner Armee eine Rede gehalten: er haßte den Krieg, und jeder Blutstropfen des ärmsten Niggers sei ihm mehr wert als der kostbarste Stein aus seiner Schmuckschatulle – aber mehr wert als alles zusammen sei ein Fußbreit Erde. Und darum müßte er seinen Schmuck, sein Geld, seine Armee aber ihren letzten Blutstropfen hergeben, um mehr Land zu gewinnen. Die Kerls haben natürlich nie ein Wort von dem Humbug verstanden, die wußten nur, daß sie Hurra schreien müßten, wenn er zu Ende gesprochen. Und als ein Nigger einmal statt zu schreien zu lachen angefangen hatte, wurde er gleich am nächsten Ast aufgeknüpft. Und das war eigentlich, was dann die Verschwörung der Neger zur Folge hatte. Ich konnte Dir nicht eher schreiben – denn wir kamen mitten hinein in die Revolution wie ein paar Hunde in ein Kegelspiel.
Wie ich erfahre, sind alle Gelder in den letzten Wochen, die auf Michaels oder Deinen Namen angewiesen worden sind, beschlagnahmt worden. Sie haben hier merkwürdigerweise die gleichen Ausdrücke wie in Europa. Laß Dir nur nicht einfallen, herzukommen. Im besten Fall schlagen sie Dich tot. Es sind hier ein paar Naturboxer – Trainer würde seine Freude daran haben. Mr. Quick hat für eine Weile genug vom Sport, will nach New York. Ich sehe schon, mein Junge, wir müssen aufhören, Idealisten zu sein, und in eine neue Haut schlüpfen. Also mach' einen dicken Strich und denk an die Nase von O'Bry. Hast Du Dich selbst, hast du alles andere. Deine Frau soll's nicht schwer nehmen. Ich habe Sympathie für sie. Wir sind augenblicklich in Denver. Auf dem Wege nach Mexiko will ich für Dich arbeiten. Genaue Adresse kann ich Dir für die nächste Zeit nicht angeben, da ich immer unter anderen Namen reise, die ich oft wechseln muß. Grüß Deine Frau. Farewell! Der Brief geht durch eine sichere Gelegenheit nach Mexiko.«
Als die Winter bei anbrechender Dunkelheit von einer Besorgung heimkehrte und auf wiederholtes Anklopfen keine Antwort bekam, drückte sie auf die Klinke. Wanda lag in starrkrampfartiger Ohnmacht am Boden, Stephens' Brief in der Hand.
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