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Stephens war mit seiner Tagesarbeit fertig. Er hatte dem schmächtigen, nicht mehr jungen Sekretär sämtliche Briefe diktiert und Telegramme. Er hatte die Berichte der zwei Detektive entgegengenommen, die ihm alles zugetragen hatten, was ihm wissenswert schien. Er hatte sich neu eingelaufene Briefe und Zeitungsartikel vorlesen lassen.
Er war müde. Ärgerlich spuckte er das Stück Kaugummi in den offenen Kamin hinein. Der verdammte Abend mit den australischen Kerls hatte ihm einen Knacks gegeben. Nicht seine Kraft, nicht seine Vorsicht, nicht sein Geld hatten ihn schützen können. Ein Zufall – ein Weib – hatten ihn gerettet. Ihn – –!
»Da ist noch was,« brüllte er den Sekretär an und zeigte auf ein Heftchen, über dessen Umschlag ein Brett lief mit kleinen Köpfen, die ein Beil von einer riesigen, nur bis zum Gelenk sichtbaren Hand soeben vom Rumpf getrennt zu haben schien, nach dem Aufwand roter Farbe zu urteilen, die in Tropfen und Streifen über das weiße Glanzpapier verspritzt war.
Der Sekretär blätterte eilfertig das Heftchen durch und unterdrückte rasch ein Lächeln, denn Mister Stephens liebte es nicht, wenn einer seiner eigenen Meinung auch nur mimisch vorgriff.
»Nichts Besonderes, Mister Stephens, ein kleines Couplet: Die Boxerprinzessin. Es wird von Kari Taß Unter den Linden gesungen.«
Stephens schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Seit wann? Warum ist mir das nicht berichtet worden? Vorlesen.«
Der Sekretär las gut vor. Er war einmal Schauspieler gewesen und durch andauernde Engagementslosigkeit aus den Schienen geschleudert worden. Darauf hatte er sich da und dort herumgetrieben, das und jenes gelernt. War in Amerika an Stephens geraten, hatte ein paar gute Reklameideen gehabt und einen diktierten Brief stenographisch aufgenommen.
»Auf was warten Sie? Sie sollen schreiben,« hatte ihn Stephens damals angefaucht.
»Ich warte auf Sie, Mister Stephens.«
Da Stephens stenographische Zeichen nicht gut von der gewöhnlichen Schrift unterscheiden konnte und jedes Fragen zu vermeiden suchte, begnügte er sich mit der Tatsache, daß »der Kerl« rascher schrieb, als er diktierte. Er nannte ihn »Quick«, ohne sich weiter um seinen sonstigen bürgerlichen Namen zu kümmern, und stellte ihn fest an als »Schreiber«.
»Sie können sich auch Sekretär nennen, it's for me all the same.«
Quick hatte das Einkommen eines deutschen Ministers und wurde ausgenützt bis auf den letzten Blutstropfen. Er hatte kaum Zeit, die Anzüge anzuprobieren, die er sich bestellte. Er schlief und hielt seine Mahlzeiten ab, wie er es gerade ermöglichen konnte. Weder Stephens noch Tom King kam je der Gedanke, daß Quick auch persönliche Bedürfnisse haben könnte. Brauchten sie ihn nachts, so ließen sie ihn wecken. Fiel ihnen unter dem Essen etwas ein, was er zu erledigen hätte, so schickten sie ihn vom Tisch, ohne zu fragen, ob er mehr als einen Löffel Suppe zu sich genommen. Kam er von einer Reise zurück, so gab ihm Stephens nicht Zeit, den Mantel auszuziehen, wenn wichtige, inzwischen aufgelaufene Briefe zu beantworten waren.
Quick hielt sich einen Boy, der ihm auf einem elektrischen Apparat jederzeit eine Tasse Bouillon aufwärmen, eine Eierspeise bereiten konnte, der ihm Kissen und Plaid brachte und wegtrug, wenn er den Ausfall einer halben Nacht durch ein paar erhaschte Viertelstunden Tagesschlaf auszugleichen suchte.
Quick wußte alles von Stephens und Tom King, was ein Mensch vom anderen wissen kann. Aber er wußte auch, daß die geringste Indiskretion ihn mehr als seine Stellung, vielleicht sein Leben kosten konnte. Die völlige Aufgabe seiner Persönlichkeit wäre für jemand, der sich für das Innenleben des kleinen Herrn Quick interessiert hätte, fast unheimlich gewesen. Aber es interessierte sich niemand für ihn.
Als er die Vorlesung des Gedichtes beendet hatte, fragte Stephens: »Mit welche Post ist diese Dreckzeug gekommen?«
»Vor zwei Stunden, Mister Stephens.«
» Well. Vor einer halben Stunde ist der Fürst sehr ruhig hier aus dem Hotel gegangen. Nehmen Sie ein Auto, fahren Sie zu Frau Wittke – der Frau von die Stiefelfabrikant in der Tiergartenstraße, you know. Sie soll das Heft sofort vom Schreibtisch des Fürsten holen und Ihnen übergeben.«
Weiterer Erläuterungen bedurfte es niemals. Quick war über alles so unterrichtet, daß er jeden Augenblick in den komplizierten Mechanismus Stephensscher Dispositionen eingreifen konnte, ohne näherer Erklärungen zu bedürfen.
»Schön.«
Die Tür, auf deren Klinke Mister Quick seine Hand gelegt hatte, fegte ihn wie eine Feder zur Seite. So öffnete nur Tom King die Tür. Quick mußte an ihm vorbei wie eine Eidechse.
»Der wird immer schneller und kleiner,« scherzte Tom King.
Stephens ging mit großen, lahmen Schritten, die Hände auf dem Rücken, im Salon auf und ab. Er blieb stehen, als der Sohn hereintrat.
»Du bringst ja keine Kälte mit?«
»Nein.«
»Bist also nicht draußen gewesen?«
»Nein.«
Tom King, der niemals rauchte, aber stets für andere eine wohlgefüllte Juchtentasche mit Zigarren und Zigaretten bei sich trug, steckte sich eine Queen zwischen die Zähne.
»Was soll das, Tom?« Stephens machte eine Bewegung, als wolle er ihm die Zigarette aus dem Munde schlagen.
Tom King warf seinen Pelz ab. »Feuer,« herrschte er Bob an, der Hut und Mantel holen kam.
Stephens stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin. Eine Ader schwoll blutgefüllt wie ein Strick auf seiner Stirn an.
»Weißt du, wie sie heißt?« fragte er unvermittelt, mit einer harten, gutturalen Aussprache, die ihm in Augenblicken unterdrückter Wut eigen war.
»Nun?«
»Lies.«
Tom King, der als ungeübter Raucher das Feuer seiner Zigarette hatte ausgehen lassen und jetzt nur noch das Goldmundstück zerbiß, griff nach dem Heft, das der Vater ihm zeigte, und warf es achtlos zurück auf den Tisch.
»Das? ... Kenn' ich. Nonsense!«
Stephens' Auge wurde rund und starr. Der Junge war ihm wirklich über.
»Quick holt gerade jetzt das Heft, das ihrem Vater gewiß auch zugeschickt worden ist. Die Frau vom Wittke soll es von seinem Schreibtisch nehmen.«
»Nett von dir, hätte nicht geglaubt, daß du so zartfühlend bist.« Und gleichmütig ließ er sich in den breiten amerikanischen Schaukelstuhl nieder, der in keinem von ihm bewohnten Zimmer fehlen durfte.
Oh, was war das mit dem Jungen? So sprach er doch sonst nicht. Stephens griff in die Westentasche, holte frischen Kaugummi heraus. Er hätte sich sonst die Zähne abgebissen.
»Was heißt das alles? Was willst du denn machen?«
»Ich? ... Was ein Mann in einem solchen Falle tut. Ich werde ihr anbieten, Mrs. King zu werden.«
»Deine Frau?? ...!«
Stephens brach in dröhnendes Gelächter aus. Ein Gelächter, das immer falscher und übertriebener klang, je länger es dauerte. Dann verstummte er plötzlich, lahmte so rasch auf den Sohn zu, daß seine Beine sich überschlugen, packte ihn am Rockkragen: »Du ... mach' mir nix vor. Wenn du bist verliebt, so nimm dir ein Weib ... irgendeins ... die Roma meinetwegen. Wenn du genug hast von ihr, schenkst du ihr Marmor, daß sie kann auf sämtlichen freien Plätzen von Berlin Denkmäler aufstellen, schenkst ihr Kokain, daß sie kann zehn Jahre lang Orgien feiern mit ihre Freunde. Man darf immer nur nehmen eine Frau, der man kann was schenken, wenn man genug hat von ihr.«
Tom King befreite sich mit einer ruhigen Bewegung seines Nackens aus der griffigen Hand. »Du weißt doch, ich liebe es nicht, wenn man mir so nahe kommt.«
Dann versenkte er zwei Finger in die ausgeweitete Westentasche des Vaters, holte sich ebenfalls ein Stück Kaugummi heraus und warf die Zigarette in den bronzierten Holzkorb. Und sie beide kauten eine Weile schweigend, die Blicke ineinander verankert.
»Hast du ... sag' die Wahrheit, Junge ... hast du sie gesehen seit jenem Abend? Ja ...? Wann?«
»Eben. Wie sie zu ihren Verwandten ging.«
»Ich wußte es nicht. Du hast dich mehr mit ihr beschäftigt als ich.«
»Nicht mehr. Anders. Hast du ihr vielleicht schon einen Heiratsantrag gemacht?«
»Nein. Morgen. Wenn sie bei Ria Roma ist.«
»Wie kommt sie dahin?«
»Ich habe sie darum gebeten. Sie soll sich die zwei Entwürfe ansehen. Und sie soll Modell stehen zum dritten.«
»Was ist das nun wieder?«
»Das ist jetzt gleichgültig.«
»Und damit sie Modell steht ... willst du sie heiraten?« Wieder das Lachen. Nur unsicherer jetzt; mit einem Unterton von verhaltener Gereiztheit.
»Darum? Nein. Das lohnt doch nicht.«
Da richtete sich Stephens zu voller Höhe auf und steckte seine zu Fäusten geballten Hände in die Hosentaschen. »Ich will dir was sagen, my boy. Wenn du Dummheiten machen willst, so suche dir einen anderen Augenblick dafür. Wir geben Millionen aus. Was du verdienst, geht in Kingsland drauf.«
»Ist angelegt in Kingsland. Das ist was anderes.«
Stephens schlug sich gegen die Stirn.
»Angelegt! ... Wenn ich Geld anlege, muß es Zinsen bringen. Das nenne ich nicht angelegt, wenn ich nichts davon sehe und keine business damit machen kann. Wie wir anfingen, unser Vermögen zu machen, haben wir gebaut immer größere Wagen, immer größere Zelte. Hielten Personal von fünfundsiebzig Personen, statt von zehn. Wir fuhren im Sleeping, statt dritter Klasse, dann Extrazug, wenn's pressierte, wie der Präsident aus dem Weißen Hause. Und wir mußten unser Geld verteilen an drei Banken, und jede Bank machte business mit unserem Gelde, und es wurde mehr – immer mehr ... Da kamst du mit deinen Landkäufen ...«
» Du hast angefangen, old man.«
»Jawohl. Weil wir unser eigenes Gestüt haben wollten. Mit einer Farm haben wir angefangen. Heute stehen zweitausend Häuser in Kingstown. Auf unserem unverzinsten Grund und Boden.«
» Noch unverzinsten, willst du sagen. Nach Michaels Plan soll die Verzinsung mit dem Ausgang des fünften Jahres beginnen. Das heißt – jetzt. Die Leute haben zumeist auf eigene Kosten gebaut.«
»Mit unserem Material ... jawohl. Und die vier Schulen? Die zwei Krankenhäuser? Die Stadtbibliothek? Was bringen uns unsere großartigen Anstalten ein? Faultiere, die sich auf unsere Kosten mästen.« Stephens schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Stimmt nicht. Im vorigen Jahre hatten wir den besten Motorpflug zur landwirtschaftlichen Ausstellung nach Chikago schicken können. Die Universität von Philadelphia hat Michael für seine Arbeit über die Wechselwirkung animalischer Kräfte auf die menschliche Psyche zum Ehrendoktor ernannt.«
»Davon verstehe ich nichts.«
»Wir haben in den letzten drei Jahren einen berühmten englischen Physiker nach Kingstown bekommen, zwei allererste amerikanische Schriftsteller, einen Psychiater, dessen Ruf weltbekannt ist ... Staatsmänner, die in allerersten Stellungen waren, sind zu uns gezogen, Ärzte ...«
»Du brauchst sie mir nicht aufzuzählen. Kaputte Existenzen.«
»Genies darunter.«
»Ja, gewiß. Genies, die aus Gefängnissen gekommen sind, Zuchthäusern oder gerade davor standen. Ich wundere mich, daß Michael nicht auch hat kommen lassen den größten Diebskönig der Welt.«
»Wir haben einen ehemaligen Finanzminister, willst du mehr?«
Stephens faßte eine Bronze, als wollte er sie zermalmen. »Mach' keine Witze, Tom.«
»Den schlechten Witz machst du.«
Tom King streckte weit die Beine von sich und sah interessiert zu, ob sich der Arm der Statuette unter den Fingern des Vaters wohl verbiegen würde. War es Schonung oder beginnende Kraftlosigkeit, daß sie gleich darauf unversehrt über den Teppich rollte?
Stephens stellte sich mit dem Rücken zu ihm ans Fenster, beide Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er kam nicht mehr auf gegen den Jungen. Nie mehr kam er auf gegen ihn, wenn der was wollte. Damals in jener Nacht, als der Bub sich zum erstenmal einer Züchtigung zur Wehr gesetzt, ihm die Peitsche entwunden, ihn mit sich heruntergerissen hatte auf den Sandboden der Manege, die nach der Vorstellung ausgestorben dalag im Schein zweier Stallaternen, und das, was Züchtigung hätte sein sollen, sich in kunstgerechten Ringkampf auflöste, der von beiden Seiten mit Aufbietung aller Kraft und Geschicklichkeit, von seiner Seite aber auch mit aller Erbitterung geführt worden war – in jener Nacht hatte er erkennen müssen, daß der Knabe sein Meister wurde. Und heute, zwölf Jahre darauf, stand Stephens am Fenster des Esplanadehotels, den Rücken seinem Sohne zugewendet, und fühlte seine Ohnmacht.
Als er sich umwendete, kaute und schaukelte Tom noch immer.
»Junge – war das dein Ernst ...? Mit der Prinzessin, mein' ich?«
»Das war es.«
»Sie hat keinen Schilling, du...«
»Danach brauche ich nicht zu fragen.«
»Du bist doch nicht verliebt ... zum Teufel?«
»Verliebt? Was ist das?«
Der alte Artist stieß mit dem Fuße an die Bronze, daß sie bis an die äußerste Ecke des Zimmers flog. »Ein Zustand dem Weib gegenüber, der einen zu allen möglichen verrückten Sachen bringt.«
Tom lachte lautlos, wie es oft seine Art war, und schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, Vater, daß ich verliebt bin.«
»Dann hands off,« fuhr Stephens ihn an. »Denn Michael – – –«
»Das wollte ich dir eben sagen. Ich habe die ganze Geschichte Michael gekabelt, und heute hat er zurückgekabelt. Willst du sehen?« Lässig griff Tom King in die Seitentasche seines Rocks und holte ein Telegramm hervor.
Stephens riß das Auge auf. Eine Depesche an seinen Sohn, von der er nichts wußte? Funktionierte der Überwachungsdienst so schlecht? Tom erriet seine Gedanken.
»Laß doch die Kontrolle von meinen Privatangelegenheiten. Einen Detektiv kannst du dir ruhig sparen. Macht dann zwei, die wegfallen. Denn dann entlasse ich auch meinen – –«
»Du hast einen Detektiv?«
»Muß ich doch. Sonst könnte ich ja nicht niesen, ohne daß du es weißt. Und es gibt Augenblicke, da mir das unkontrollierte ... sagen wir Niesen ... ein Bedürfnis ist.«
Das Blut jagte in dem zerrissenen Gesicht des alten Athleten herauf und herunter. So weit war es also gekommen. Wenn er dem Jungen nur hätte eins unters Kinn schlagen dürfen – – Seine Muskeln strafften sich wie im Krampf.
»Willst du lesen?« fragte Tom ruhig und hielt die Depesche hin. Dabei stand er auf, weil er nicht sehen wollte, daß die Hand des Vaters zitterte.
Michael kabelte: »Schicke uns die Bildhauerin herüber. Brauchen Kunst. Da ferner wegen zahlreicher Einwanderungen aus Alt-Europa auch hier Etikettierbedürfnis beginnt, wäre Heirat mit Prinzessin in Erwägung zu ziehen. Zudem ein Produkt ihrer geistigen Kultur und Edelzucht mit Deiner Urkraft ergäbe sicherlich, was der Welt fehlt: den Herrscher. Michael.«
»Den Herrscher –« wiederholte Stephens. »Den Herrscher der Welt? Oder was meint er?«
Tom King stellte sich Schulter an Schulter neben den Vater und blickte zum Fenster hinaus.
»Ich denke, daß er es so meint. Du kennst ja seine Theorie des Ausgleichs.«
Stephens kniffte das Papier zusammen, steckte es dem Sohn in die Rocktasche. Blieb neben ihm stehen und spürte in der Stille, die jetzt um sie beide lag, wie ein brausendes Strömen des gleichen Blutes. Des Blutes, das der Welt den Herrscher geben sollte.
Und doch kroch ihm wieder etwas wie abergläubische Angst ins Herz. Wie jedesmal, wenn der Zwerg seine Luftschlösser mit wirklichen Steinen zu bauen anfing – –
* * *