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Wanda King lag schlaflos. Jede Umdrehung der Achse dröhnte in ihrem schmerzenden Kopf wieder. Sie hob den schmalen Körper, schob mit ausgestrecktem Arm den braunseidenen, kleinen Vorhang zurück, ließ das Fenster zur Hälfte herunter. Luft, die schwer war vom Kohlenruß, schlug in den dunstigen Schlafwagen herein. Draußen war es noch stockfinster. Ab und zu huschte ein Licht vorüber, mal grün, mal rot. Dann wieder wurde es gespenstisch hell. In dem eingelassenen, geschliffenen Spiegel zeichneten sich Umrisse ab von einem Haus, einer Stange, einem Baum. Dann wurde es wieder dunkel – – in gleichmäßigen Abständen schlug die Achse den Takt, mal lauter, mal leiser, je nachdem der Zug über eine Brücke raste oder durch einen Tunnel.
Manchmal prasselte ein Gewitterregen gegen die Scheiben. Sie drückte dann die Stirn gegen das kühle Glas und starrte in die leuchtenden Blitze. Einmal schlug es ganz nah von ihrem Wagen ein. Da hörte sie ein lautes Aufschreien aus Frauenkehlen. Die Winter schrie nicht. Die Winter kam in einem dunklen Hänger, ein Tuch um den Kopf gebunden. Ob die gnädige Frau etwas wünsche?
Wanda mußte sich dann immer erst besinnen, wo sie war. Es hatte nichts mit ihren Wünschen zu tun und nichts mit einem Auftrag. Aber es war die Ordnungsliebe in ihr, das altgewohnte Bedürfnis, sich von allem Rechenschaft zu geben. Barcelona – Mailand – Kairo – Hamburg – Stockholm ... es war ja immer dasselbe.
»In einer Viertelstunde Paris,« rief Bob durch den Gang des Waggons. Und das Wort »Paris« hatte auf den Lippen des jungen Dieners einen so schmetternden Trompetenklang, als künde er mit dem Namen dieser Stadt seinem Herrn neue, nie dagewesene Triumphe. – –
Stephens hatte in Paris wie seinerzeit in Berlin eine Flucht von Zimmern gemietet und seit Wochen eine monströse Reklame durch Mr. Quick inszenieren lassen. Hier wie in Berlin übte er eine strenge Kontrolle der gemeldeten Besuche aus. Damen wurden ohne Ansehen des Namens abgewiesen. Die abgegebenen Blumen ließ er in Wandas Zimmer stellen, und die parfümierten Briefe warf er ihr zum »Amüsement« auf den Tisch.
Mehr um Stephens, der seinen Spaß haben wollte, einen Gefallen zu tun, als aus Neugier machte sie den einen oder anderen Brief auf. Die platte Gemeinheit berührte sie nicht. Aber es waren Briefe darunter, die sich in mystischer Anbetung verloren – persönliche Begegnung erbaten, nur um der Ausstrahlung einer »Energie« teilhaftig zu werden, die ihrem Dahindämmern eine neue Lebenswende zu geben vermöchte. Diese Briefe erfüllten Wanda mit Schrecken, weil sie sich selbst in ihnen wiederfand und Stephens' zynisches Lachen ihr die Bewertung dieser Worte offenbarte. Sie litt unsäglich.
Als sie eines Tages von einer Besorgung zurückkehrte, stürzte eine kleine, sehr elegante Dame in der Halle auf sie zu. Eine Dame, die ihr bekannt vorkam, ohne daß sie gewußt hätte, wo sie sie einreihen sollte. »Kennen's mich denn nimmer?«
Wanda schüttelte den Kopf ... beklommen, und mit zunehmendem Hämmern ihres Herzens.
»Bedaure ... ich ...«
»Aber wir sind doch sozusagen Verwandte.« Die Dame lachte und blitzte Wanda mit ihren dunklen Augen schelmisch an. »Ich bin doch die Steffi ... die Gräfin Sternfeld, vom Xaver.«
»So ... ja ...« Ein Liftboy hob die große Lacktasche auf, die Wanda entglitten war.
Steffi Sternfeld faßte nach Wandas Händen, die sie kräftig schüttelte. »Nein, was ich für a Freud' habe, daß ich Sie derwischt hab'. Ich hab' nämlich nit g'wußt, daß Sie auch hier sind. Hab Ihrem Mann g'schrieben – mich auf die Verwandtschaft berufen. Denn – bis ich den Xaver freigieb ... schaun's, er hat ja gar keinen Grund nit g'habt, mir auf und davon z'laufen. Und dann sind wir katholisch getraut... also da müssen schon beide Parteien einig sein für den Dispens, nit wahr? Und i seh' nit ein, warum ich ihm den G'fallen tun soll. Wann's mir wird passen, nachher is eh Zeit ... Ja, also Sie haben nix von dem allem g'wußt? Sind's auch über Kreuz mit Ihrer Familie? Wegen Ihrer Heirat, nit wahr?«
Sie hing sich, ohne daß Wanda es hätte verhindern können, in ihren Arm ein, führte sie zu einem Tischchen mit Korbsesseln. »Jetzt setzen wir uns ein bissel.« Und Wanda fühlte sich hilflos, ohne jede Geistesgegenwart dieser liebenswürdigen Unverschämtheit gegenüber.
Steffi schwatzte weiter wie ein Wasserfall. »Alsdann, wann der Portier Sie mir nit gezeigt hätt' – ich hätt' Sie bei meiner Seel' nit erkannt. Da kann man sehen, was Kleider machen! Wie so a Gouvernant' haben's ausg'schaut damals ... wissen's – wie ich mit dem Xaver in Berlin war. Aber jetzt! Wo lassen's denn arbeiten? Na, is ja Wurscht. Aber was sagen's zum Xaver? Mein Geld war ihm auf einmal nit noblig genug. Ein paar Monat lang hat er ... wissen Sie, wovon er g'lebt hat? Vom Tanzen! Wo a Preistanzen g'wesen is in der Schweiz, da hat er sich g'meldet. Und dann hat er einen Tanzkursus eröffnet in Zürich, und dann is er nach Bern gekommen als Chef de reception in ein großes Hotel. Was er jetzt macht, weiß ich nicht. Ich war grad ein paar Monat in London und muß ein paar Tag in Paris bleiben. Ja, man hat's nit leicht als alleinstehende Frau. Man ist jung, man ist passabel, man hat einen schönen Titel und muß allweil dem Verdienst nachjagen. Da haben Sie das bessere Los gezogen! Is doch ein anderer Kerl, der Tom King, als das Xaverl ... Jessas, wann i mir das hätt' denken sollen an dem Abend im Wintergarten – wissen's noch? Daß der Xaver mir davonläuft und Sie mit dem Tom King ... Jessas nein ...«
Sie lachte, die Worte überkugelten sich auf ihren Lippen, sie suchte Wandas Hände oder ihre Tasche zu streicheln. Merkte es gar nicht, daß Wanda nicht die Lippen auseinanderbrachte, sprang plötzlich auf, als sie durch den Windfang Tom King erblickte, wie er aus einem vorfahrenden Auto stieg.
»Da kommt er ... I bitt' Ihna ... machen's mich bekannt.« Alles in ihr geriet in zitternde Erregung. Ihre Lippen brannten, ihre Wangen – ihre Zähne blitzten.
»Tom, ich möchte dir ...«
Aber Steffi wartete die Vorstellung gar nicht ab, überschüttete Tom King mit dem Wortschwall ihrer freudigen Erregung, wendete sich gleich darauf an Stephens, der sie mit scharf zusammengezogenen Brauen raschen Blickes musterte.
Aber Steffi war im Bilde. »Da is ja auch der Onkel Geiringer ... Stephens, hab' ich sagen wollen ... Servus ... An mich erinnern's Ihna nit – gelt? Ich bin die Steffi ... die Steffi Stumper ... jetzt Gräfin Sternfeld ... eine Cousin' von der Wanda, und der Dostal is der Bruder meiner Mutter. Alsdann ...«
»Vielleicht luncht deine Cousine mit uns,« sagte Tom King höflich.
»Bitte ... natürlich.«
Zum erstenmal fühlte Wanda sich entwürdigt. »Deine Cousine ...,« diese Steffi Stumper, was hatte sie mit ihr gemein?
Steif und wortkarg saß sie am Tisch. Stephens wurde einige Male vom Tisch abberufen – durch Mr. Quick oder durch den Liftjungen. Steffi wendete sich bald ausschließlich an Tom King, lachte immer lauter und vergnügter, wenn sie ein Lächeln sah, das über seine Lippen huschte.
Auffallend viel Menschen gingen an dem Tisch vorbei – langsam, mit indiskreten Blicken, oder lugten hinter den Wandschirmen des Nebensaales vor.
»Wir wollen den Kaffee oben bei uns trinken, es ist hier unerträglich. Kommen Sie mit?«
Es war gewiß nichts anderes als Höflichkeit, daß Tom King die Steffi aufforderte. Aber Wanda war zum erstenmal gereizt gegen ihn. »Ich bin eine schlechte Gesellschafterin heute, ich habe Kopfweh...«
»Ah, das macht nix – mir sind ja unter uns, Wanderl. Legen's Ihna nur ein bissel hin, ich spiel' die Hausfrau ... wann's Ihnen recht ist, Mister King. Muß mir meinen Platz doch abverdienen, um den ich Sie bitten will.«
Stephens zuckte die Achseln. »Wo wollen Sie, daß ich Sie unterbringe? Sie wissen vielleicht nicht, daß, wenn Tom King auftritt, kein Stuhl mehr einzuschieben ist.«
»Geben Sie Steffi meine Karte, daddy. Ich werde heute wohl kaum ausgehen können ...,« sagte Wanda rasch.
Tom King nickte. » That's nice, dear ...«
Stephens, der gerade seinen Stuhl abrückte, blickte Wanda verdutzt an. Er sah, daß sie ein wenig blasser war als sonst ...
Steffi kam von da ab – auf ihre Verwandtschaft gestützt – alle Augenblicke ins Hotel, brachte Zeitungen mit herauf, deren fettüberschriebenen Artikeln »Der König der Boxer« oder »Se. Majestät, Mister King« sie nicht ganz fernstand. Sie hatte augenblicklich einen geschäftlichen Stillstand zu verzeichnen, eine Serie pechöser Zufälligkeiten. Die kleine Tagespresse aber, die nur von Sensationen und Enthüllungen lebte, die sie ihren Lesern verschaffte, zahlte jeden verlangten Preis für gute und pikante Informationen, sofern die Persönlichkeit, der sie die Mitteilungen verdankte. gewisse Garantien bot. Nun – eine Cousine des berühmten Tom King – eine authentischere Quelle fand sich nicht leicht. Steffi konnte mit der Umwertung zufrieden sein.
Tom King – der auf Michaels Rat keinerlei offizielle Propaganda für Kingstown betrieb, da sie eine Gefährdung des grandiosen Unternehmens, das noch nicht gefestigt genug war, in sich barg – waren diese Indiskretionen nicht lieb, aber niemals hätte er in Steffi, die diese Artikel mit so brennendem Interesse vorlas und durch ihre vielen Fragen eine so naive Unwissenheit der tatsächlichen Verhältnisse zeigte, die Urheberin vermutet. Er ergötzte sich an ihr wie an einem harmlosen, drolligen kleinen Tier. Fand es unrecht von seinem Vater, daß er sie immer so mißtrauisch und von Tag zu Tag schroffer abfallen ließ.
»Warum komplimentierst du diese kleine Ratte nicht einfach hinaus, Tom?« fragte Stephens einmal.
Tom King zuckte die Achseln. »Warum? Sie nagt ja nichts an.«
»Du merkst es nur nicht, Tom, bis was durchgenagt ist.«
»Laß sie doch, old man, sie ist spaßhaft. Man braucht manchmal die Stimme einer Frau, ihr Lachen.«
Stephens wendete sich ihm mit einem Ruck zu: »Du hast deine Frau ... that's enough, I think.«
»Meine Frau ...«
Tom King stellte sich ans Fenster, schlug mit dem Fuß unhörbar, aber sichtbar auf den Teppich.
»Also was ist, Tom?«
»Was soll sein? Eine Frau ist plötzlich meine Frau geworden. Warum – weshalb – gerade diese Frau? Wenn man einen Diener hat, der seine Pflicht nicht erfüllen kann – schickt man ihn weg. Wenn man eine Frau hat, die ihre Pflicht nicht erfüllt – dann muß man sie behalten. Warum?«
»Durch wen bist du so klug geworden, Tom?«
Der Nacken Tom Kings färbte sich rot. »Durch wen? Glaubst du – ich denke nicht? Glaubst du, Michael kabelt nur ins Hotel? Ich sagte dir doch schon einmal: Wenn du orientiert bist – ich lasse mich auch orientieren. Wenn du Nachrichten unterschlägst –«
Stephens packte Tom King am Rockkragen, drehte ihn zu sich um. Die Überraschung, die Tom King wehrlos machte, jagte ihm Zornesröte in die Stirn. »Laß die Späße, dad ...«
»Das Frauenzimmer kommt mir nicht mehr in deine Garderobe.«
Stephens schäumte. Mochte Wanda sein, wie sie wollte – sie lebte nur für ihn – das mußte er doch fühlen. Und wenn sie ihm noch keine Aussicht geschenkt hatte, Vater zu werden ... nicht alle Frauen waren fruchtbar und pünktlich wie Kaninchen. Man hatte Beispiele: nach zwei, drei ... ja sogar acht Jahren ...
»Dann ist Wanda fünfundvierzig,« unterbrach Tom King sarkastisch und wendete sich wieder ab. Der Alte brauchte nicht zu sehen, wie es an ihm nagte, das Bewußtsein, daß die kleine geschwätzige Frau recht hatte.
Erst gestern ... sie hatte so ein bißchen herumgeschnüffelt in seiner Garderobe, während Stephens gerade mit einem berühmten Impresario eine Pfeife rauchte. Da hatte sie ihre kecke hübsche Nase in alle seine Flakons gesteckt, ihm die Zitrone blankgerieben mit ihrem seidenen Tüchelchen und hatte dabei erzählt von sich und ihrer Ehe und den Hohen-Steinecks und den Sternfelds. »Pflanz machen mit ihren Ahnen – für die's nix dafür können. Aber Kinder? Ja, woher? Die Wanda so wenig wie der Xaver!«
Da war er zum erstenmal ärgerlich geworden und hatte sie aus der Garderobe schicken wollen, aber da die Tür offen stand und ihm schien, als sähe er die Winter vorüberhuschen, sagte er nur: »Sie müssen nicht so laut die Namen nennen, Steffi.«
Steffi lachte: »Laßt die Wanda Ihnen am End durch ihre Kammerfrau nachspionieren? Ujeh! Na, ich geh' schon. Will Ihnen keine Ungelegenheiten schaffen. Kann's übrigens verstehen. Wär' schon gar kein Weib nit, die Wanda – wann's nit a bissel eifersüchtig wär!«
An diesem Abend geschah es, daß Tom King nur um acht Points mehr hatte als sein Gegner – –
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