Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Als noch nie dagewesene Sensation hatten Wittkes zu ihrer ersten Gesellschaft einen Boxmatch angekündigt zwischen einem Russen, einem Engländer und dem schönsten Mann Amerikas, dem unbesiegbaren Tom King.

»Ganz Berlin,« das Berlin des Kurfürstendamms und Tiergartens bis hinauf zur Weidendammerbrücke, die Welt des alten Sports und des neuen Reichtums, die Welt, die »ßu oberst schwimmt, wie Fettoogen uf de Bulljong,« pflegte Herr Wittke mit freundlicher Ironie zu sagen, diese Welt sprach seit zwei Wochen nur noch von Tom King.

Die Reklametrommel hatte zwar, wie immer bei Gästen, die von jenseits des großen Teiches kamen, ihre Schuldigkeit getan. Aber Berlin war gewohnt, starke Abzüge zu machen. »Die Hälfte.«

»Die Hälfte« war auch ganz nett, sowohl des Reichtums wie der Schönheit wie auch der Kraft. Die Romantik einer geheimnisvollen Abstammung, die ein ältlicher Journalist mit heranzog, um die Voranzeigen zu würzen, lockte nur mehr auf Backfischlippen ein verzücktes Lächeln.

Daß Tom King statt Wein Wasser und Limonade trank, daß er nach Erledigung des allmorgendlichen Trainings in den Horsälen der Universität auftauchte, daß kein Unbekannter von ihm im Esplanade-Hotel, wo er wohnte, angenommen wurde, der sich nicht zuvor im Zimmer eines riesengroßen, einäugigen Herrn ausgewiesen, daß in keinem einzigen Falle eine Dame Zutritt zu Tom King gefunden, ob sich auch mehrfach erschütternde Szenen wie Ohnmachten, Weinkrämpfe abgespielt hatten, daß alle parfümierten Briefchen, die durch Aufschrift Damenhand verrieten, unweigerlich in einen Papierkorb unwahrscheinlicher Größe wanderten, das alles, mit einem Schuß Ironie durchsetzt, hielt Berlin in Atem.

Es war nur dem plötzlichen Todesfall eines bekannten Bennstallbesitzers zu danken, daß der völlig ahnungslose Fürst Hoheneck einen Platz am Tisch auf der Estrade des Wintergartens erhalten hatte. Und wenn Herr Fabrikant Wittke seinen Gästen den augenblicklich berühmtesten Mann vorführen durfte, so lag es daran, daß er höchst eigenhändig das Maß zu einem Dutzend Stiefel, Schuhe und Sandalen genommen hatte, die sich Tom King aus mitgebrachtem Känguruh-, Seeotter- und Büffelleder anfertigen ließ.

Diese wohlvorbereitete Gelegenheit ergriff Herr Wittke, um von einem Boxmatch zu erzählen, den er in seinem Hause veranstalten, und der ihn dem Ruin nahe bringen würde, da er gewettet hatte, auch Tom King zu gewinnen. Das wäre nun zwar vor der Ankunft Tom Kings in Berlin gewesen. Jetzt sehe er allerdings ein, daß er eine Unmöglichkeit angenommen habe. Es bliebe ihm also nichts übrig, als die verlorene Wette, hunderttausend Mark, zu bezahlen und Herrn King um Entschuldigung zu bitten, daß er gewagt ...

Herr Wittke wäre nicht in fünf Kriegsjahren Millionär geworden, wenn er nicht über hervorragende Gaben der Kombination, Verstellung und Geistesgegenwart verfügt hätte. Er kokettierte mit seinen stumpfen, rissigen Fingern ebenso wie mit seinem Berlinerisch, das beinahe verdächtig urwüchsig klang.

Auf den Biedermann aus der Elsasser Straße fiel der Deutsch-Amerikaner Tom King herein. Übrigens wären die Gegner nicht so übel, fügte Herr Wittke hinzu. Einer öffentlichen Niederlage vor dem Publikum hatten sie sich nicht aussetzen wollen. Einer gesellschaftlichen Begegnung aber, der immerhin ein ernstes Messen der Kräfte mit dem Welt-Champion zugrunde lag, brannten sie entgegen.

Herr Wittke, der in Sportkreisen bekannte große Stiefelfritze, verschwieg nur, daß sie ihm zwanzigtausend Mark geboten hatten, für den Fall, daß es ihm gelänge, Tom King zu einem »Privat-Match« zu bewegen.

Und Frau Wittke, die sich vorgenommen hatte, die erste Dame der »Jesellschaft« zu werden, rief hochrot vor Begeisterung: »Nu aber ran, Gustav. Und man selber ruff ins Esplanade und dem Menschen Maß jenommen.«

Herrn Wittke surrten die Ohren noch von allem, was der Garderobier des Wintergartens, der zu seinen guten Freunden gehörte, über Tom Kings Lederreichtum erzählt hatte. Leder ... Er witterte mit seiner breiten, stumpfen Nase allerhand neue Möglichkeiten. Kam ihm gar nicht darauf an, selber mal übers Wasser zu gondeln und sich 'n bißchen neuen Rohstoff zu besorgen. Der Tom King konnte ihm da vielleicht einen Tip jeben. Nur immer sachte. Nicht mit der Tür ins Haus fallen. War janz patent, der Umweg über den Boxmatch.

Und Frau Wittke strahlte, weil sie von hundert Einladungen nur zwei Absagen bekommen hatte. Die eine war durch den Tod des Geladenen zur Genüge begründet, die andere durch einen unfreiwilligen Aufenthalt in Moabit. So was kam heutzutage in den besten Familien vor, da ein Dutzend Rechtsanwälte nicht genügte, um einen modernen Geschäftsmann vor den Fallen und Tücken der sich immerzu ändernden gesetzlichen Bestimmungen zu bewahren. Auch Wittkes nahmen solche kleinen Unfälle nicht tragisch. Eins nur konnte Frau Wittkes Freude herabmindern: daß sie nicht zu der Gesellschaft »ihre Fürsten« hatte laden dürfen ...

Mit prickelnder Neugierde, durchsetzt von heißester Anteilnahme, hatte sie seinerzeit die Rückkehr des Fürsten aus der Gefangenschaft miterlebt und die unheimliche Wandlung in den Gefühlen der jungen Frau, »die im Leben nie eheliche Jemeinschaft hatte mit der alten Durchlaucht«, wie sie sich unter Diskretion zu einigen Bekannten äußerte. Sie hatte den völligen Zusammenbruch der äußeren Verhältnisse mit durchgemacht und die Übersiedlung ins Sommerhäuschen.

Hatte oft ärgerlich die »ollen Kodder« der Damen geflickt, die sich vor jeder Neuanschaffung eines Rockes oder einer Bluse scheuten, während die Prinzeß für etliche Drogistenrechnungen nur so die Hunderter auf den Tisch legte und das teuere Essen verbrannte, weil Seine Durchlaucht nicht aus dem stinkenden »Laboratorium« herauszukriegen war.

Als sie einmal in einer der dreihundert Besohlanstalten, die Herr Wittke in Berlin errichtet hatte, mit einem Paar trostlos aussehender Stiefel zur ungezählten Reparatur ankam, lappte der Geselle sie an: »Wat soll ick mit die Löcher? Zeigen Sie man Ihre Pedale, Freilein. Wenn Sie mir det Kunststück fertig bringen, in das, was von de Stiebel übrig ist, mit Ihre Treter rinzukriechen, denn meinswegen will ick det Zeug noch flicken. Aber anjelogen haben Sie mir die janze Zeit. War ja jar nicht für Sie, der Dreck, den ick befummeln sollte. Für Ihre Durchlauchtige Herrschaft hab' ick mir plagen können und Ausnahmepreis machen! Det war so watt! Uff em Kopp ne Krone, im Kopp Stroh und Löcher in der Tasche.«

Da war sie fuchsteufelswild geworden. Hatte den Gesellen mit einer hübschen Sammlung kerniger Ausdrücke bedacht, die sie noch von ihrer Kastanienalleezeit in guter Erinnerung behalten, und die in der Absicht gipfelten, die Löcher sollte er für seine Redensarten gleich im Kopfe haben. Denn »ihre Fürsten« seien ganz besondere Fürsten und arbeiteten den ganzen Tag, ohne uff die Uhr zu sehen wie gewisse Leute.

Da war plötzlich ein kleiner, kugelrunder Herr aufgetaucht, mit einer Zigarre im Mundwinkel und kleinen hellblickenden Äuglein. Hatte ihr die Stiefel aus der Hand gewunden, sie dem Gesellen zugeworfen und gerufen: »Werden jemacht, und dalli.«

Dann: »So, Fräuleinchen, un nu regen Sie sich man nich uff. Ob Fürst oder Schuster, det soll mir gleich sind. Aber en forsches Meechen, det sich von so em Kerl nich ins Bockshorn jagen läßt und für seine Brotgeber einsteht, det jefällt mir.«

Und wer das sagte, war der Herr Wittke in Person, ehemaliger Armeelieferant und anonymer Besitzer der dreihundert Besohlanstalten. Und er ging auch auf der Straße weiter an Annas Seite, weil ihm ihre robuste, gesunde Hübschheit und die Natürlichkeit ihrer Antworten wohl gefielen.

Sicherlich hatte die Anna einen Schutzengel, der ihr soufflierte, was sie im gegebenen Augenblick zu tun hatte. Sechs Wochen nach der ersten Bekanntschaft, der ein auffallend reger Verkehr folgte, gab Anna dem allzustürmischen und noch nicht ehelich gesinnten Bewerber eine energische Ohrfeige. Diese Ohrfeige entschied ihr Glück, Herr Wittke lüftete sein vermeintliches Inkognito. Bekannte sich erstmal zu einem Drittel seines Vermögens und machte weitere Zugeständnisse, als er bemerkte, daß dieses Drittel nicht überwältigte.

Fräulein Anna, die sich schon längst auf eigene Faust über Stand, Beruf und Vermögen des Herrn Wittke orientiert hatte, nahm drei Tage nach der glückbringenden Ohrfeige huldvoll den Heiratsantrag des Millionärs an.

Sie kündigte auch nicht sofort, wie Herr Wittke es wohl gewünscht hätte, ihre Stellung, sondern blieb noch ein Vierteljahr, um sich anzueignen, was möglich war, an Wissen und vor allem an äußerer körperlicher Pflege.

Wanda lächelte zustimmend, als Agathe davon sprach, dem strebsamen Mädchen Orthographie-Unterricht zu geben und einige Kenntnisse in Geographie und Geschichte beizubringen.

Und nun gab die gute Anna Gesellschaften in der Villa, deren Möbel sie vor einem halben Jahr noch abgestaubt hatte! – – –

Für den Boxkampf hatte man den großen Salon ausgeräumt, den riesigen runden Erker mit schweren Vorhängen abgeteilt und als Ankleideraum eingerichtet. Jetzt eben stellten die Konkurrenten sich nebeneinander auf.

Gleich nach den ersten Stößen war es klar, daß Tom King keine ernsten Rivalen hatte. Aber man wußte ihm Dank, daß er das Spiel in die Länge zog. Als nun der Russe, irregeführt durch einen träge, fast unachtsam parierten Ausfall, mit aller Wucht einsetzte, ging ein Lächeln über Tom Kings ernstes Jungengesicht, und im nächsten Augenblick lag der Russe am Boden, unfähig, sich zu rühren.

Da es über Gebühr lange dauerte, bis er sich erholte, packte Tom King ihn am Hosengurt und hob ihn mit einer Hand wie ein leichtes Spielzeug in die Luft, »Halloh, my boy!« Es klang fast zärtlich, und leicht schüttelte Tom King den Russen in der Luft. Dann stand er wieder da, regungslos. Die Muskeln seines Armes knoteten sich fausthoch, und er blieb gestreckt wie eine Eisenbarre in gradem Winkel zur Brust.

Rasender Beifall mit jubelnden Zurufen durchsetzt brach los. Die Gäste im Nebenraum stiegen auf die zierlichen seidenen Sessel, auf die dünnbeinigen, eingelegten Tische. Der Russe hing wie ein Lappen, der Kopf lag ihm schief auf der eigenen Schulter.

Langsam lief das Blut aus seinem breiten Gesicht, das jetzt wächsern bleich, nur von einem schwarzen, spitzzulaufenden Schnurrbart in zwei ungleiche Hälften geteilt war.

Eine Frauenstimme rief gellend: »Tot ... er ist ja tot.«

Der Applaus brach ab, es entstand ein unbeschreiblicher Lärm, in den knallend ein dreimaliger Tusch einfiel infolge der irrigen Annahme der Musiker, daß der Lärm den Abschluß des Kampfes anzeigte.

»Aufhören, aufhören, ein Arzt ... Durchlassen ... So 'ne Bestie!«

Dazwischen hysterische Schreie. Unbarmherzig trampelten die Männer auf bandgleichen Schleppen, rissen mit ihren zerteilenden Händen Löcher in kostbare Spitzen.

»Nich drängeln,« schrie Herr Wittke mit seiner trompetengleichen Stimme.

Tom King hielt den Russen noch immer wie einen toten Hahn und schnitt mit der freien Hand Raum in die Luft zwischen sich und die andern, die wie eine wilde Woge ihn umtosten. Dann stieß er den immer noch an seiner Faust hängenden Körper zwischen die Vorhänge des abgeteilten Raumes durch.

Der Engländer, noch im langen Bademantel, die breite Brust keuchend vor Erregung, das eben noch sorgfältig gescheitelte, weißblonde Haar in nassen Strähnen tief bis in die Stirn geklebt, hielt die Arme ausgebreitet wie eine Schranke. Ließ nur den kleinen Hausherrn durchschlüpfen, den Präsidenten eines der ersten Sportklubs, der das Amt des Schiedsrichters übernommen hatte, und zwei Herren, die sich als Aerzte auswiesen.

Frau Wittke, das hübsche, runde Gesicht ganz grau vor Schreck, murmelte immer nur: »Is ja Quatsch! Is ja nur 'ne Ohnmacht! Wo wird denn der Tom King – – wo wird der – – hier in meinem Salong!«

Eine zierliche Person mit übergroßen Augen, violett gepudert, starrte auf den Vorhangspalt. »Was ich an Schmuck auf mir habe, gäbe ich, um jetzt dort drinnen zu sein. Wie er ihn hineingetragen hat. Kein Mensch schreitet so – göttlich war es.«

Sie fiel plötzlich in sich zusammen wie ein Häuflein Asche, in ihrem stumpfen, grauen Chiffonkleid, das nur durch eine brillantendurchsetzte Smaragdkette aufgehellt war. Ihre mageren schmalen Schultern bebten unter einem trockenen, nervösen Schluchzen. Es war Kari Taß, die jede Nacht blutrünstige Gedichte in einem Kabarett des Kurfürstendamms vortrug, in der Tracht einer Schwester und mit dem unschuldig-sanften Augenaufschlag eines barmherzigen Engels.

»Bei dem haste kein Glück, Kari, wenn du dich auf den spitzt. Da kann ich schon eher ran.«

Sie fuhr auf, wie von einer Viper gestochen.

Auf der Lehne eines Sessels saß die Bildhauerin Ria Roma. Männlich gekleidet auch heute in ihrem schwarzen Samtkleid mit dem frackähnlich geschnittenen Überwurf und dem Jabot aus echter Valence, der unter einem hohen Kragen herausquoll bis zu einer rubinbesetzten großen Westenschnalle. Ihre schlanke weiße Hand fuhr mit raschen, sicheren Strichen über ein Blatt ihres Skizzenbuchs.

»Was meinst du, Carissima, krieg ich den Kerl? Ja? Hat er Linie? Was? Der Arm – – und das eingedrückte Kreuz mit dem Bein, wie aus Erz – – Schmiß. Wie? Der Mensch muß mir ins Atelier.«

»Gib mir das Blatt.« Das schmale Kinderhändchen der Kari Taß streckte sich, daß die unnatürlich gewölbten, blutroten Nägel aufleuchteten.

Ria Roma lachte kurz in ihr Jabot hinein, und ihr geschwungener, feinlippiger, sehr breiter Mund dehnte sich aus zu einem schwachen Strich.

»Ich muß das Blatt haben – – muß – –« Wieder das zitternde Wimmern, das ganz Berlin von ihr kannte. »Koste es, was es wolle.«

Die Bildhauerin zuckte die Achseln. »Mein Kokain ist mir ausgegangen – – vor der Zeit.«

Kari Taß schnellte auf. Ihr zierliches Figürchen neigte sich wie eine graue Wolke über den strichelnden Stift. »Bei mir, Ria, – – heute noch.«

Die Bildhauerin schob sie ruhig von sich. »Nein, meine Liebe. Du bringst es mir zum Wagen. Meine Gesellschaft suche ich mir für so was selbst aus. Im Wagen sollst du das Blatt haben.«

Sie klappte das Buch zu und stand auf. Sie war groß und prachtvoll gewachsen. Ihr Profil war kühn und streng wie ein Profil auf alten italienischen Gemmen. Es hieß, Kari Taß hätte einmal einen Selbstmordversuch gemacht, weil die Bildhauerin sich geweigert habe, ihr zierliches Kinderfigürchen zu modellieren. »So was knete ich unter der Mahlzeit aus einem Brotkügelchen,« sollte sie gesagt haben. Das hatte ihr Kari Taß nie verziehen. Doch gab es Augenblicke, wo sie einander brauchten.

Frau Wittke bemerkte mit Entsetzen, daß einige ihrer Gäste sich heimlich drückten, daß andere in beklommenem Schweigen verharrten, noch andere mit zornigen Gebärden, in einer Haltung, wie sie sie nur im Freien unter einer erregten Volksmenge, nie aber im Zimmer gesehen, Worte fallen ließen wie »Polizei,« »Verfluchter Unfug,« »Schiebertrick« und ähnliches.

Ob der Mann dort hinter dem Vorhang tot oder lebendig war, darum konnte sie sich jetzt nicht mehr kümmern, denn es galt, ihre Position zu retten. Vornehme Leute beherrschen sich. Das wußte sie. Und sie ließ reichgarnierte Platten herumreichen. Sekt in Gläsern, lief wie eine Henne, die ihre Küken verloren hat, von einer Gruppe zur andern und nötigte mit halblauter Stimme: »Ach bitte, nehmen Sie doch – – bitte ungeniert – –«

Die wenigsten wußten, wer sie war. Sie aber fühlte sich verpflichtet, eine Unterhaltung anzuspinnen.

»Is doch schrecklich, nich? Ich sagte ja gleich zu meinen Mann: Wenn da nur kein Unglück nich passiert. Habe auch alle Kostbarkeiten aus dem Salong räumen lassen. Die feinen Porzellane und alle Nippes. Wir haben nämlich den ganzen Klumpatsch gekauft von dem Fürsten Hohen-Steineck, mit Bildern und allem. Na, was sagen Sie, nennt sich der Mensch jetzt Hoheneck! Was die vornehmen Leute so für Splien haben!«

Plötzlich fuhr sie zusammen. Aus dem Vorhangspalt drückte sich Herr Wittke heraus mit einem der Aerzte.

»Is er dot ... is er wirklich dot?« flüsterte Frau Wittke und kniff vor Angst, eine bejahende Antwort zu hören, die Augen zusammen.

Herr Wittke machte sein undurchdringliches Geschäftsgesicht und brabbelte etwas Undeutliches vor sich hin. Jedenfalls sei Gefahr im Verzug. Doktor Kürer, der öfters den Fürsten behandelt habe, wollte den alten Herrn herausläuten und sich aus seinem Laboratorium etliches heraufholen.

Frau Wittke schrie gleich nach ihrem Tuch, verbesserte sich und rief, man sollte ihr den Pelzumhang geben. Sie wollte gleich mitlaufen mit dem Doktor. Aber sie verstummte vor dem Augenausdruck ihres Eheherrn. Sie hatte nicht »mitzulaufen«, sondern den Herrn Doktor und Tom King ohne Aufhebens durch die Hinterzimmer zum hinteren Korridor und bis zur Hintertreppe zu führen. Um das weitere hätte sie sich nicht zu kümmern, verstanden?

Und ehe sie noch Antwort oder eine Frage fand, stand plötzlich Tom King vor ihr und knotete seine weiße Krawatte. »Das beste wäre, Sie schlössen den Salon ab und jagten Ihre Gäste zum Teufel.«

»Rasch,« sagte Doktor Kürer, »rasch.« und warf ihm den Pelz um die Schultern.

»Sind Sie verrückt, Doktor? Soll ich vielleicht auskneifen?«

»Nein, nur vorsichtig sein und wissen ...«

»Was wissen?«

»Nicht so laut doch, meine Herren. Die Kerls, die Lohndiener, wenn die wat merken. Die sind doch uff'm Kiwiff.«

Frau Wittke hatte ihre schwalbenschwanzförmige Schleppe über den rundlichen Arm geworfen wie ein Handtuch und ging mit schnellen Schritten voran durch matterleuchtete Zimmer.

»Am besten, der Fürst erfährt jarnischt von allem. Die Prinzeß Wanda, die weiß grad so gut Bescheid mit alle Flaschen. Und wenn sie ooch hochmütig ist, nu, Sie kennen ihr ja, Herr Doktor, nur nich dran kehren. Sie tut schließlich doch, um was man sie bittet. So, die Hoftür is offen, nur den Riegel zurückschieben ... Nee, wenn ick det jewußt hätte!«

Sie stand eine Weile, über das Treppengeländer gebeugt. Es war ihr gar nicht wohl zumut, und es kostete sie starke Überwindung, zurückzugehen in die Gesellschaftsräume.

Die Musiker waren nach einigen tiefen Griffen in die offenstehenden Zigarrenkisten die ersten, die das Haus verließen. Die Damen suchten noch ein paar Kaviarbrötchen zu ergattern und schütteten Pralinen in ihre goldenen Täschchen. Die Herren gossen sich den Sekt aus Biergläsern in den Hals. Und Frau Wittke kam gerade dazu, wie eine Frau in schwarzem Seidenkleid – ihre »Kleinschneiderin«, mit der sie noch aus der Kastanienallee-Zeit befreundet war, und die sie halb aus Gutmütigkeit, halb aus Prahlerei eingeladen hatte – eine große Schüssel Hummermayonnaise in ein Mundtuch hineinleerte, das sie eilig zusammenband.

»Nee – weeßte – Aujuste, det's zu frech! Na laß man! Aber wat Manieren sind – – det mußte erst lernen, bis de in Jesellschaft gehen kannst.«

Nein, nein, es war doch alles anders geworden, als sie es sich gedacht hatte, die gute Anna. Vor der scheußlichsten Blamage bewahrten sie weder ihre manikürten Hände noch ihr onduliertes Haar. Und weil sie nicht wußte, wohin mit sich in all der Aufregung und dem Arger, fing sie an, die schmutzigen Teller zusammenzustellen, ohne daß es ihr zum Bewußtsein kam, was sie tat, und ohne daß es ihr einfiel, sich weiter um ihre Gäste zu kümmern, von denen die einen sich fluchtartig aus dem Staube machten, während die anderen sich im Herren- und Billardzimmer festnisteten, kurz, als wären sie in einem Restaurant, – Mokka und Schnäpse bestellten und bei Zigarren und Zigaretten das Ereignis des Abends und seine eventuellen Folgen besprachen.

Wenn dem Tom King nur nichts passierte! Sie hatten Geld auf ihn gesetzt. Wetten abgeschlossen. In drei Tagen traf sein einziger, ernstzunehmender Gegner aus London hier ein – der Australier O'Bry. Londoner Sportfreunde hatten telegraphiert: O'Bry sei nicht zu schlagen. Andere wiederum hatten depeschiert, daß der Australier infolge einer kürzlich überstandenen Grippe nicht ganz in Form sei.

Für Tom King bedeutete dieser Kampf jedenfalls die letzte Weihe seiner Unbesiegbarkeit.

Die Wetten wurden zumeist in London angemeldet. Es gab ein paar kleine Börsenleute, die den Rest ihres Vermögens auf die Fäuste Tom Kings gesetzt hatten, um sich »gesund zu machen«.

In den letzten Lagen waren O'Brys Chancen durch irgendeinen unbekannten Schachzug gestiegen und damit auch die Erregung aller Beteiligten. Es verlautete, daß sogar Tom King die Stundenzahl seines Trainings verdoppelt hatte.

Von Zeit zu Zeit stand der eine oder andere der Herren auf und schlich sich in den großen Salon als Kundschafter. Ein bißchen unbehaglich war allen –.

Die Vorhänge zum Erker klafften jetzt weit auseinander. Schmale französische Wandschirme teilten den Raum in drei Teile.

Im mittelsten lag der Russe, an dem der Arzt immer wieder die primitivsten Wiederbelebungsversuche vornahm, während Herr Wittke immer die gleichen sinnlosen Worte von sich gab:

»Is doch ausjeschlossen, Herr Doktor, ausjeschlossen – –, oder wat glauben Sie? Für mich – – ausjeschlossen! Nich wahr, meine Herren?«

Es waren da ein paar Herren aus dem Sportklub, die kalt rauchten, nur weil sie ihre Lippen beschäftigen mußten, um nicht vorzeitig etwas zu sagen, was sie nachher gereuen könnte.

Rechts zog sich der Engländer an. Frack, weiße Binde – – wie Tom King. Sein weißblondes Haar zeigte wieder den sorgfältigen, mit ruhiger Hand gezogenen Scheitel. Von Zeit zu Zeit steckte er den Kopf über den Schirm. »Na, wie steht's?«

Und nach einer Weile, die Hände in den Hosentaschen, den Blick der hellen blauen Augen auf die nacktstarre Brust des Liegenden gerichtet:

»Man müßte vor allem feststellen, ob der Stoß ist gewesen korrekt. Mit einem Totschläger boxt man nicht. Der Unbesiegbare! Well, auf diese Manier –«

* * *


 << zurück weiter >>