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Acht Tage später trabte Fürchtegott auf seinem muthigen Rosse Herrnhut zu. Der Brief des Grafen hatte ihn zwei Tage nach der Ankunft in Weltenburg erreicht. Das Schreiben war wirklich an ihn gerichtet und enthielt eine kurze, aber dringende Einladung desselben an den jungen Mann, den Brüderort sobald wie möglich zu besuchen. Gerade die Nichtangabe des Zweckes reizte Fürchtegott's Neugierde, und obwohl er sich sagen konnte, daß sein Vater allerhand Einwendungen haben werde, den Besuch im besten Falle wenigstens zu verzögern, so war der in seinen Vorsätzen jetzt bereits sehr hartnäckige Jüngling doch fest entschlossen, sich durch nichts zurückhalten zu lassen. Um auf kürzestem Wege zum Ziele zu kommen, siegelte Fürchtegott den Brief des Grafen wieder ein, legte nur wenige Zeilen an den Vater mit bei und erklärte eben so einfach als fest, daß er nur Christlieb's Ankunft in Weltenburg erwarte, um der gräflichen Einladung Folge zu geben. Sollte jedoch der Bruder am dritten Tage nach Absendung seines Briefes in Weltenburg nicht eintreffen, so würde er sich genöthigt sehen, die Oberaufsicht über die Bauten dem Architecten zu übertragen, um dem Grafen gegenüber nicht als Mann ohne Bildung und Erziehung zu erscheinen.
Mit welchen Gefühlen Ammer diesen Brief las, kann man sich denken. Im ersten Augenblick bäumte sein verletztes Vatergefühl, sein Stolz als Haupt der Familie sich auf, wie ein ergrimmter Löwe und wäre der rücksichtslose Sohn ihm vor Augen getreten, so würde es höchst wahrscheinlich eine sehr heftige Scene gegeben haben. Als er aber die Herbigkeit der Worte einigermaßen überwunden hatte, beschlich den Vater eine heimliche Freude. Diese Entschiedenheit im Wollen, obwohl sie zu frühzeitig sich geltend machte, war der ganze unverfälschte Abdruck seines eigenen festen Charakters. Daß der Sohn so ganz nach ihm zu gerathen schien, schmeichelte seinem Stolz als Vater, und weil er sich zugleich sagen mußte, daß bei kluger Leitung dieser starke Wille, dies ungestüme Drängen nach einem großen Ziele doch auch eine bedeutende Zukunft habe, verzieh er Fürchtegott. Seine Antwort lautete zustimmend, nur verlangte er, Fürchtegott solle vorerst nach der Ankunft seines Bruders in Weltenburg zu ihm kommen, da er ihm einige Aufträge an Wimmer mitzugeben habe.
Es war ein prächtig heller Tag. Die Bedachung des Observatoriums auf dem Hutberge am Ende des Gottesackers leuchtete wie ein glänzender Stern auf dem tiefblauen Grunde des Himmels. Die weit gestreckte Kette der Gebirge mit ihren Kämmen, Rücken und Kuppen war in jenes weiche, duftige Blau getaucht, das nur dem Süden eigen zu sein pflegt, das aber in den Grenzgebirgen Böhmens an sehr warmen Sommertagen nicht selten vorkommt und der ganzen Landschaft eine italienische Färbung gibt. Auf den Feldern waren die Landleute beschäftigt, die späteren Sommerfrüchte einzuheimsen. Hie und da aus den Thälern, in deren Schutz die Dörfer malerisch unter Buschwerk und Granitgeklipp sich lagern, hörte man das Geläut weidender Viehheerden. Wo die Sonne an hochliegenden Stoppelfeldern recht anprallte, legten viele geschäftigen Hände Flachs auf, damit er »röste« und sich dann leichter »brechen« lasse. Noch höher auf den Waldwiesen schimmerten weit ausgedehnte Bleichen, als wären sie mit schmelzendem Silber übergossen, und häufig sah man über dem blendend weißen Grunde farbige Regenbogen aufblitzen, die jedoch eben so schnell wieder verschwanden, als sie entstanden. Diese bunten Lichtbogen rührten von den Wasserstrahlen her, welche die Bleicher durch das Anfeuchten der Leinewand verursachten, das mittelst hölzerner Wurfschaufeln geschieht, um das Wasser gleichmäßig und in weitem Kreise zu vertheilen.
Bisweilen schenkte Fürchtegott diesen interessanten Bildern seine Aufmerksamkeit, im Ganzen aber war er zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt und von erwartungsvoller Unruhe gequält, um lange bei der Außenwelt verweilen zu können. Es war ihm unangenehm, daß er der sehr großen Hitze wegen sein Pferd nicht mehr anstrengen konnte, denn obwohl er fast immer, wo der Weg es zuließ, einen ziemlich scharfen Trab ritt, ward ihm die Zeit doch entsetzlich lang. Und er besaß noch keine eigene Uhr! Dem sparsamen Vater wollte es durchaus nicht einleuchten, daß der minderjährige Sohn eines schlichten Leinwebers mit solch einem, damals allerdings noch sehr theuern Luxusartikel versehen sein müsse, solle er in der Welt der Bildung für voll gelten.
Gegen Mittag erreichte Fürchtegott den Brüderort. Die Straßen waren still und menschenleer wie immer, und an beiden Seiten mit saftigem Gras überwuchert.
Fürchtegott stieg vor dem Gemeinlogis ab, übergab sein heiß gewordenes Pferd dem Hausknecht und bestellte für sich eine Erfrischung. Lange indeß hielt er es in dem mit zahllosen Fliegen überfüllten Gastzimmer, die einem schwärmenden Bienenstock gleich um ihn summten, nicht aus. Punkt zwölf Uhr machte er sich nach der schön gelegenen Gartenwohnung des Grafen, in der Voraussetzung, es werde die gewählte Stunde gerade die passendste Zeit zum Besuch eines so vornehmen Mannes sein, da er ja gehört und auch wohl gelesen hatte, daß reiche und vornehme Personen erst in den spätern Nachmittagsstunden das übliche Mittagsmahl einzunehmen pflegten.
Diesmal hatte sich jedoch der angehende Weltmann verrechnet. Graf Alban war gerade bei Tafel, nur nicht im eigenen Hause, sondern bei einem der bedeutendsten Mitglieder der Brüdergemeinde. Auf diesen Bescheid hin wollte sich Fürchtegott wieder entfernen, allein dies gab der sehr artige Bediente durchaus nicht zu. Gemäß der Weisung des Grafen, welcher den jungen Ammer erwartete, geleitete der Bediente den stattlich aussehenden Jüngling in das Wohnzimmer Alban's und bat ihn, sich es hier so lange gefallen zu lassen, bis sein Gebieter wieder heimkehre, was sicherlich nicht gar lange dauern werde.
Füchtegott kannte diesen Raum. Es war dasselbe Zimmer, in welchem ihn der Graf bei seinem ersten Besuche empfangen hatte. Auch die Mobilien kamen ihm wie alte Bekannte vor, wie denn die ganze schlichte Einrichtung keine Aenderung erlitten hatte. Nur spielte um die hohen, hellen Fenster jetzt dunkles Weinlaub, durch dessen breite Blätter neugierige weiße Windenköpfchen lauschten und ewig nickend zum Fenster hereingrüßten.
Einige Zeit lang ließ der junge Ammer seine Blicke über die großen sammtartigen Rasenplätze des Gartens schweifen, in deren Mitte ein kleiner Kreis von Georginen wuchs, eine ihrer Theuerung wegen damals noch wenig gehegte Zierpflanze. Später sah er sich etwas genauer im Zimmer um, wobei er mancherlei früher nicht beachtete Gegenstände gewahrte, die ihn mehr als der stille Garten mit seinen trefflich erhaltenen Granitwegen fesselten.
An der Wand über dem Sopha hing ein gar wunderbar gearbeiteter Gürtel, wie Fürchtegott früher nie einen gesehen hatte. Wer diesen Gürtel verfertigt haben möge, welchen Zweck oder Nutzen er habe, wußte er durchaus nicht zu errathen. Daneben sah er einen netzartigen Beutel, in dem eine Pfeife stack, beide Utensilien von einer Arbeit und Form, die auf ihre außereuropäische Herkunft schließen ließ. Seine Neugierde wurde immer größer, der Wunsch, seine Kenntnisse zu vermehren, wuchs zur Leidenschaft.
Auf dem Arbeitstische des Grafen lagen Briefe, Manuscripte, Bücher, wie damals. Diese zu berühren, hielt den jungen Ammer eine Scheu vor allen geistigen Erzeugnissen ab, vielleicht, weil er sich zu schwach oder doch für unzureichend geschult glaubte, um darüber ein Urtheil fällen zu können. Nur ein schmales, dünnes Büchlein mit Goldschnitt, sehr fein eingebunden und mit der deutlichen Inschrift in Golddruck: »Dem hochverehrten Herrn Grafen Alban seine dankbare Freundin unter den Heiden« zog ihn magnetisch an.
Der Graf hat eine Freundin unter den Heiden, sprach er zu sich selbst, unverwandt seine Augen auf das anziehende Büchlein heftend. Wie mag einer solchen Freundin wohl zu Muthe sein, wenn sie an die fernen Lieben im Vaterlande denkt! Ob es Briefe sind oder Gebete, die sie dem Grafen sendet? Ob er wohl gar mit ihr in ferner Welt gelebt und Theil genommen hat an der Bekehrung der Heiden? Mag sie schon lange ihrem Berufe leben oder gar für die Dauer dieses Lebens verpflichtet sein, unter jenen halb oder ganz wilden Volksstämmen sich auszuhalten?
Diese verschiedenen Fragen drängten sich Fürchtegott auf und wiederholten sich so schnell und immer von Neuem, daß er dem Drange seines Herzens endlich nachgab und mit schüchterner Hand nach dem Büchlein griff. Da er etwas zitterte, berührte er ganz unmerklich eine kleine silberne Schelle, die einen leisen, sanft erschallenden Ton von sich gab, vor dem der junge Ammer dennoch so stark erschrak, daß er zurückfuhr und sich scheu umblickte, als stehe er im Begriffe, ein Verbrechen zu begehen. Dennoch streckte er die Hand noch einmal nach dem verführerischen Büchlein aus, diesmal schon etwas zuversichtlicher und ohne zu zittern. Er ergriff es, trat schnell zurück und nahm in dem Lehnsessel Platz, der dem Tische zunächststehend, dem Grafen als Arbeitsstuhl diente.
Als Fürchtegott das Heft öffnete, fiel ihm der Name Erdmuthe Gottvertraut in die Augen. Zittern befiel ihn; es überrieselte ihn bald heiß, bald kalt, und er fühlte, daß je nach dem heißeren Aufwallen oder dem stockenden Laufe des Blutes er bald erbleichen, bald erröthen müsse. Das Liebesmahl, die Abschiedsrede des greisen Bischofs, die stille, betende Schaar der Brüder und Schwestern, dann das Umwandeln der Scheidenden, ihr Aufblick zu ihm, ihr brennend heißer Kuß: Alles stand in so lebendigen Farben wieder vor ihm, als sei es erst gestern geschehen.
Erdmuthe Gottvertraut, wiederholte er laut, den sonderbar schmeichelnden Namen wohl zehnmal lesend. Wie es ihr wohl ergehen mag! Ob sie glücklich ist, oder sich zurücksehnt nach dem Vaterlande, nach ihren Verwandten, nach der heimathlichen Luft und den heimischen Sitten?
Er schlug ein Blatt um und das Wort » Tagebuch«, mit sichern festen Zügen geschrieben, sah ihn geheimnißvoll, verheißungsreich an. Sollte er starkmuthig oder gleichgiltig den Spiegel von sich werfen, aus dessen lockender Tiefe ihm das Bild einer neuen Welt entgegentreten konnte? Fürchtegott vermochte es nicht. Der Name des reizenden Geschöpfes, das ein paar Secunden lang an seinem Munde gehangen hatte, war ihm nicht fremd. Er hatte geistig Theil an ihrem Wohl und Wehe. Sie gehörte ihm an wie der Schatten, der nur im Licht uns sichtbar wird. Ein wunderbar heller Moment des Lichtes aber war es für ihn gewesen, als Erdmuthe Gottvertraut mit vielleicht unbewußtem Kusse als Schwester von ihm Abschied nahm. Ohne weiter zu fragen, ob es erlaubt sei, in die Geheimnisse eines Dritten einzudringen, begann Fürchtegott, Alles um sich her vergessend, die Tagebuchblätter der fernen Heidenbekehrerin zu lesen.