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Ammer ließ sich vor dem Mittagessen, das heute später als gewöhnlich aufgetragen wurde, nicht mehr sehen. Als man ihn aus der Garnkammer herabrief, fiel den Brüdern das angegriffene Aussehen des Vaters auf. Auch war er über Tisch ungewöhnlich schweigsam und aß sehr wenig. Es drückte ihn etwas, das fühlten Alle, allein Niemand drang in ihn mit Fragen, weil man aus Erfahrung wußte, daß auf solche Weise von ihm keine Antwort zu erreichen sei. Wie sehr ernste Gedanken ihn beschäftigen mußten, ging daraus hervor, daß er den Tisch verließ, ohne selbst das übliche Gebet zu sprechen, ein Vorfall, der einem Ereigniß gleich kam, denn Niemand wußte sich eines ähnlichen Vorkommnisses von früher zu erinnern. Frau Anna, die auch nicht aussah, als ob sie auf neugierige Fragen Antwort geben werde, seufzte, behielt aber sonst ihre äußerliche Ruhe, an die ein langes Leben stiller Fügsamkeit sie gewöhnt hatte, bei.
Nach Verlauf einer Viertelstunde trat Ammer wieder in's Zimmer. Er trug einen weiten Pelzrock, eine hohe Pelzmütze von grauem Grimmer mit carmoisinrothem Boden, eine Kopfbedeckung, welche damals in den böhmischen Grenzdörfern üblich war. Ein Mann mit solcher weit über einen Fuß hohen Grimmermütze nahm sich stattlich aus, besonders wenn dazu noch mächtige Pelzstiefeln, ein Paar Fausthandschuhe von Fuchs und ein hoher Rohrstock mit ciselirtem Silberknopfe kam. Der reiche Webermeister erschien in solcher Tracht und kündigte seiner Familie an, daß er sich die Füße vertreten und frische Luft schlucken wolle. Es sei ihm brühheiß geworden von dem gelehrten Schnack des Rechtsverdrehers. Weil nun der Ofen im Cabinet ohnehin nicht im Stande, so thue er am Besten, der Zeit einen Nasenstüber zu geben.
Solches ist dem Menschen gut, schloß Ammer seinen in sehr ernstem Tone vorgetragenen Sermon. Unterweilen muß es Pausen geben, in denen man sich auf's Nichtsthun zu beschränken ein Recht hat. In solchen Pausen sammelt sich der Mensch innerlich, wird Herr über seine Gliedmaßen und über die unsichtbare Kraft, welche dieselben bewegt. Das aber ist partout nöthig, soll eine richtig denkende Creatur nicht wie ein Hampelmann zweck- und gedankenlos hin und herfahren. Adieu denn, bis zur Dämmerung! Macht mir keine Kalender, weder Alt noch Jung; bleibe ein Jeder in seinem ihm vorgeschriebenen Geleise und werde mir Keiner ungeduldig! Ich mag messeldrehige »Messeldrehig« nennt man zu stark gedrehtes Garn. Auf Menschen angewendet, versteht man darunter ein fahriges, unzuverlässiges und dem Gewohnten abholdes Wesen. Menschen noch weniger ausstehen als messeldrehiges Garn.
Damit rückte er grüßend seine Pelzmütze und verließ das Haus.
Wir halten es zum Verständniß des Folgenden für nöthig, dem eigenthümlichen Manne das Geleit zu geben. Ammer schlug den Weg nach der Berglehne ein, über welche die Communicationsstraße der Grenze zuführte. Es war dies jetzt bei dem ellenhohen Schnee kein angenehmer Spaziergang, denn ein Fußgänger mußte, um nur einigermaßen sicher auftreten zu können, in den Bahngeleisen fortschreiten, welche die zahlreichen Schlitten hinterlassen hatten. Außerdem schnitt die Luft messerartig scharf, Millionen feine Schneesternchen zitterten und tanzten in der Atmosphäre und prickelten wie Nadelstiche auf der Haut. Ammer jedoch gab darauf nichts. Von Jugend auf an strenge Kälte gewöhnt, wie jeder Winter, mit nur äußerst seltenen Ausnahmen, sie in den Gebirgen mit sich führt, erquickte und kräftigte ihn eher die scharfe Luft, die ihm bisweilen das Athmen erschwerte. Darum ging er in möglichst raschem Schritte, so gut es der rollende und unter den Tritten schreiende Schnee zuließ, die Lehne hinan. Auf der Höhe konnte man die ersten, in langer Reihe an einem Waldsaume sich fortziehenden Häuser des nächsten Dorfes, sowie den hohen Kamm des Gebirges überblicken. Der Weber hatte die Absicht, um seinem Spaziergange doch eine Art Zweck unterzulegen, bis an jene Häuserreihe ihn auszudehnen. Dort wohnte einer seiner Arbeiter, bei dem er sich erholen und dann den Heimgang wieder antreten wollte. Allein dem Zugwinde entgegen zu gehen bei einer wahrhaft sibirischen Kälte und noch dazu bei sinkender Sonne, schien ihm jetzt doch nicht rathsam. Er fühlte an dem eisigen Hauche, daß er sich bei solcher Wanderung das Gesicht erfrieren könne. Er änderte also seinen Plan und beschloß auf einem Umwege zurück zu gehen. Rechts von der Straße, geschützt durch einen hohen Waldberg, lag das Rohr. Durch dieses, das jetzt freilich mannshohe Schneewehen begruben, führte ein Fußsteig nach dem Flußthale. Als Mühlenpfad war dieser selbst im härtesten Winter betreten, weßhalb der Weber ihn ohne Bedenken einschlug.
Die Bewegung erwärmte ihn bald. Der Gebirgswind konnte das Rohr nicht erreichen, oder traf es doch nur strichweise, hie und da sah man vom Winde bloßgelegte Stellen. Hier stand das Rohr in dicken Büscheln und verursachte ein eigenthümlich melancholisches Tönen und Säuseln, das oft in ein klagendes Wimmern überging, vor dem einem wohl grauen konnte. Ammer achtete jedoch wenig darauf. Er kannte ja diese Naturlaute, und weil er sie von Jugend auf zu allen Tages- und Jahreszeiten zahllose Male gehört hatte, fielen sie ihm nicht auf. Er hätte dann eben so gut den Krähen seine Aufmerksamkeit schenken müssen, die schreiend über dem Rohr schwebten, bisweilen mit den Flügeln klappend auf den von Schnee entblößten Stellen sich niederließen, und dann wiederum mit ihrem häßlich krächzenden Geschrei aufstiegen.
So erreichte er die Mitte der öden, ja unheimlichen Gegend, die ihm den Beinamen gegeben. Hier strömte der starke Waldbach, der weiter unten die Mühle trieb. Das ziemlich tief in den Moorboden eingewühlte Bett desselben war jetzt mit Eis überkrustet. Da, wo der Pfad es kreuzte, hatte man einen Steg ohne Lehne gebaut und wenige Ellen weit oberhalb des Steges bildete der Bach über allerhand aufgewühltem Wurzelwerk und Schiefergeröll einen kleinen Wasserfall, der im Frühjahr einen ganz romantischen Anblick gewährte. Auch dieser Fall war jetzt in eine Eiswand verwandelt. Das lebhaft strömende Wasser hatte diese jedoch nicht fest werden lassen, sondern sie an verschiedenen Punkten durchbohrt, so daß an einer Menge Stellen der scheinbar ganz erstarrte Bach in scharfen Wasserstrahlen durchbrach, und die schönsten und mannichfaltigsten Eisgebilde dabei ansetzte. Ammer blieb auf dem Stege stehen und betrachtete sich diese Spitzen und Bögen. Das rieselnde und sprudelnde Wasser hatte eine Pyramide von wunderbarer Pracht gebildet, in der eine lebhafte Phantasie einen gothischen Thurm erblicken konnte. Eben entsendete die Sonne schräge über das Rohr laufende Strahlen, die an den Eiskristallen sich brachen, es vergoldeten und mit den schönsten Farbenspielen durchleuchteten. Die im Innern des Eises herabsickernden Tropfen glänzten bald weiß, wie Lichtfunken, bald purpurroth, wie Blutperlen; in der Tiefe aber setzten sie neue Eiskristalle an, die sich sichtlich mehrten und so vor dem Auge Ammer's ein Bilden und Werden enthüllten, das ihn fesselte.
Der reiche Weber vergaß Frost und Zeit und betrachtete mit immer größerer Aufmerksamkeit das Werden der Eisgebilde, die von den Strahlen der machtlosen Wintersonne nur beleuchtet, nicht geschmolzen wurden. Wie festgebannt stand Ammer, auf seinen Rohrstock gelehnt, neben dem Bache, der dumpf murmelnd unter seinem Eispanzer fortrieselte. Seine Blicke schienen das Eis durchbohren, bis in das Herz der Erde schauen zu wollen. Die Gesichtsmuskeln des alternden Mannes geriethen in eine vibrirende Bewegung, sei es von der scharfen, prickelnden Kälte, sei es von den Gedanken, die in ihm aufstiegen und die nicht ganz gewöhnlicher Art sein konnten. Endlich bog sich das Rohr unter der Last des darauf sich stützenden schweren Mannes, es fuhr tief in den hart gefrorenen Schnee und hätte den Weber beinahe zum Fallen gebracht.
Ammer besann sich jetzt und sah auf. Er bemerkte, daß ungeachtet der heftigen Kälte große Schweißtropfen von seiner Stirn herabrieselten. Die Sonne versank hinter dem Gebirge, kalte, graue Dämmerung füllte das Flußthal, und Nebel bäumten sich wie Riesenschlangen über dem Rohr auf, wo nur das unheimliche Wimmern des dürren Gestrüppes mit dem Geschrei der Krähen abwechselte.
Ja, ja, sagte der Webers seinen Stock aus dem eisigen Schnee ziehend, der Mensch ist ein wandelbares Geschöpf, dem die eigenen Gedanken keine Ruhe lassen!
Er ging thalabwärts, um bei der Mühle wieder in's Dorf abzulenken.
Einem Rohr im Winde, das sich bald rechts, bald links biegen oder wohl auch im Kreise drehen läßt, mag ich mich nicht vergleichen, sprach er vorwärts gehend zu sich selbst. Jedennoch gibt es Umstände, wo eine Abweichung auch von seinen Grundsätzen gebilligt werden kann. Aus vielen Tropfen wird ein kleines Bächlein, mehrere Bäche bilden einen Fluß, und das Weltmeer ist nichts Anderes, als ein Zusammenströmen aller Flüsse und Bäche der Erde. So wachsen die Kristalle und die Erze im Schooß der Scholle, von der wir doch Alle leben und ohne deren geheime Kräfte es weder Gemeinden noch Staaten gäbe. Wunderbare Einrichtung! Aber wir sollen lernen von der Kraft, selbst wenn wir sie nicht begreifen; wir sollen ihr nachahmen, damit wir vollkommener werden; wir sollen uns bilden nach dem Herrn, der aller Kräfte weiser Regierer ist, damit wir ähnlich werden den Weisesten, den Best
Ammer wagte nicht das letzte Wort ganz auszusprechen, denn eine unbegreifliche Bangigkeit ergriff ihn, und es kam ihm vor, als ob er nicht auf Gottes Wegen wandele.
Er sah ernst vor sich hin, durch die eisgraue, kalte, farblose Winterluft fortgleitend, wie ein Schatten. Bisweilen schüttelte er den Kopf oder ballte die Faust in der sie einschließenden Hülle. Dann blickte er wieder fragend gen Himmel, an dessen weißlich-blauer Wölbung schon einige Sterne funkelten.
Warum ist Er allein allwissend! murmelte er bitter, fast grimmig vor sich hin. Ich bin sonst gern zufrieden mit Allem, was Er uns schickt, was Er eingerichtet hat, jedennoch – muß man zuweilen wohl Zweifel hegen, ob Manches nicht noch vollkommner sich hätte machen lassen.
Ammer erreichte das Dorf. Ein verschneiter Hohlweg, hüben und drüben mit hohen Tannen bestanden, führte von der Mühle zu den ersten Häusern, deren Lichter schon, buntfarbige flimmernde Säulen auf den Schnee zeichnend, durch die hereinbrechende Nacht schimmerten. In diesem Hohlwege glitt der Weber aus, da sein Blick mehr nach oben, als auf den Weg gerichtet war. Er hielt sich, im Fallen eine herüberragende Baumwurzel erfassend. Die Erschütterung des Baumes war so stark, daß ein Theil des auf den breiten Nadeln lastenden Schnee's auf Ammer herabschurrte.
Sonderbar! sagte er, die Flocken abschüttelnd und jetzt vorsichtiger fürbaß schreitend. Sah doch hinauf zum Sternenzelt, wo unser Schöpfer thront, und dabei läßt Er mich straucheln, daß ich beinahe den Fuß gebrochen hätte! Wer sagt mir nun, warum? Wer gibt mir Rath, wenn ich zweifle? Wer kann behaupten, daß ich gegen das Sittengesetz handle, gegen den Willen des Herrn, wenn ich mich nicht für das Gesetz der weltlichen Obrigkeit entscheide?
Ammer vernahm das klappernde Geräusch der Webstühle. Eine Sternschnuppe fuhr leuchtend von Süd gen West und erlosch scheinbar nur ein paar hundert Schritte von ihm, wie ein ausgehendes Licht.
So verlischt dereinst auch unser Schaffen und Wirken, sagte Ammer, es sei denn, wir sorgen bei Lebzeiten dafür, daß wir nicht alsobald vergessen werden. Nun, ich will mir's überlegen, was ich zu thun habe. Ehrgeizig und ruhmsüchtig bin ich nicht, das weiß mein Schöpfer jedennoch möchte ich auch, daß der Name Ammer im Rohr eine gute Weile nach meinem Tode den Leuten noch im Gedächtnisse bliebe. Will mir also überlegen, was ich zu thun habe, um redlich zu bleiben und klug zu handeln.
Nach diesen Betrachtungen kam Ammer entschlossener und mithin auch heiterer in seinem Hause wieder an. Sein Cabinet war inzwischen in Ordnung gebracht worden, die Laden der Fenster geschlossen, der ausgebesserte Ofen gut geheizt, so daß eine behagliche Wärme dem eigensinnigen Weber entgegenstrahlte. Da weder seine Frau noch die Kinder ihn mit Fragen bestürmten, erzählte er unaufgefordert, welchen Weg er gemacht und Manches, was ihm dabei durch den Sinn gegangen war. Anna bemerkte, daß die Wolke des Unmuths und der Unentschlossenheit nicht mehr die Stirne ihres Gatten umlagerte, und da inzwischen die Brüder sehr fleißig die Hände gerührt, Flora aber für mancherlei kleine Bedürfnisse des Vaters aufmerksam gesorgt hatte, so endigte der Abend dieses verzwickten Tages ungleich besser, als man zu erwarten hoffen durfte. Nur fiel es sowohl Frau Anna wie den Uebrigen auf, daß der Vater sehr oft nach der Uhr sah, bald nach acht den Familientisch verließ, in sein Cabinet ging und hier in größter Stille zu arbeiten begann. Indeß glaubte man diese Abweichung von der Regel mit dem Versäumniß in Verbindung bringen zu müssen, welches der Tag herbeigeführt. Alle wurden in dieser Ansicht bestärkt, als der Vater nach neun Uhr wieder in's Zimmer trat, hier die Wanduhr aufzog, den Wecker stellte und dann das Signal zur Beendigung aller Arbeit gab.
Eine halbe Stunde später herrschte die tiefste Ruhe im Hause des Webers, nur zwei Personen schliefen nicht. Flora, deren Kammer nur durch eine Bretterwand von dem Schlafgemache der Eltern getrennt war, verließ ihr Lager, als sie das schon bekannte leise Schnarchen des Vaters vernahm. Ein paar Minuten später schlüpfte sie, hinlänglich gegen die Kälte geschützt, aus ihrer Kammer, lockte durch ein leises Zungenschnalzen den wachsamen Bello, damit er nicht anschlagen möge, und entriegelte, von dem Hunde begleitet, die nach dem Hofe führende Thür. An der Mauer fortgleitend, verschwand sie in der Färberei.
Aber auch Ammer schlief nicht. Er hatte sich, um seine Frau nicht zu beunruhigen, nur so gestellt, als sei er fest eingeschlummert. Noch hatte der Kukuk nicht die zehnte Stunde gerufen, da erhob sich der Weber. Leise und schüchtern, auf blosen Socken, schlich er durch die Kammer, drückte behutsam die Thür auf, stieg die Treppe hinab und begab sich nochmals in sein Cabinet.
Was veranlaßte den Weber zu so seltsamem Thun? Durften die Seinigen nicht wissen, daß ihn der Schlaf floh? Oder fürchtete er sie zu beunruhigen, wenn sie von seinem Wachen Kenntniß erhielten?
Die verschlossenen Fensterladen hüllten das Innere des Zimmers in undurchdringliche Finsterniß. Ammer hielt aber in allen Dingen auf Ordnung, und so ward es ihm leicht, Licht anzuzünden. Es war eine kleine nur schwach brennende Lampe, deren gaukelndes Flämmchen noch ein niedriger Blechschirm bedeckte und abdämpfte, die Ammer auf den Ofensims stellte, um bei der nur geringen Helligkeit auf's Gerathewohl aus einem Packe roth und grün gemischten Garnes eine Handvoll Fäden hervorzuziehen.
Jetzt nahm der Weber die Lampe und trug sie nach dem Tische, welcher in der nördlichen Zimmerecke stand. Aus dem Schiebkasten holte er eine Papierscheere hervor, setzte sich, zog die Lampe näher heran und zerschnitt die Garnfäden in fünf Theile. Alle fünf Theile mischte er durcheinander und warf sie dann in seine Hausmütze. Als auch dies geschehen war, blickte er sich um, beugte den grauschimmernden Kopf, dessen Haaren der Kamm entfallen war, weßhalb sie jetzt unordentlich um das blasse, aufgeregte Gesicht des Webers hingen, etwas vor und horchte. Obgleich er nichts Störendes vernahm, schlich er doch nach der Thür des Cabinetes und schob von Innen den Riegel vor.
Wieder an den Tisch zurückgekehrt, schüttelte Ammer die Garnfäden in seiner Mütze, schloß dann die Augen, als fürchte er sich das zu sehen, was seine Hände thaten, griff in die Mütze und faßte eine Anzahl erwähnter Fäden zusammen. Als er diese auf den Tisch legte, sah man, daß seine Hand stark zitterte. Ein wenig die Augen öffnend, warf er einen Blick auf das Häufchen Garnfäden, schloß sie wieder und verfuhr noch viermal ganz in derselben Weisem
Nun lagen fünf Häufchen auf dem Tische. Ammer schob die Mütze auf sein ungeordnetes Haar, setzte sich wieder und begann die einzelnen Fäden jedes Häufchens zu zählen. Die dabei herauskommenden Zahlen schrieb er auf ein Blatt weißes Papier, das er ebenfalls der Schieblade entnahm. Ueber dieser zwar mit Emsigkeit, aber doch sehr vorsichtig vollbrachten Arbeit war es ziemlich spät geworden.
Den Weber fror, dennoch wollte er sein nächtliches Werk ganz beendigen. Er nahm also Feder und Tinte, schrieb einen Brief, siegelte ihn zu, adressirte ihn aber nicht. Diesen Brief legte er in den Schiebkasten seines Tisches und verschloß ihn. Den Schlüssel steckte er zu sich.
Ich thu's nur für meine Kinder, sprach er zu sich selbst, als wolle er sich entschuldigen und zugleich auch rechtfertigen. Schlägt's ein, mög' es ihnen Segen bringen! Gebetet hab' ich dabei, wenn auch nicht mit Worten. Ich mag nichts davon haben, aber ich will Niemand hinderlich sein. Was jetzt geschieht mit dem da er deutete auf den verschlossenen Schiebkasten und was der Advocat thun mag, es ist Alles Zufall oder Schickung, denn ich habe nichts dazu gethan. Ich bin auch nicht dafür verantwortlich.
Die Uhr schlug eilf. Ammer sah sich nochmals rundum im Zimmer und wollte eben das düster brennende Lämpchen auslöschen, als er draußen Schnee knistern hörte unter den Tritten eines einsam Wandelnden. Er horchte auf die Schritte näherten sich. Der Nachtwächter, welcher einige Häuser weiter die Stunde rief, war es nicht; wer konnte so spät in der Nacht und in dieser entsetzlichen Kälte noch um die Wohnung des Webers schleichen?
Furchtsam war Ammer nicht, doch huldigte er dem Grundsatze, es müsse sich Niemand ohne die allerdringendste Noth in Gefahr begeben, weil auch der Vorsichtigste leicht darin umkommen könne. Er löschte deßhalb schnell entschlossen die Lampe, verließ Cabinet und Zimmer, ging quer über die Flur und wollte die nach dem Hofraume führende Hausthür entriegeln, um zu sehen, wer so spät in der Nacht um sein Haus herumstreiche. Zu seinem größten Erstaunen war jedoch der Riegel gar nicht vorgeschoben, und wie Ammer in nicht geringer Erregung das Schloß untersuchte, knurrte draußen ein Hund.
Ammer trat zurück, der Schnee knirschte wieder, und zwar diesmal hart vor der Thüre. Eine unverständliche Stimme flüsterte dem Hunde begütigende Worte zu. Im nächsten Augenblicke ward die Hausthür aufgestoßen und es trat Jemand ein. Zum Glück verhinderte die nach Innen sich öffnende Thür ein rasches Vortreten des Webers, sonst hätte leicht ein entsetzliches Unglück geschehen können. Denn schon war der ergrimmte Mann im Begriff, den nächtlichen Eindringling mit einigen Faustschlägen niederzuwerfen, als er zum Glück die Stimme Flora's erkannte, die ihrem Begleiter Bello sanft und fast zärtlich eine gute Nacht wünschte.
Das änderte freilich die Sachlage, allein beruhigen konnte es den Weber nicht. Er rief die Tochter bei Namen, was deren lautes Aufschreien zur Folge hatte.
Ammer war schon an ihrer Seite. Er umfaßte sie, damit sie im ersten Schreck nicht falle und sich verletze.
Florel, sprach er leise, wo warst, du? Ich will nicht fürchten, daß du böse Wege wandelst! Ich hörte Tritte, glaubte, Diebe wollten mich besuchen bedenke, wenn ich zugeschlagen, dir ein Leid zugefügt hätte!
Flora zitterte wie Espenlaub, sie konnte nicht sprechen, sie stammelte nur.
Wo warst du? fragte der Vater jetzt ernster, härter.
O vergib, vergib! murmelte das fröstelnde junge Mädchen. Ich habe wahrlich nichts Böses gethan bei Gottes ewiger Barmherzigkeit kann ich dir's zuschwören! Bello war ja bei mir.
Was wolltest du draußen in der kalten Mitternacht? forschte Ammer weiter.
Ich wollte nachsehen – ob im Färbehause auch Alles in Ordnung wäre.
Ammer stieg langsam mit Flora die Treppe hinauf.
Also im Färbehause warst du? Und wie kamst du denn an die Nordseite des Hauses? Unter die Fenster meines Cabinets?
Da bin ich nicht gewesen, wahrhaftig nicht, Vater!
Dann war's ein Anderer. – Vielleicht ging's zum Nachbar. – Hm, hm! – Gut, daß ich dich erwischt habe. Ich werde morgen mit Nachbar Jeremias Seltner ein ernsthaftes Wort reden.
Ammer entließ seine Tochter, und diese war ganz erstaunt über die Gelassenheit ihres Vaters, dessen Zorn, wurde er einmal gereizt, keine Grenzen kannte. Wahrscheinlich hätte sich der auf Reputation haltende Weber auch viel gewaltiger ereifert, ja vielleicht gar zu Thätlichkeiten fortreißen lassen, wenn er sich über sein eigenes Thun nicht stille Vorwürfe hätte machen müssen. Weil er sich sagte, er habe selbst gefehlt, war er im Augenblick ungewöhnlich mild, milder fast, als er es für gut fand. Indeß glaubte er, seiner Tochter Vertrauen schenken zu können, was ihn einigermaßen beruhigte. Der Schlaf freilich wollte in dieser Nacht nicht seine müden Augenlider schließen. Flora natürlich schlief auch nicht. Ihr bangte vor dem nächsten Morgen, sie entwarf hundert Pläne, um ihren Vater zu beruhigen; wie angestrengt sie aber auch nachdachte und einen Ausweg zu entdecken sich bestrebte, immer kehrte sie zu der Ueberzeugung zurück, es sei zuletzt doch wohl am Besten, sie gestehe bei scharfem Verhör die ganze Wahrheit. Gäbe es dann einen Sturm, so müsse dieser ausgehalten werden, ganz vernichten konnte auch der grimmigste Zorn des Vaters sein eigenes Kind nicht.
Wider Erwarten sprach jedoch Ammer kein Wort von der nächtlichen Begegnung. Er war freundlich wie sonst gegen Flora, nur schien es der Tochter, als sei ihr Vater etwas zerstreut. Die Färberei besuchte er zwar, ging auch einige Male an der Nordseite des Hauses auf und nieder. Da aber hier in Folge des Oeffnens und Schließens der Fensterladen sehr viele und verschiedene Fußstapfen im Schnee zu bemerken waren, konnten diese zu keiner Entdeckung des Abenteuers führen, das Flora so spät aus dem Hause gelockt haben mochte.
Jeremias Seltner besuchte Ammer bald nach Tische. Als er nach langem Wegbleiben wiederkam, schien er heiterer zu sein. Er verschloß sich in seinem Cabinet und rechnete.
In den Nachmittagsstunden hielt ein mit zwei großen Hunden bespannter Handschlitten vor Ammers Thür. Der Besitzer desselben klopfte und erhielt sofort Eintritt. Es war Leisetritt, der Glassammler. Er kam zurück aus der Glashütte, wo er kleine Einkäufe gemacht hatte und diese jetzt wieder auf dem Wege des Hausirhandels an den Mann zu bringen suchte. Auch Frau Anna wurde eine Anzahl Gläser verschiedener Form angeboten. Während sie mit dem spaßhaften alten Manne um den Preis feilschte, kam Ammer dazu. Er war sehr erfreut, den Alten zu sehen.
Grüß' Gott, Leisetritt, redete er ihn an. Hast du auch wacker Stroh in den Schuhen? 's ist 'was grausam kalt gewesen die letzten Tage her.
Leisetritt verzog sein Affengesicht zum Lachen, erwiderte den Gruß des Reichen sehr freundlich und versetzte:
Das macht fixe Leute, Herr Ammer. Ich bin vom Zuckmantel über's Gebirg hereingeflogen, als wär' ich eine Schwalbe. Auf solchen Wegen ist Stroh der beste Strumpf.
Wenigstens der billigste, meinte der Weber. Aber du machst's schon recht, daß du bei der alten Weise bleibst. Dich hält sie noch aus. Bei mir ist's schon ärgerlicher. Willst du ein paar Böhmen verdienen?
Leisetritt lachte und zog die Mütze. Wenn's sein kann, Herr Ammer, sagte er, so bin ich immer dafür gewesen, lieber Geld in den Sack zu stecken, als die letzten paar Dreier herauszuschütteln, 's ist just eine grausam liebliche Gottesgabe, so recht viel Silber in den Taschen mit herum zu schleppen, oder auch um Feierabendzeit die schönsten Stücke auf einem blank gescheuerten Tische zu zählen. Man kann ordentlich gute Gedanken dabei kriegen.
Nimm mir ein Briefel mit in die Stadt, wenn du morgen 'neinkommst. Du brauchst's nur in' Kasten zu schmeißen. Wenn's gelingt, schenk ich dir einen neuen Pelz und zum Sommer einen kohlschwarzen Dreikantigen. Mit den neumodischen Hüten machst du dir doch nicht gern' was zu schaffen.
Bei Leibe! versetzte der Glassammler. 's ist eine Mode für's Advocatenvolk. Die brauchen Alles rund, damit sie's drehen und wenden können, wie's ihnen paßt. Mag sie nicht leiden, Herr Ammer, die Advocaten, aber klug sind sie, obehüte, behüte, gar grausam klug! 's wär' anders gekommen mit unserm Herrn Christus, hätt's dazumal schon Advocaten gegeben.
Immer hast du verbotene Einfälle, sagte Ammer. Danke deinem Schöpfer, daß du nicht schreiben gelernt hast! Die hochweise Obrigkeit legte dich mit sammt deiner Feder in Ketten.
Wie die große Bibel auf der Rathsbibliothek, gelt? Aber ich sehe, die Frau Liebste ist fertig mit ihrer Auswahl; ich möchte derohalben um das Briefel bitten.
Ammer nahm den wohlverwahrten Brief, den er in der Nacht geschrieben hatte, aus dem Schiebkasten, schrieb jetzt erst die Adresse darauf und übergab ihn dem Glassammler.
Nur in den Kasten! Je eher, je lieber!
Leisetritt nickte und empfing die versprochenen Böhmen. Er rief seinen Hunden und ergriff selbst die kleine Deichsel des Schlittens.
Gute Verrichtung! rief Ammer ihm nach. Als er sich umkehrte und Niemand in seiner Nähe gewahrte, sagte er:
Itzund ist Alles in Richtigkeit gebracht. Das ganze Glück der Zukunft, das ich nicht suchte, das mich aber verfolgt; das ich fürchte und doch auch nicht hart abwehrend von mir weisen mag: es ist auf den blinden Zufall gestellt. Mag er walten, wie er muß! Ammer im Rohr will sich fürder den Schlaf mit seinem Walten nicht verderben lassen. Mein eigenes Wesen treib' ich wie vordem, schlicht und vorsichtig, mit reellen Mitteln, nicht auf Credit, Advocatenrederei und Spielglück.