Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVII.

Glycera an Leontium.

Sage mir doch, Leontion, – denn du hast mehr Gelegenheit gehabt, die Männer kennen zu lernen, als ich – ist es eine Untugend des ganzen Geschlechts, daß sie sich so wenig aus ihren Vergehungen machen, oder ist es ein eigner Zug im Karakter Menanders? Es ist noch nicht sehr lange, seit er sich so gröblich gegen mich vergangen hat, daß er vielleicht selbst kaum hoffen durfte Verzeihung zu erhalten. Ich verzieh' ihm, und in den ersten Tagen unsrer Aussöhnung war der Mensch so demüthig, so geschmeidig, so aufmerksam auf meine leisesten Winke, daß ich mich verführen ließ zu glauben, ich hätte endlich den Sieg über seine Unbeständigkeit erhalten. Aber kaum hielt er sich meiner Liebe wieder gewiß, so war auch alles Geschehene wieder vergessen. Er läßt allen seinen Launen und Unarten den Zügel wieder, übersieht sich selbst alles, und nimmt es dafür mit mir so scharf, als ob Er sich nichts vorzuwerfen, ich hingegen die größte Ursache hätte, alles von ihm zu ertragen. Wie hätte ich vor sechs Jahren denken sollen, daß dieser Menander, der mich damals so zart behandelte, so aufmerksam auf meine stillsten Wünsche, so selig durch meine kleinsten Gunsterweisungen war, in so wenig Jahren sich selbst so unähnlich sein würde? Ich darf es dir wohl gestehen, liebste Leontion, mir laufen zuweilen wunderliche Gedanken durch den Kopf, und daß ich ihnen kein Gehör gebe, kommt im Grunde bloß daher, weil ich von keinem andern Mann eine bessere Meinung habe, als von Menandern. Doch nichts mehr von diesen leidigen Geschöpfen!

Wie hat dir meine Nannion gefallen? – Wir waren freilich wenig mehr, als Kinder, da wir unsre Freundschaft stifteten. Nannion hat sich in den sechs Jahren meiner Abwesenheit von unsrer Vaterstadt mächtig entwickelt, oder soll ich verändert sagen? Denn beinahe hätt' ich sie auf den ersten Anblick nicht erkannt. Indessen war sie immer ein gutmüthiges Wesen, und ich halte mich versichert, daß sich ihr Herz nicht verändert hat.


 << zurück weiter >>