Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XXIII.
Krates an Hipparchia

Mit solchen Gesinnungen, solchen Entschließungen, wie deine Antwort mir zeigt, edle Hipparchia, bist du was du sein sollst; so beweisest du dich der Philosophie würdig, der du dich ergeben hast: der Philosophie, die, anstatt ihre Freunde mit spitzfündigen Grübeleien über das Unbegreifliche und Unerreichbare um ihr Dasein zu betrügen, sie geraden Wegs zu dem erreichbaren hohen Ziel ihrer Bestimmung hinführt, und die göttliche Idee der Tugend in ihrem Leben darzustellen strebt. Nur eine gefühllose Härte könnte mich fähig machen, die leise Klage zu schelten, die dir über meine Strenge entfahren ist. Wie grausam müßte der Wundarzt sein, der, während einer schmerzhaften Operation, dem Leidenden nicht einen kleinen Schrei oder eine sanfte Klage über die Hand, die in seiner Wunde wühlt, zugut halten wollte?

Wenn ich recht mutmaße, daß du deiner Pflicht gegen deinen edeln Vater nicht bloß eine Abneigung, sondern (was freilich ein weit größeres Opfer ist) eine an sich selbst untadeliche Neigung aufopferst, so wird der Sieg, den du über dich selbst erhalten wirst, desto verdienstlicher sein. In diesem Fall möchtest du vielleicht glauben, dein kaltblütiger Arzt habe gut operieren und Vorschriften geben, da er die brennende Schärfe seines Messers, und die Bitterkeit seiner Arzneien nicht aus eigner Erfahrung kenne. Ich will dich nicht länger in diesem Irrtum lassen, Hipparchia. Glaube mir, nur das Bewußtsein, daß ich nicht schonender mit mir selbst verfahre, konnte mir Mut machen, so strenge Forderungen an dich zu tun. Mein ganzes Herz hängt mit der reinsten Liebe an einer Person, die Alles was liebenswürdig ist in sich vereinigt. Ich bin überzeugt, sie ist die einzige, mit der ich in der engsten Verbindung glücklich sein würde. Aber unersteigliche Hindernisse liegen mir im Wege. Heilige Pflichten untersagen mir jeden Versuch, diese Hindernisse zu überwältigen. Ich fühle die ganze Stärke dieser Pflichten; aber ich fühle auch die ganze Schwäche der Menschennatur, und der Sieg kostet manchen harten Kampf. – Möge dies Geständnis dich mit der Strenge deines Freundes versöhnen!

Zwei unumschränkte Mächte fodern von dem freien Menschen unbedingte Unterwerfung, die Notwendigkeit und die Pflicht. Wohl dem, der schon so früh wie du in der Schule der Weisheit an den Gehorsam gewöhnt wird, welchen er jener nicht entziehen kann, dieser nicht entziehen darf.

Den 28sten Skirrophorion.


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