Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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IX.
Melanippe an Hipparchia

Der alte Großoheim ist in eine Schlafsucht verfallen, die sich, wie uns der Arzt sehr bedenklich ins Ohr sagt, über lang oder kurz in den ewigen Schlaf verlieren wird. Indessen hat er, so oft er wieder aufwacht, so viel Eßlust, als ob er von vorn zu leben anfangen wollte, und so wie er mit seiner Mahlzeit fertig ist, schläft das alte Kind unter einem Liedchen, das ich ihm singe, wieder ein. Da uns nun, bei so bewandten Umständen, seine Unterhaltung viel müßige Zeit übrig läßt, so füllen wir sie aus, so gut wir können, meistens mit Besuchen, die wir unsrer zahlreichen Nachbarschaft geben, oder von ihr empfangen.

So befand ich mich, zum Beispiel, gestern in einem solchen Kränzchen von Frauen und Mädchen, teils aus der Familie, teils aus unsern Nachbarinnen. Unvermerkt fiel das Gespräch auf eine Materie, die für unser Geschlecht immer den Reiz der Neuheit behalten wird, auf die Männer und die Liebe. Von jenen wurde (wie sich von selbst versteht) viel Böses, von dieser viel Poetisches gesagt; bis endlich Eine auf den Einfall kam, zur Unterhaltung der Gesellschaft Fragen aufzuwerfen, über welche jede Anwesende ihre Meinung sagen sollte.

Eine dieser Fragen war: ob es wohl möglich sei, daß ein schöner Mann sich in ein häßliches Weib, oder ein schönes Mädchen sich in einen häßlichen Mann verliebe?

Um in keinen Wortstreit zu geraten, wurde vor allem ausgemacht, daß zwar von einer beim ersten Anblick auffallenden und entschiednen, aber doch nicht widerlichen und zurückstoßenden Häßlichkeit die Rede sein sollte.

Dies vorausgesetzt, wurde die Frage im allgemeinen von Einigen schlechterdings verneinend beantwortet. Schönheit des Geliebten, behaupteten sie, sei eine notwendige Bedingung der Liebe; Häßlichkeit könne unmöglich ein Zunder der Liebe sein. Andere meinten, man könne dies zugeben, ohne daß die Frage dadurch entschieden werde. Es gebe auch eine geistige Schönheit, die, ihrer Natur nach, eine viel reinere und beständigere Liebe einflöße als diejenige, die nur die Augen auf sich ziehe: eine Liebe, deren Zauberkraft mächtig genug sei, den Eindruck der körperlichen Häßlichkeit zu schwächen, ja zuletzt gänzlich aufzuheben; und in diesem Sinne könne man sagen: was man liebe, scheine dem Liebenden niemals häßlich, wie es auch andern vorkommen möge.

Die meisten Stimmen fielen dahin aus: Das letztere könnte vielleicht bei uns Weibern, aber nie bei den Männern, der Fall sein. Diese seien für eine so geistige Liebe viel zu sinnlich: wenigstens lege ein schöner Mann zu viel Wert auf seine eigene Gestalt, um ein häßliches Weib lieben zu können, wenn sie auch die leibhafte Weisheit und Tugend wäre.

Offenbar zeigten wir uns ein wenig parteiisch gegen unser eigenes Geschlecht: wäre ein Mann zugegen gewesen, er würde wahrscheinlich das nämliche von uns behauptet haben. Ich für meinen Teil bin indessen ziemlich geneigt zu glauben, es sei nicht schlechterdings unmöglich, daß ein sehr schönes, und oben drein ein sehr wohl erzogenes und reiches Mädchen, wie z. B. meine Freundin Hipparchia, sich in einen ziemlich häßlichen Mann, wenn er sonst recht liebenswürdig wäre, in ganzem Ernst ein wenig – verlieben könnte. Was meinst du, Schwesterchen? Sei doch so gut und sage mir deine Gedanken von der Sache, und, wenn dir anders dein Liebeshandel mit dem schönen Leotychus Zeit dazu läßt, so laß mich auch wissen, wie du eine andere Frage, die jemand in unserm Kränzchen aufwarf, beantworten würdest, nämlich: ob und wie lange es wohl möglich sein dürfte, daß ein ehrliches Mädchen, mit einem ziemlich warmen Herzchen und einem noch wärmern Kopf, eine geheime Liebe zu irgend einem schönen oder häßlichen Mann unter einem der Freundschaft abgeborgten ziemlich dünnen Schleier vor einer vertrauten Freundin, oder gar vor sich selbst verbergen könnte?

Bis dahin, daß ich deine Antwort erhalte, hoffe ich dir Nachricht geben zu können, wie unser Philosoph die fortdauernde Abwesenheit seiner noch vor kurzem so lehrgierigen Schüler Hipparchides und Melampus aufzunehmen scheint. Im Vorbeigehen: hast du Menanders neue Komödie, den Selbstpeiniger, schon gelesen? Es ist ein sehr unterhaltendes Mittelding von Charakter- und Intrige-Stück, voll Witz und Laune, und findet, wie ich höre, vielen Beifall.

Deine Zusammenkunft mit dem schönen Leotychus ist sogar zu Acharnä kein Geheimnis mehr. Es scheint, deine Tante will es absichtlich unter die Leute bringen. Du kannst also nicht genug auf deiner Hut sein, wenn es dein Ernst ist, dir diesen Freier vom Halse zu schaffen.

Den 30sten Thargelion.


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