Christoph Martin Wieland
Göttergespräche
Christoph Martin Wieland

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Numa. Und wie erscheint dir jede Sache aus diesem Gesichtspunkte?

Der Unbekannte. Nicht stückweise, nicht was sie in einzelnen Orten und Zeitpunkten ist, nicht wie sie sich gegen diese oder jene Dinge verhält, nicht was sie durch ihre Einsenkung in den Dunstkreis der menschlichen Meinungen und Leidenschaften verliert oder gewinnt, nicht wie sie durch Torheit verfälscht oder durch Verdorbenheit des Herzens vergiftet wird: sondern wie sie sich in ihrem Anfang, Fortgang und Ausgang, in ihrem eigenen innerlichen Streben, in allen ihren Gestalten, Bewegungen, Wirkungen und Folgen, zum Ganzen verhält; das ist, wie viel sie zum ewigen Wachstum seiner Vollkommenheit beiträgt.

Jupiter. Das läßt sich hören!

Numa. Und wie findest du aus diesem Gesichtspunkte den Gegenstand, wovon wir beide uns bei deiner Ankunft besprachen? die große Katastrophe, die in diesen Tagen alles, was dem Menschengeschlechte so viele Jahrhunderte lang das Ehrwürdigste und Heiligste war, ohne alle Rücksicht und Schonung umgestürzt hat?

Der Unbekannte. Sie erfolgte notwendig, denn sie war lange vorbereitet, und es braucht, wie du weißt, zuletzt nur noch einen einzigen Windstoß, um ein altes, Übel zusammen gefügtes, durchaus morsches, und überdies nur auf Sand gegründetes Gebäude vollends umzustürzen.

Numa. Aber es war doch ein so prächtiger Bau! so ehrwürdig durch sein Altertum, so einfach bei der größten Mannigfaltigkeit, so wohltätig durch den Schirm, den die Humanität, die Gesetze, die Sicherheit der Staaten unter seinen hohen Gewölben schon so lange gefunden hatten! War es nicht ratsamer es auszubessern, als zu zertrümmern? Unsre Philosophen zu Alexandrien hatten so schöne Entwürfe gemacht, ihm nicht nur sein ehemaliges Ansehen, sondern sogar einen viel größern Glanz, und vornehmlich eine Symmetrie, Schönheit und Bequemlichkeit zu geben, die es noch nie gehabt hatte! Es war ein Pantheon von so großem Umfang und von so künstlicher Bauart, daß alle Religionen in der Welt – selbst diese neue, wenn sie nur verträglich sein wollte – Raum genug darin gefunden haben würden.

Der Unbekannte. Schade, daß es, mit allen diesen scheinbaren Vorzügen, doch immer nur auf beweglichen Sand gebaut war! Und, was die Verträglichkeit betrifft, wie willst du daß in einer Sache von so großer Wichtigkeit Wahrheit und Täuschung sich vertragen sollen?

Numa. Das geht sehr gut an, wenn nur die Menschen sich unter einander vertragen; sie, die nie ärger getäuscht werden, als wenn sie sich ausschließlich im Besitze der Wahrheit glauben.

Der Unbekannte. Wenn getäuscht zu werden nicht ihre Bestimmung ist – wie du doch wohl nicht behaupten willst? –, so kann und wird es auch nicht ihr Los sein, ewig in Wahn und Verblendung, wie Schafe ohne Hirten, herum zu irren. Zwischen Finsternis und Licht ist Dämmerung und Helldunkel allerdings besser als gänzliche Nacht, aber doch nur zum Übergang von jener in das reine, alles erhellende Tageslicht. Der Tag ist nun aufgegangen, und du wolltest trauern, daß Nacht und Dämmerung vorüber sind?

Jupiter. Du liebest die Allegorie, wie ich höre, junger Mann; ich für meine Person spreche gern rund heraus. Vermutlich willst du sagen, die Menschen würden durch diese neue Ordnung der Dinge glücklicher werden? Ich will es ihnen wünschen: aber noch sehe ich schlechte Anstalten dazu.

Der Unbekannte. Ganz unfehlbar wird es besser und unendlich besser mit den armen Sterblichen werden. Die Wahrheit wird sie in den Besitz der Freiheit setzen, die das unentbehrlichste Bedingnis der Glückseligkeit ist: denn Wahrheit allein macht frei –

Jupiter. Bravo! Das hörte ich schon vor fünfhundert Jahren in der Stoa zu Athen bis zum Überdruß. Sätze dieser Art sind eben so unwidersprechlich und tragen eben so viel zum Helle der Welt bei, als die große Wahrheit, daß einmal eins – eins ist. So bald du mir die Nachricht bringen wirst, daß die albernen Leute da unten, seitdem ein großer Teil von ihnen anders glaubt als ihre Voreltern, bessere Menschen geworden seien als ihre Voreltern, dann will ich dich für den Boten einer sehr guten Zeitung gelten lassen.

Der Unbekannte. Die Verderbnis der Menschen war zu groß, als daß selbst die außerordentlichsten Anstalten dem Übel auf einmal hätten abhelfen können. Aber ganz gewiß werden sie besser werden, wenn die Wahrheit sie erst frei gemacht haben wird.

Jupiter. Das glaube ich auch; nur dünkt mich sei damit nicht mehr gesagt, als wenn du sagtest: so bald alle Menschen weise und gut sein werden, werden sie aufhören töricht und verkehrt zu sein; oder, wenn die goldne Zeit, da jedermann vollauf hat, gekommen sein wird, wird niemand mehr Hunger leiden.

Der Unbekannte. Ich sehe die Zeit wirklich kommen, da alle, die ihr Herz der Wahrheit nicht vorsätzlich verschließen, durch sie zu einer Vollkommenheit gelangen werden, wovon euere Weisen keine Ahnung hatten.

Jupiter. Bist du in den Mysterien zu Eleusis initiiert?

Der Unbekannte. Ich kenne sie so gut als ob ich es wäre.

Jupiter. So wird dir bekannt sein, was der letzte Zweck dieser Mysterien ist?

Der Unbekannte. Froh zu leben und mit der Hoffnung eines bessern Lebens zu sterben –

Jupiter. Du scheinst mir ein großer Menschenfreund zu sein: weißt du etwas wohltätigeres für die Sterblichen?

Der Unbekannte. Ja.

Jupiter. So laß hören, wenn ich bitten darf!

Der Unbekannte. Ihnen das wirklich zu geben, was die Mystagogen zu Eleusis versprachen.

Jupiter. Ich fürchte, das ist mehr, als du oder ich zu leisten vermochten.

Der Unbekannte. Du hast es nie versucht, Jupiter.

Jupiter. Wer spricht gern von seinen Verdiensten? Indessen kannst du leicht ermessen, daß ich zu der Ehre, die mir von so vielen großen und wohl policierten Völkern seit einigen Jahrtausenden erwiesen wird, nicht gekommen sein kann, ohne etwas um sie verdient zu haben.

Der Unbekannte. Das mag schon lange sein! Wer zum Besten der Menschen nicht mehr tun mag, als er tun kann ohne aus seiner Ruhe heraus zu gehen, wird freilich nicht viel heilbringendes tun. Ich gestehe daß es mir saurer geworden ist.

Jupiter. Du gefällst mir, junger Mann! In deinen Jahren ist diese liebenswürdige Schwärmerei, die sich selbst für andere aufopfert, ein wahres Verdienst. Wer könnte sich für die Menschen aufopfern, ohne sie zu lieben? und wer könnte sie lieben, ohne besser von ihnen zu denken als sie wert sind?

Der Unbekannte. Ich denke weder zu gut noch zu schlecht von ihnen. Ihr Elend jammert mich; ich sehe daß ihnen zu helfen ist, und – es soll ihnen geholfen werden!

Jupiter. Das ist es eben was ich sage. Du bist voll Muts und guten Willens; aber du bist noch jung; die Torheit des Erdenvolkes hat dich noch nicht mürbe gemacht: in meinen Jahren wirst du ein ander Lied singen!

Der Unbekannte. Du sprichst wie ich es von dir erwarten konnte.

Jupiter. Es kommt dir ärgerlich vor, mich so reden zu hören, nicht wahr? – Du hast einen großen und wohltätigen Plan zum Besten der Sterblichen entworfen; du brennest vor Verlangen ihn auszuführen, du lebst und webst in ihm; dein weit sehender Blick zeigt dir alle deine Vorteile; dein Mut verschlingt alle Schwierigkeiten; du hast deine Existenz daran gesetzt: wie solltest du nicht glauben damit zu Stande zu kommen? Aber – du hast es mit Menschen zu tun, mein Trauter! Nimm mirs nicht Übel, daß ich geradezu spreche wie ich denke; es ist ein Vorrecht des Alters und der Erfahrung. Du kommst mir vor wie ein Tragödiendichter, der ein treffliches Stück durch lauter krüppelhafte, zwergige, hinkende und bucklige Schauspieler aufführen wollte. Noch einmal, Freund, du bist der erste nicht, der es versucht etwas Großes mit Menschen auszuführen; aber ich sage dir, so lange sie sind was sie sind, kommt aus allen solchen Versuchen nichts heraus.

Der Unbekannte. Eben darum müssen neue Menschen aus ihnen werden.

Jupiter. Neue Menschen? – Lachend. Das läßt sich hören! Wenn du das kannst! – Doch, ich glaube dich zu verstehen. Du willst sie umbilden, ihnen eine neue bessere Gestalt geben – das Modell dazu ist da – du darfst sie nur nach dir selbst bilden. Aber damit ist die Sache noch nicht getan. Den Lehm zu deiner neuen Schöpfung hat dir die Natur gegeben, und den wirst du schon nehmen müssen wie er ist. Denke an mich, mein Lieber! du wirst dir alle mögliche Mühe mit deiner Töpferarbeit gegeben haben, und wenn sie aus dem Ofen kommt, wirst du deine Schande an ihr sehen.

Der Unbekannte. Der Lehm (um bei deinem Gleichnisse zu bleiben) ist an sich selbst nicht so schlecht als du denkst; er kann gereinigt und so geschmeidig gemacht werden als ich ihn nötig habe, um neue und bessere Menschen daraus zu bilden.

Jupiter. Das soll mich freuen! Hast du die Probe schon gemacht?

Der Unbekannte. Allerdings.

Jupiter. Ich meine – im Großen. Denn daß unter tausend Stücken Eins gelingen kann, macht die Sache noch nicht aus.

Der Unbekannte nach einigem Stocken. Wenn die Probe im Großen noch nicht nach meinem Sinn ausgefallen ist, so weiß ich wenigstens, warum es nicht anders sein konnte. Es wird mit der Zeit schon besser gehen.

Jupiter. Mit der Zeit? – Nun ja! man hofft immer das beste von der Zeit! Wer wollte auch ohne diese Hoffnung etwas Großes unternehmen? Wir wollen sehen, wie die Zeit deinen Erwartungen zusagen wird. Für die nächsten tausend Jahre kann ich dir wenig Gutes versprechen.

Der Unbekannte. Du hast, wie ich sehe, einen kleinen Maßstab, alter König von Kreta! Was sind tausend Jahre gegen den Zeitraum, den die Vollendung des großen Werkes erfordert, aus dem ganzen Menschengeschlecht eine einzige Familie guter und glücklicher Geschöpfe zu machen?

Jupiter. Ah! da hast du recht! Wie manches Jahrtausend arbeiten die Hermetischen Weisen bereits an ihrem Steine, ohne ihn zu Stande gebracht zu haben! Und was ist das Werk der Weisen Meister gegen das deinige!

Der Unbekannte. Du scherzest zur Unzeit. Das Werk, das ich unternommen habe, ist eben so möglich, als daß das Samenkorn einer Ceder zu einem großen Baum erwachse; nur daß die Ceder freilich ihre Vollkommenheit nicht so schnell erreicht als eine Pappelweide.

Jupiter. Auch würde man dir gern zu Ausführung deines Werkes so viel Zeit lassen als du wolltest, wenn es nur darauf ankäme. Aber die gewissen und ungeheuern Übel, womit die Menschen so viele Jahrhunderte lang die Hoffnung eines ungewissen Gutes erkaufen sollen, geben der Sache eine andere Gestalt. Was muß man von einem Plane denken, der dem Menschengeschlechte wohltätig sein soll, und in der Ausführung so übel gerät, daß ein sehr großer Teil desselben, durch einen Zeitraum dessen Ende unabsehlich ist, ohne alle Vergleichung unglücklicher, und (was noch ärger ist) an Kopf und Herz schlechter gemacht wird als er jemals war? – Ich berufe mich auf den Augenschein; und doch ist alles, was wir seit der Ermordung des braven Enthusiasten Julian gesehen haben, nur ein kleines Vorspiel des unermeßlichen Unheils, das die neue Hierarchie über die armen Gimpel von Menschen bringen wird, die sich von jedem neuen Liedchen, das man ihnen vorpfeift, in die ungeahndete Schlinge locken lassen.

Der Unbekannte. Alle diese Übel, über welche du im Namen der Menschheit wehklagst, – du, dem ihr Elend sonst so wenig zu Herzen ging! – sind weder Bedingungen noch Wirkungen des großen Plans, wovon die Rede ist: es sind die Hindernisse, die sich ihm von außen entgegen stellen, und womit das Licht nur allzu lange zu kämpfen haben wird, bis es die Finsternis gänzlich überwältigt hat. Ist es die Schuld des Weins, wenn er in einem schimmeligen Gefäße verdorben wird? – Da es nun einmal Natur der Sache ist, daß die Menschen nur durch unmerkliche Grade an Weisheit und Güte zunehmen können; da ihrer Verbesserung von innen und von außen so unendlich viele Feinde entgegen arbeiten; da die Schwierigkeiten sich mit jedem Siege vermehren, und selbst die zweckmäßigsten Mittel bloß dadurch, daß sie durch Menschenköpfe gehen, in Menschenhände gestellt werden müssen, wieder zu neuen Hindernissen werden: – wie kann es dich befremden, daß es nicht in meiner Macht steht, meinen Brüdern die Glückseligkeit, die ich ihnen zugedacht habe, um einen geringern Preis zu verschaffen? Wie gern hätte ich ihnen all ihr Elend auf einmal abgenommen! – Aber auch ich vermag nichts gegen die ewigen Gesetze der Notwendigkeit: genug, daß die Zeit endlich kommen wird –

Jupiter ein wenig verdrießlich. Nun, so wollen wir sie denn kommen lassen, und die armen Tröpfe, mit denen du es so wohl meinst, mögen indessen sehen, wie sie sich behelfen! – Wie gesagt, meine Blicke reichen nicht weit genug, daß ich von einem so weitschichtigen und verwickelten Plane, wie der deinige, urteilen könnte. Das beste ist, daß wir unsterblich sind, und also Hoffnung haben, die Entwicklung endlich doch noch zu erleben, wie viele Platonische Jahre sie auch auf sich warten lassen mag.

Der Unbekannte. Mein Plan, so groß er ist, ist im Grunde der einfachste von der Welt. Der Weg, auf welchem ich die allgemeine Glückseligkeit zu bewirken gewiß bin, ist eben derselbe, worauf ich jeden einzelnen Menschen zur Glückseligkeit führe; und was für seine Sicherheit bürget, ist – daß es keinen andern gibt. Übrigens endige ich damit, womit ich anfing: Es ist unmöglich nicht getäuscht zu werden, so lange man die Dinge stückweise und, wie sie im besondern erscheinen, betrachtet. Sie sind nichts wirklich, als was sie im Ganzen sind, und die Vollkommenheit, die alles zu Einem verbindet, wohin alles strebt, und worin endlich alles ruhen wird, ist der einzige Gesichtspunkt, woraus alle Dinge richtig gesehen werden. – Und hiermit gehabt euch wohl! Er verschwindet.

Numa zu Jupiter . Was sagst du zu dieser Erscheinung, Jupiter?

Jupiter. Frage mich in funfzehnhundert Jahren wieder.


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