Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Eines Tages erhielt Warberg den nachstehenden Brief:

Montag, den ... 18 ..

»Lieber Gunnar!

Gestern vor acht Tagen war ich an Deiner Tür, traf Dich aber nicht zu Hause und legte ein »Morgenblatt« in Deinen Briefkasten, darin stand etwas über »König Midas« und Frau Hennings Spiel, das mich interessierte, doch Du verfolgst natürlich die Artikel in den anderen Zeitungen über das glänzende Schauspiel. Ich war in der Premiere und werde sie nie vergessen. Nirgends habe ich etwas Besseres gesehen, weder in Berlin noch in St. Petersburg, ich konnte in der folgenden Nacht nicht schlafen und dachte ein paar Tage lang an weiter nichts als an Frau Hennings. – – –

Hiermit etwas über »Strindberg«, ich meine, Du mußtest ein paar Worte aus Schweden haben, während ich hier bin; Ende dieser Woche siehst Du mich gewiß wieder. –

Schonen ist nun einmal mein Lieblingsaufenthalt, ich muß hin und wieder hierher, gestern war ich auch auf »Kullen«, großartige Natur.

Gruß an Binse und Dich mein Junge
von Benjamin.«

Und darauf liefen allmählich folgende Episteln bei Gunnar ein:

Helsingör, Montag, den ... 18 ...

»Lieber Gunnar!

Ich meine, ich bin es Dir schuldig, Dir mitzuteilen, was sich, seit Du das letztemal von mir hörtest, mit mir ereignet hat.

Ja, Du, ich bin tief gesunken, habe ein Verbrechen begangen, habe Frau Hartmann in Schweden ein paar Sachen gestohlen, ihr, zu der ich wie zu einer Gottheit aufgesehen habe, gerade das ist so fürchterlich, hätte ich noch jedem anderen etwas fortgenommen, hätte ich nicht so sehr darunter gelitten wie ich jetzt leiden muß. Nun muß ich für mein Vergehen hart büßen, indem ich im Gefängnis schmachte, allein mit meinen Gedanken, mit einem ewig bitter nagenden Schmerz in meiner Seele, der drinnen schreit und heult, daß ich nie mehr Ruhe habe.

Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich eine entehrende Strafe erleiden müssen, Frau Hartmann hätte es vielleicht verhindern können, ich schrieb deswegen an sie, aber sie ließ den Brief unbeantwortet.

Daß mein Name gebrandmarkt werden wird und ich selbst für ewige Zeiten verurteilt bin, ist für mich ein so schrecklicher Gedanke, daß ich ihn gar nicht auszudenken wage. – Weshalb kam ich nicht zu Dir und vertraute mich Dir völlig an, Du, der Du mich doch gern hast und weißt, daß ich kein schlechter Mensch bin.

Nicht wahr, Gunnar, Du wirst mich trotzdem nicht verachten oder hassen? Du, der Du es verstehst, Dich in solche Situationen hineinzuversetzen, wo ein Mensch sich zum Allerschlimmsten verleiten lassen kann, und Binse wird es auch nicht, ich weiß voll und ganz, daß ihr mich lieb habt, wenn dies auch für euch sehr schwer zu hören sein wird. Inwieweit unsere übrige Familie davon verschont bleiben wird, entweder durch Frau Hartmann oder durch die Polizei von der Sache etwas zu erfahren, weiß ich nicht, doch bitte ich Dich, wenn es sich vermeiden läßt, keinem Mitgliede der Familie etwas zu sagen oder zu schreiben. Gut, daß Mutter tot ist. Schreibe nicht an meine Brüder, Gunnar, ich bitte dich darum, ich glaube, sie würden mich in Acht und Bann tun.

Das Allertraurigste ist, daß ich doch wahrscheinlich die verlieren werde, die mir so innig lieb war und ist. Das ist ein grausamer Schlag für mich, ich werde den Aufenthalt in Kopenhagen oder hier im Lande nach verbüßter Strafe nicht aushalten können, ich muß wenigstens für ein paar Jahre Dänemark verlassen, ein Bruder meines Prinzipals in Zinten wohnt in Hamburg, er hat mich früher einmal gebeten, ihn zu besuchen, möglich, daß er mir doch in Zukunft mit einer Stellung hilft.

Noch einmal bitte ich Dich, Gunnar, an mich zu denken, habe Mitleid mit mir, die Strafe, die ich erhalte, wird kaum so hart werden wie die Qualen, die ich erleiden muß, Binse die herzlichsten Grüße, ihr kannst Du die Sache getrost erzählen, sie hat mich auch gern, das weiß ich – wie wirst Du die Ausgaben für das Klavier bestreiten können? Schicke es lieber Ende des Monats zurück.

Ich glaube, man wird es mir nicht verweigern, ein Buch zu lesen, hast Du ein Herz für mich, dann schicke mir eines. Hast Du »König Midas«, ja »König Midas« und »Frau Hennings«, meine einzige Rettung!

Dein unglücklicher Vetter Benjamin.

Dies ist mit Bewilligung des Polizeimeisters geschrieben, nachdem er den Inhalt gelesen hat, ebenso wie Briefe an mich erst von dieser höheren Stelle gelesen werden.«

Helsingör, den 28. ... 18 ...

»Lieber Gunnar!

Wie Du siehst, bin ich noch hier und erwarte mit Sehnsucht den endgültigen Abschluß der Sache. Noch weiß ich gar nichts in bezug darauf, wie lange Zeit ich hier sitzen soll oder was für ein Urteil mich erwartet. Deinen freundlichen teilnehmenden Brief habe ich erhalten, der mir wirklich eine Freude bereitete – daß Du soviel Güte mir gegenüber hättest, dachte ich wohl, da Du doch weißt, wie hoch ich Dich schätze, indem Du diese Sache so auffaßt, wie Du es getan hast. Indessen fürchte ich doch, daß ich in Deinen Augen nie mehr werden kann, was ich früher war? Dies hier ist ja etwas, das sich nie vergessen oder begraben läßt, es ist etwas, das mich stets quälen und an mir zehren wird. Ja, könnte Frau Hartmann mir nur verzeihen, so wäre es eine andere Sache, aber das kann sie wohl kaum. Übrigens erwartete ich eine Fortsetzung Deines Briefes, die Du mir versprachest, ich zweifle fast daran, daß das Gespräch, das Du mit der Frau gehabt hast, wenn sie Dich überhaupt angenommen hat? so verlaufen ist, wie Du erwartetest. Sie hat ja auch vollständig recht, wenn sie zornig und erbittert ist. Also hast Du mir nichts Gutes von ihr zu melden, schone mich deshalb wenigstens, bis ich einmal unter vier Augen mit Dir spreche.

Mit einem einzigen großen Trost will ich Dich doch erfreuen, es ist der, daß sie, die für mich über allen anderen steht, selbst über Frau Hartmann, noch nichts ahnt, und hoffentlich nie etwas von dieser Sache erfahren wird, dank dem heimlichen Verhältnis, das zwischen uns und unseren Verwandten bestanden hat – deshalb, Gunnar, Dank für Dein Anerbieten, zu der Betreffenden zu gehen und für mich zu sprechen, zum Glück ist es nun nicht nötig, den Göttern sei Dank, an die ich doch nicht glaube, aber trotzdem ist es geordnet.

Nach dem Örstedsvej brauchst Du auch nicht zu gehen. Ich habe an ›die Frau‹ geschrieben, und sie weiß nicht das geringste.

Eines will ich Dir doch sagen, ich nehme nie Geld von Dir an, Du sollst keinerlei Opfer bringen, da Du alles allein brauchen kannst, nein, ich muß mich demütigen und die um Hilfe bitten, denen ich bisher nichts von der Sache gesagt habe oder richtiger von meiner augenblicklichen Situation in pekuniärer Beziehung.

Lieber Gunnar, ich habe nun in den vier Wochen, die ich hier allein sitze, so viel gedacht, daß mein Gehirn bald nicht mehr kann, es ist eine fürchterliche Strafe, geistig sterben zu müssen, das täte ich ja, wenn dies noch lange dauerte. Warum hast Du so lange geschwiegen, wenn wir uns auch nicht in richtiger Weise aussprechen können, hätten doch ein paar Zeilen von Deiner Hand mich erfreut. – Versetze Dich in meine Lage, ja, Du müßtest früher zugrunde gehen als ich, geistig, glaube ich ganz bestimmt. In ein paar Tagen hast Du Geburtstag, ich will die Gelegenheit benutzen, Dir zu gratulieren, es wird mir nicht vergönnt, Dir die Hand zu drücken oder Dir ein Geschenk zu senden, im vorigen Jahre konnte ich es tun, in diesem Jahre kommt es später. Ich möchte wünschen, daß Du das Klavier behältst, vielleicht kann ich Dir später die Sache ersetzen. Du kannst ja nicht gut ohne Musik leben. »Moritz« ist zweifellos bei Dir gewesen, ich sehe sein Papageiengesicht, er hat mich ja vergebens erwartet. Binse darfst Du nicht vergessen mit einem freundlichen Gruß, sowie Dich selbst von deinem Vetter

Benjamin.«

Helsingör, den ... 18 ...

»Lieber Gunnar!

Unter einer Bedingung will ich meines »Bruders« Jesper »Reisegeld« annehmen. Bleibt es mir erspart, mich persönlich bei ihm zu bedanken? schriftlich oder mündlich, gleichviel, ich werde das Geld nur annehmen, als ob es von Dir käme, auch später, wenn ich es Dir wiedergeben werde.

Ich will nun einmal nichts mit Jesper zu tun haben, er haßt mich, das weiß ich, und ich liebe ihn auch nicht, ich weiß ja so genau, wie er mir gegenüber auftreten könnte in diesem Augenblick, wenn er nur könnte, oder wie er sich in einem Schreiben an mich ausdrücken würde, wenn er es nur wagte, er würde in priesterlicher Salbung donnern, und dabei hat er doch, das weiß ich ganz bestimmt, ein uneheliches Kind mit einem Hausmädchen, damals als er Kaplan auf Falster war. Ich sehe sein Gesicht deutlich vor mir, sehe sein Mienenspiel, sehe seine Augen, diese Augen, die so widerwärtig sind, fühle seine zornigen, meist von Rücksicht und Takt entblößten Bemerkungen, die tiefer verletzen und treffen als er es glaubt; ja, ich weiß wohl, daß er in diesem Fall recht hat, und hätte aufzubrausen und mit den Zähnen zu knirschen und daß er gewiß im Urteil aller anderen Menschen tausendmal besser ist als ich selbst, aber ich möchte doch trotzdem nicht mit ihm tauschen, ich will nichts von ihm als ein Gnadengeschenk annehmen, um später seine feinen christlichen Anspielungen spüren zu müssen, in denen er seine Force hat.

Leider sind ja nicht alle Menschen wie Du, es gibt ja unter hundert nicht einen wie Du, hättest Du nicht existiert, wären diese Aussprüche kaum jemand von den Meinen zu Ohren gekommen, wenigstens nicht von meiner Seite. Verbrecherische Gedanken sind ja nicht kriminell, wenn es überhaupt ein Verbrechen genannt werden kann, zu hassen, aber jetzt will ich nicht mehr darüber sprechen, sonst könnte es kommen, daß ich allzu böse würde, als ob ich das nicht schon genug bin.

Es ist eine strenge und entsetzliche Zeit für mich gewesen, seit Du zuletzt von mir hörtest, endlich kann ich nun das Ende dieses geistigen Begräbnisses absehen, indem ich Montag meine Strafe verbüßt habe. Meine arme O ... , die so lange auf mich gewartet hat. Verreisest Du? Ich hoffe vorher noch ein paar Worte von Dir zu erhalten. Grüße Binse und drücke ihre liebe Person in meinem Namen an Deine dito. Grüße den Garten von Frederiksberg, grüße die Lange Linie, grüße meinen »Bruder« Gunnar

von seiner reuevollen
›Mette‹.«

Helsingör, den ... 18 ...

»Lieber Gunnar!

Ich kann nicht zu dem Mann reisen, von dem ich früher gesprochen habe, da es mir nachher eingefallen ist, daß er gewiß aus Hamburg verzogen ist, seit ich ihn kannte, und vorher wußte ich seine Adresse auch nicht genau –, aber ich weiß nicht, ob Du meinst, daß ich wieder einmal an meinen alten Prinzipal in Zinten schreiben sollte? Er hat sich mir ja öfter gut und freundlich erwiesen, ob er mich jetzt aufnehmen oder etwas für mich tun könnte? – Sonst hätte ich die Absicht, aufs Geratewohl nach Deutschland zu reisen, wenn es sich nicht lohnen sollte, hier zu bleiben; – wenn doch nun die Möglichkeit vorläge, irgendeine Arbeit in Kopenhagen zu bekommen, weshalb sollte ich sie da nicht nehmen?

Jedenfalls muß ich in die Stadt, glaubst Du, ich kann sie und die, die mir lieb sind, verlassen? ohne die Betreffenden zu sehen oder von ihnen Abschied zu nehmen, ehe ich reiste? Und gesetzt, ich könnte die Verbindung zwischen mir und O ... zustande bringen jetzt im Laufe des Winters, trotzdem gegen den Willen der Tante »Constance«? Aber ich gebe Dir doch recht, das Vernünftigste wäre es vielleicht, das Ausland aufzusuchen, wenn auch nur, um dort die Gemütsruhe wiederzufinden. Ja, ich weiß nicht, wieviel Geld ich zur Reise brauche, sollte es der Fall sein, daß ich aufs Geratewohl reiste, müßte ich wohl mindestens an die fünfzig Kronen haben.

Gefällt Dir der Vorschlag, nach Zinten zu schreiben, so bitte ich Dich, in meinem Namen zu schreiben, vergiß nicht, es ist Ostpreußen – übrigens würde ich ja leicht eine Stellung in Deutschland erhalten können, wenn ich vorher in der Deutschen Zeitung annoncierte, die ich, wie Du Dich wohl entsinnst, einmal hielt. Mit Geld kann man ja alles erreichen, damals als ich die Zeitung hielt und darin annoncierte, erhielt ich ja massenhaft Angebote, meinst Du, ich sollte das Blatt auf ein Vierteljahr abonnieren und darin annoncieren? und dann ein Weilchen abwarten, das Ganze würde ja kaum zehn Kronen betragen. – –

Ich bitte Dich also noch einmal um einen Brief, ich halte es für das Richtigste, wenn Du Jesper schreibst, ich reise ins Ausland – – am allerliebsten, wie Du schreibst, reiste ich direkt von hier fort aus dem Lande, um zu sehen, ob ich diese fürchterliche Zeit vergesse – aber das kann ich nicht – das sage ich Dir bestimmt, Gunnar, ich kann es nicht, ich muß erst nach Kopenhagen, wie wir uns auch entschließen. – – –

Und dann bitte ich Dich flehentlich, komme nicht nach Hölsingör zu mir, das will ich ungern, sehr ungern haben, damit ich doch mein Äußeres ein bißchen in Ordnung bringen kann, daß ich Dir nicht wie ein Räuber entgegentrete, denkst Du an die Reisekosten, so sende mir ein paar Kronen zu dem Zweck – übrigens habe ich einen guten Menschen schon vor ein paar Tagen gebeten, meine Reise von hier nach Kopenhagen zu bezahlen, weiß aber doch nicht bestimmt, ob der Mann mir das Billett senden kann oder will. – Also komme nicht, lieber Gunnar, laß mir Zeit, meine Kleidung und mein Äußeres zu ordnen, ehe ich Dir begegne, laß mir Zeit, mit meinen Gedanken ein Weilchen im Freien allein zu sein, darum bittet innig Dein

dankbarer Vetter Benjamin.«

Dienstag, Mittags zwölf Uhr, den ... 18 ...

»Lieber Gunnar!

Ich verließ den Zug in »Holte«, ich kann nicht in die Stadt fahren, ehe Du mir heute umgehend auf dieses geantwortet hast. – Du schriebst, wie ungern Du es hättest, daß ich nach Kopenhagen käme, – hast Du einige Vermahnungen für mich, so sage mir nun geradeheraus welche? daß ich mich danach richten kann, ehe ich in die Stadt gehe.

Kann ich es vermeiden, Jesper zu begegnen, darum bitte ich sehr. Die frische Luft hat mir gut getan, aber meine Seele ist krank. ›Das Grab‹ wäre das einzige, wo meine Schande verborgen wäre, vielleicht würde das das Richtigste sein, indessen erwarte ich Deine Antwort heute, wenn Du gleich schreibst, kann ich sie vor Abend haben, in der Zwischenzeit gehe ich nach »Havarthigaard« – schicke Deine Antwort mit der Adresse so: –

Herr Warberg,

Lyngby Station.

Ich habe mit dem Postvorsteher in Lyngby gesprochen, komme selbst gegen Abend nach der Antwort.

Dein
Benjamin.«

Kopenhagen, Mittwoch, den ... 18 ...
Viereinhalb Uhr nachmittags.

»Lieber Gunnar!

Deinen Brief erhielt ich doch erst heute morgen, aber das machte gar nichts aus – ich war froh, als ich ihn erhielt, froh, als ich den Inhalt las. Du bist und bleibst ja der beste Mensch, den ich gekannt habe, wenn ich bloß ebensoviel von Jesper halten könnte, aber das ist mir eine Unmöglichkeit.

Die Nacht verbrachte ich im Walde von Sorgenfrei, es war ein bißchen kalt, und Du kannst glauben, es gab einen Kampf in meinem Innern, den ich nicht noch einmal erleben möchte – zuletzt siegte ich jedoch, und als die Sonne aufging, scheint es sich auch in meinem Innern ein wenig aufzuklären – ich habe Grund, nicht allein an das Geschehene, sondern auch an das »Nachspiel« zu denken, ich würde ja verhärtet sein, wenn ich dies leicht nähme, als ob es Bagatellen wären – das würdest Du doch auch nicht richtig finden? An einem der ersten Nachmittage zwischen zwei bis vier Uhr komme ich zu Dir.

Dein Benjamin.«

Aber es kam kein Benjamin. Erst nach vierzehn Tagen lief ein aus London datierter Brief von ihm ein; er war auf dem Wege nach Amerika. »Das ist das beste für mich, Gunnar, in der alten Welt habe ich meine Rolle ausgespielt.«

Nach drei Jahren erhielt Warberg dann folgendes Schreiben:

Neuyork, Sonnabend, den ... 18 ...

»Mein teurer lieber alter Freund und Vetter!

Noch lebe ich heute, aber morgen kann ich tot sein. Aber ich will doch vorher an den Menschen schreiben, dem ich mich eine Reihe von Jahren hindurch am meisten angeschlossen und den ich schätzen und lieben gelernt habe. –

Ja, Du, ich bin krank, bedenklich krank, soll nachmittags ins Krankenhaus gefahren werden, und wer weiß, ob ich lebend wieder herauskomme? Einen letzten Brief sollst Du deshalb haben, mein liebster Freund. Ja, auch Du weißt, daß Du der bist, den ich von meiner Familie am liebsten habe. Wir haben das Leben in derselben Perspektive gesehen, gemeinsame Interessen, gemeinsame Gewohnheiten gehabt, und unsere Sym- und Antipathien sind gemeinsam gewesen und dann, was der Freundschaft von meiner Seite Dir gegenüber die Krone aufsetzte, war Dein nobles, feines und durchaus einzig dastehendes Benehmen mir gegenüber in Kopenhagen und besonders bei der Katastrophe in Helsingör kurz vor meiner Abreise nach Amerika. – –

Wer anders als Du könnte derselbe liebevolle, gute, liebenswürdige Freund bleiben? Ein anderer hätte gescholten, geflucht und gerast, wogegen Du derselbe warst wie immer, der durchweg Taktvolle und Feinfühlende. – Ist es da ein Wunder, daß ich Dich liebhabe und Dir dankbar und ergeben bleibe bis zum letzten Tage, den ich noch zu leben habe. –

Ich habe mir eine Blutvergiftung zugezogen, wie, kann ich nicht begreifen. Der linke Arm und die linke Hand und das rechte Bein sind angeschwollen und die Schmerzen sind groß. Ich merkte es gestern abend, nahm aber keine Notiz davon, bis ein Arzt kam und die Wirklichkeit konstatierte. Vielleicht ist Heilung möglich, aber ich muß auf das Schlimmste vorbereitet sein.

Auf alle Fälle will ich Dich bitten, bei den wohlhabenden Mitgliedern meiner Familie ein gutes Wort einzulegen, mir eine kleine Summe Geldes zu senden.

Ich besitze nichts, habe keine Arbeit gehabt, seit Du im Sommer von mir hörtest. Ich möchte so gerne ein bißchen anständig begraben werden. – –

Ja, es ist seltsam, dem Ausgang seines Lebens gegenüberzustehen, ohne doch Furcht zu empfinden. Ich sterbe ohne an irgendetwas zu glauben, ich kann ›die Heiligen‹ nicht vertragen, ich habe im letzten Jahre viel mit ihnen verkehrt und habe versucht, mich mit ihren Ideen und ihrem Kurs zu versöhnen, aber sie sind mir direkt widerwärtig, ich habe gar keine Luft holen können, wenn ich in eine Kirche oder in eine Mission trat. – Ein guter Mensch ist der, der seinen Nächsten liebt und der so große Liebe erzeigt, daß er sein Leben für einen anderen einsetzen könnte, das ist meine Religion.

Ich will Dir eines sagen, sterbe ich, so verlierst Du einen guten Freund, aber im übrigen die Welt nichts an mir – das Leben hat absolut keinen Wert für mich mehr nach dem Kampf der letzten Jahre. – Und doch, vielleicht muß ich es von neuem aufnehmen, alles schwebt ja in Ungewißheit zwischen Leben und Tod. –

Leb wohl, mein alter treuer Freund.

Dein bis zum letzten Augenblick dankbarer Vetter Benjamin.«

Vierzehn Tage »einfaches Gefängnis bei gewöhnlicher Gefangenenkost«, so lautete das Erkenntnis des Oberappellationsgerichtes.

Warberg erwartete, daß augenblicklich ein Regiment Polizeibeamte kommen und ihn abholen würden. Aber es verstrich eine Woche, es verstrichen anderthalb Wochen und er verspürte nicht das geringste von den Behörden.

Vielleicht bedeutete dies eine feine Aufmerksamkeit. Aber dies Warten hatte nur die Folge, daß der Verbrecher mit jedem Tage, der verstrich, nervöser wurde. Er konnte sich kaum auf der Straße zeigen, da er in jedem Augenblick erwartete, daß schwere Hände sich ihm auf die Schultern legen und ihn davonschleppen würden.

Da ging er eines schönen Tages selbst zum Rathause, um zu fragen, was denn das heißen solle.

Dort oben lächelte man verschmitzt und sagte:

»Na, sind Sie da?«

Und man verwies ihn an den Inspektor der Sittenpolizei, was einen tiefen Eindruck auf ihn machte.

Bei diesem Beamten wurde er mit demselben Lächeln und derselben Frage empfangen.

»Na, da haben wir Sie? Wann haben Sie gedacht, Ihr Engagement anzutreten?«

»Je eher, je besser!«

»Gut, dann sagen wir also morgen nachmittag um vier Uhr!«

Und es wurde ihm erlaubt, Tinte, Feder, einen Löffel und einen Stuhl mitzubringen.

»Wir sind nicht so hart wie wir aussehen!« nickte der Inspektor und übergab Warberg einen versiegelten Brief, der ihm freien Zutritt zu dem Etablissement sichern sollte ...

»Zum Gefängnis von Kristianshavn, Eingang Prinzessegade!«

Der Kutscher drehte sich auf dem Bock um und warf einen forschenden Blick auf Gunnar, der sich mit seinem kleinen Handkoffer in die Droschke gesetzt hatte.

»Zum Gefängnis?«

Sie fuhren die Raadhusstraede entlang, über den Schloßplatz von Kristiansborg, an der Börse vorbei und über die Knippelsbrücke, Gunnars altem Schulweg, als er in der Villa hinter den Seen wohnte – vor einem Menschenalter! Die Sonne schien, die Luft war hoch und klar, und es lag eine feine Schneeschicht auf den Dächern der Häuser und in den Ecken und Winkeln der Straßen. Die Menschen sahen fröhlich und vergnügt aus, die Pferde der Straßenbahnen läuteten mit ihren Glocken, und Warberg dachte unwillkürlich, daß es eine Lüge sei, daß er jetzt ins Gefängnis führe.

Endlich bog der Wagen in die Prinzessegade ein und hielt vor dem Torwege des Gefängnisses. Warberg stieg aus, bezahlte den Kutscher, der bedächtig sein Fahrzeug umlenkte und fortrollte.

Dann läutete Gunnar und gab den Brief ab, den er im Rathause von dem Inspektor erhalten hatte.

»Hier werde ich wohl eine Weile bleiben müssen«, sagte er zu dem Pförtner, der ihm öffnete.

»Wollen Sie warten?«

Er setzte sich auf eine Bank im Vestibül. Und wieder kam es ihm vor, als ob das ganze Ereignis: der Prozeß, die Verurteilung und jetzt die Verhaftung ihn nichts anginge, ihn persönlich, sein allereigentlichstes Ich nicht berührte.

Es war, als betrachtete er die ganze Geschichte aus der Vogelperspektive von einem frei schwebenden Ballon aus; die Erscheinungen da unten interessierten ihn, und er war gespannt auf die Fortsetzung, wie wenn man einen richtigen Roman liest oder ein vernünftiges Theaterstück sieht, in dem etwas geschieht!

»Wollen Sie, bitte, mitkommen.«

Der Pförtner stand oben an einer Glastür im Hintergrunde des Lokales und winkte ihm zu. Und Warberg nahm seinen Koffer und folgte ihm.

Sie betraten eine Art Kontor, in dem einige Männer an einem Pult saßen und schrieben; und dort am Fenster stand eine pastorenähnliche Gestalt mit über dem Bauch gefalteten Händen. Alle hatten sie ein neugieriges Lächeln in den Augen, mit Ausnahme des Pastors, der durch und durch schwarzgraue Düsterkeit war.

»Sie sind Herr Gunnar Johannes Warberg?« fragte der Älteste der am Pult Sitzenden.

»Ja.«

»Wollen Sie so gut sein, Ihre Taschen zu entleeren.«

Gunnar lächelte und entleerte sie.

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen«, fuhr der Mann fort, »daß Sie, sobald Sie in Ihrer Zelle angelangt sind, ausgekleidet und untersucht werden, daß es also zwecklos wäre, wenn Sie irgendetwas bei sich behielten.«

Gunnar fuhr unwillkürlich mit den Händen auf den Boden seiner Taschen und fand eine Nagelfeile, die er neben die übrigen Sachen legte.

»Ist das alles?«

»Ja.«

»Sie möchten wohl sehr gern Ihr Messer behalten, da Sie sich sonst oben mit einem hölzernen begnügen müßten?«

»Ja, danke, das möchte ich freilich gerne ...«

»Aber Sie müssen versprechen, weder sich selbst noch zum Beispiel mich damit zu verletzen, wenn ich hinaufkomme und nach Ihnen sehe.«

»Jawohl«, sagte Gunnar lachend. Der Mann gefiel ihm, denn es blitzte stets ein Schelm in seinen Augen.

»Stecken Sie dann die Sachen wieder in Ihre Taschen. Das heißt Portemonnaie und Brieftasche behalten wir. Sie brauchen ja vorläufig kein Geld. Das Reinigen Ihrer Zelle wird von einem der Mitgefangenen besorgt, den Sie mit einer kleinen Summe wöchentlich bedenken können, jedoch nicht über fünfzig Öre.«

Der Inspektor (Warberg erfuhr später, daß dies sein Titel war) drückte auf einen elektrischen Knopf, und gleich darauf trat ein Mann ein. Er trug ein ungeheures Schlüsselbund in der Hand.

»Wollen Sie diesen Gefangenen nach Flur eins expedieren und ihn an Hansen, Zelle Nummer vierundfünfzig, abliefern.«

»Jawohl.«

»Nehmen Sie seinen Koffer.«

Der Mann nahm den Koffer, den einer der anderen Bürobeamten und seine Ehrwürden, der Prediger, untersucht hatten.

»Es kommt noch ein Stuhl für mich«, sagte Gunnar, »und ein kleiner Tisch.«

»Ich weiß«, nickte der Inspektor. »Die Sachen werden Ihnen hinaufgebracht, sobald sie da sind ... Nun sind Sie fertig ... Es ist wahr, Christophersen, sagen Sie Hansen, daß der Gefangene nicht untersucht zu werden braucht.«

»Jawohl.«

»Ich werde schon hinaufkommen und sehen, wie es Ihnen geht, Herr Warberg«, fuhr der Inspektor zu Gunnar gewandt fort. »Und haben Sie eine Beschwerde, so können Sie den Wärter bitten, daß er Sie hier ins Büro führt ... Adieu! ... und schlafen Sie gut!«

»Danke«, nickte Gunnar und folgte Christophersen, der mit dem Koffer voranging.

Treppauf und treppab trabten sie und durch lange halbdunkle Gänge mit Türen an den Seiten und Fenstern hoch unter der Decke, über gepflasterte Korridore und dann Flure und Treppen und dann wieder Flure; und vor jeder Treppe und jedem Gang und jedem Korridor waren Schlösser, die Gunnars Begleiter öffnete und mit Schlüsseln von den verschiedensten Formen wieder sorgfältig verschloß.

Die armen Menschen hier drinnen, die Lust bekommen könnten, auszubrechen, mußte Gunnar unwillkürlich denken. »Ist schon jemals ein Gefangener von hier fortgelaufen?« fragte er laut.

»Nicht zu meiner Zeit«, sagte Christophersen, und danach sah er auch aus.

Eine neue Tür wurde geöffnet und Christophersen stellte den Koffer hin.

»Reistrup!«

»Hier!« sagte ein Mann und trat aus der Dunkelheit heraus.

»Ein Gefangener für Hansen, Flur eins, Nummer vierundfünfzig! Wird nicht untersucht!«

»Schön!«

Und weiter ging es mit Reistrup (jetzt mußte Gunnar seinen Koffer allein tragen) treppauf, treppab, bis sie an eine eiserne Tür kamen, wo Gunnar einem neuen Schließer ausgeliefert wurde. Und wieder hieß es:

»Ein Gefangener für Hansen, Flur eins, Nummer vierundfünfzig! Wird nicht untersucht!«

Warberg hatte das Gefühl, als sei er von einer Maschine ergriffen worden, die ihn vorwärts führte, von Zahnrad zu Zahnrad.

»Kommen wir nicht bald in mein ... äh ... Gastzimmer?« fragte er.

»Hi! Hi!« lachte der Cicerone, eine kleine rothaarige, gemütliche Person. »Ja, nun sind wir gleich da! Wie lange sollen der Herr sitzen?«

»So lange der Herr Lust haben.«

»Hi, hi, Sie sind wahrhaftig anders bei Laune als die anderen alle! ... Jetzt sind wir da!«

Er öffnete eine eiserne Tür mit zwei Schlössern davor und wiederholte mit lauter Stimme:

»Ein Gefangener für Hansen, Zelle Nummer vierundfünfzig! Wird nicht untersucht!«

Sie befanden sich am Ende einer langen schmalen Galerie oder wohl eher eines Balkons, der sich durch das ganze Gebäude erstreckte. Es war im zweiten Stock. Die Galerie war auf der einen Seite von einem soliden Eisengeländer, auf der anderen von einer weißgetünchten Mauer begrenzt, in der sich breite und niedrige Türen mit großen Schlössern und starken Angeln aneinanderreihten.

Warberg stand und blickte über das Geländer in die Tiefe hinab. Es waren einzelne zerstreute Gasflammen da unten angezündet, und Männer in Kitteln gingen herum und beschäftigten sich mit rasselnden und klirrenden Eimern und Schüsseln. Alle arbeiteten sie schweigend. Gunnar mußte an die Werkstatt eines mittelalterlichen Alchimisten oder eines modernen Falschmünzers denken.

»Wollen Sie so gut sein, mir zu folgen«, sagte plötzlich eine tiefe Stimme dicht an seinem Ohr.

Gunnar wandte den Kopf und sah einen großen kräftig gebauten Mann neben sich stehen, der ein ungeheures, an einem Ledergürtel hängendes Schlüsselbund trug.

»Heißen Sie Hansen?«

»Ja ... Wollen Sie gefälligst mitkommen, dann werde ich Ihnen Ihre ...«

Es war, als ob es dem Mann peinlich sei, das Wort »Zelle« auszusprechen.

Warberg blickte lächelnd zu ihm auf, aber der Mann verzog keine Miene. Es war ein Gesicht, dessen sich ein Gefängniswärter vom seligen »Blauturm« nicht zu schämen gehabt hätte: hart, blaßgelb, eckig und unbeweglich. Aber nie mehr konnte Gunnar die Augen des Mannes vergessen. Sie sagten, daß seine ganze wuchtige Gestalt, seine derben Glieder und sein steifes knochiges Gesicht logen. Diese Augen waren so klar, milde und schwermütig wie die Augen eines brustkranken Kindes.

»Wir müssen hier hinauf«, sagte er und nahm Warbergs Koffer.

Und sie gingen die Galerie entlang, an den vielen verschlossenen Türen vorbei. Bei der vorletzten blieben sie stehen, er setzte den Koffer ab und öffnete die Tür.

»Bitte!«

Warberg trat ein und der Gefängniswärter schloß hinter ihm zu ... Seht ihr, das war ja sehr feierlich, all dies! Doch als Gunnar sich umsah, mußte er lächeln, denn er schien sich in einer freundlichen Milchkammer eines kleineren Landgutes zu befinden: vier nackte ockergelbe Wände, Fliesenfußboden und hochsitzendes rundbogiges Gitterfenster. Das Mobiliar bildeten anstelle der Kübel ein kleineres in die Wand eingelassenes Brett, das war der Stuhl, und daneben, eine halbe Elle höher, war ein größeres Brett eingemauert, das war der Tisch. Und dann hing ein Bett an der entgegengesetzten Wand, und in der Ecke hinter der Tür war ein Wasserhahn über einer eingemauerten Waschschüssel. Punktum.

Warberg stand mitten in der Zelle, mit Hut und Überrock (den Stock hatte man unten im Büro behalten); er stand und blickte sich ernsthaft und tiefsinnig im Lokal um. Aber plötzlich begann ihn ein stilles und unwiderstehliches Zittern zu durchlaufen; es fing zuerst unten im Magen an und arbeitete sich dann nach und nach hinauf. Hätte man ihn von hinten gesehen, man hätte geglaubt, er schluchze. Aber es war Lachen, ein lautloses, glucksendes, unbezwingliches Lachen! Er fand die Situation so ganz unbändig lächerlich! Da hatte man ihn in eine Milchkammer eingeschlossen, in das »schwarze Loch« gesteckt, in die Ecke gestellt, wie man es mit unartigen Kindern tat. Du Allmächtiger, daß man auch nur einen Augenblick hatte glauben können, ihn dadurch zum »Ernst« und zum »Nachdenken« zu bringen! Aber das glaube man ja auch nicht, denn sie lachten ja allesamt mit; rings in den Büros oben im Rathause hatten sie mit drei bis vier Schelmen im Auge gesessen; und hier draußen waren sie auch verschmitzt. Und er selbst war derjenige, der die Sache am wenigsten au sérieux nahm, davon konnten sie überzeugt sein!

Und um seine Lebensfreude zu manifestieren, erfaßte er die beiden vorderen Zipfel seines Überrocks und begann auf dem Fliesenboden der Milchkammer eine Mazurka von zwei Schritten zu tanzen.

 


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