Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Aber nun stand Gunnar wieder im vierten Stock der Valdemarsgade, an dessen linker Tür die Karte mit Tage Banner, stud. jur. angebracht worden war, die sich einst an der fröhlichen Mansarde auf dem alten Kongevej befand.

Er läutete, es ertönten schleppende Schritte im Korridor. Die Tür ging auf, und Witwe Petersen zeigte ihr freundliches, etwas müdes Gesicht!

»Sind Sie es, Warberg! Guten Tag, guten Tag!« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ja, sie ist ein bißchen naß«, sagte sie. »Ich bin gerade beim Aufwaschen. Die Mädels sind weggegangen.«

Warberg drückte ihre feuchte rote Pfote:

»Na, Frau Petersen, wie geht's uns? Lieben Sie mich noch?«

»Ja – a, manchmal«, nickte die Frau. »Ach, es geht übrigens so schlecht mit meinem Kopf, Warberg.«

»So – o? Das ist traurig! ... Ist Tage zu Hause?«

»Gott, wissen Sie das nicht?« sagte sie und lebte merkwürdig auf bei dem Gedanken, daß sie eine Neuigkeit zu erzählen habe, »wissen Sie das nicht? Tage wohnt nicht mehr hier.«

»Was tut er nicht? – Seine Karte steckt ja da an der Tür.«

»Ja – a, ja, er hat auch noch seine Zimmer hier ... Aber, bitte, kommen Sie herein, Gunnar ... ja, ich sage Gunnar, das bin ich doch von den Mädels so gewöhnt, und Sie sind ja auch halb und halb mein Pflegesohn!«

»Ja, natürlich, geliebte Frau Petersen, sagen Sie nur Gunnar!« Warberg ging durch den Korridor in das Wohnzimmer der Familie. Und hier begann die Frau nun zu erzählen, daß Tages Husten sich verschlimmert, und daß der Doktor gesagt hätte, er solle zu Bett gehen, und daß es eine langwierige Geschichte und »gefährlich« werden würde. Und Frau Petersen könnte es bei Gott nicht schaffen, noch seine Pflege mit zu übernehmen; sie hatte doch ihren Kopf und ihre »eigenen«. Und zu Hause bei der Mutter machten doch die Kleinen immer solchen Lärm, und da hatte Tages Traute ...

»Braut!«

»Was sagen Sie, Warberg?«

»Braut, sage ich! Sind Sie auch von dem Quatsch mit der ›Trauten‹ angesteckt worden – –?«

»Aber, Herrgott, Warberg, darüber braucht man doch nicht wütend zu werden! und dann finde ich wirklich, daß Traute so schön ist; das hat was Poetisches an sich. Und wissen Sie, Gunnar, die Poesie ...«

»Jawohl, ja, geliebte Frau ... Aber wo ist denn nun Tage geblieben?«

»Er ist in die Villa der Professorin nach Ordrup gebrach! worden, damit die Trau ... ä ... die Braut ihn selbst pflegen kann. Finden sie nicht, daß das von ihr reizend ist?«

»War er denn wirklich so krank?«

»Ja–a, der arme Tage! Oh, er hustete! Aber weshalb sind Sie auch solange nicht hier gewesen? Ich glaube nicht, daß er es übersteht; die eine Lunge ist angegriffen.«

»Hat das der Arzt gesagt?«

»Ja ... Und in der Familie ist ja die Brustkrankheit erblich ...«

»Das könnte Ihrem Herrgott wirklich ähnlich sehen, ihn totzuschlagen!«

»Aber, Gott, Warberg, ich bitte Sie! Sie sind ein fürchterlicher Mensch!«

»Ja, aber finden Sie denn nicht, daß es sinnlos ist, diesen lebensfrohen und vergnügten Burschen totzuschlagen?«

»Es ist doch schrecklich, wie Sie sich ausdrücken, Gunnar! Wir müssen doch kommen, wenn uns der Herr ruft. Sie wissen, ich habe immer große Stücke auf Sie gehalten, aber Christ sind Sie nicht!«

»Nein.«

»Ja, aber, das müssen wir doch allesamt sein, Warberg.«

»So – o, wer sagt das?«

»Wer das sagt! Aber, Gott, das tut doch wirklich unser eigenes Gewissen!«

»Dann habe ich keins! ... Na, adieu, Frau Petersen!«

»Wollen Sie nicht warten und den Mädels guten Tag sagen? Sie sind nicht weit gegangen.«

»Ich pfeife auf Ihre Mädels!«

»Heute sind Sie doch ganz und gar toll!«

»Jawohl ... Und bitten Sie Ihren Herrgott, mit Tage ein bißchen manierlich umzugehen!«

Gunnar lief durch den Korridor und schlug die Tür hinter sich zu.

Aber langsam ging er die Treppen hinab und auf die Straße.

So, nun mußte Tage sterben? ... Ja, weshalb nicht! Es ging ihm natürlich zu gut ›hienieden‹, er war zu glücklich. Und die Götter sind ja neidisch ... die Teufel!

Und er fühlte einen schweren erdrückenden Kummer auf sich niedersinken, den Kummer darüber, ein Mensch zu sein. Es war wie eine physische Last, wie eine Lähmung, die alle Glieder bleischwer machte. Er ging krumm wie ein alter Mann.

Aber plötzlich richtete er sich mit einem Ruck in die höhe und drohte mit seinem Stock in die Luft, daß das Sonntagspublikum ihn für betrunken hielt:

»Nee, nee«, murmelte er, »nicht sentimental, alter Freund! Die Freude wollen wir Vater Zeus doch nicht machen! Komm nur her, du uralter Hampelmann der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Güte!«

Gunnar machte einen langen Spaziergang durch die Vesterbrogade und Söndermarken und zurück durch den Frederiksberggarten und die Allee, ehe er sich zum Frühstück bei Heins einfand.

Es war ein schweres tristes Herbstwetter mit plötzlichen Windstößen und wirbelnden Staubschichten. Die sonntagflanierenden Herren und Damen hatten sich in Winterkostüme gesteckt und schritten rasch aus, die Hände in den Rocktaschen oder in kleinen schleifengeschmückten Muffen. Nur einzelne junge Frauen flatterten noch im Schmetterlingsgewande dahin, leichtsinnig an Seele und Leib. Und viele Blicke folgten ihnen.

Söndermarken lag leer und kahl, mit welkem raschelnden Laube auf allen Wegen. Zuweilen fuhr ein Windstoß heulend durch die Bäume herab, fegte einen Haufen Blätter zusammen, wirbelte sie in wahnsinnigem Tanz über die Rasenplätze und schleuderte sie gegen einen Busch oder einen Baum, daß die Blätter sich wieder zischelnd und raschelnd nach allen Seiten verstreuten.

Im Garten von Frederiksberg war es wärmer und nicht ganz so öde. Man hörte Plaudern und Singen und das Lachen fröhlicher Kinder. Warberg ging um die Quelle herum, wo die Kuchenfrau noch an den Sonntagen ihr Standquartier aufgeschlagen hatte mit ihren Lebkuchen, Zuckerstangen und den kleinen knorrigen Biergläsern, die sie für zwei Öre an durstige Seelen verlieh. Er setzte sich auf die Bank vor den Kanal, und blickte über den wilden Wein hin, dessen wachsgelbe und blutigrote Blätter wie bunte Lampen zwischen den graubraunen Zweigen der großen entblätterten Esche hingen. Sie spiegelten sich leuchtend im Wasser des Kanals, diese Blätter, und ab und zu löste sich eines oder zwei auf einmal von ihrem Stengel und senkten sich wiegend und schnurrend durch die Luft zur Erde.

Und er mußte wieder an Tage Banner denken, mit dem er oft an warmen ruhigen Sommerabenden hier gesessen und über alles Mögliche zwischen Himmel und Erde gesprochen hatte: über Leben und Tod und Frauen und Liebe, über Vorbereitung zum Philosophicum und den Preis für Tabak und Zigarren.

Und hier draußen war es, wo Tage eines Abends in jugendkräftiger Uberhebung und Freude am Leben gesagt hatte: daß es ein heller Unsinn wäre, das mit dem Sterben! Wenn auch alle anderen sterben müßten, er, Tage Banner von Gottes Gnaden, er würde ewig leben!

Und nun lag er wohl müde und hilflos auf seinem Lager draußen auf dem Lande, unbeholfen, Frauen und Priestern preisgegeben! Denn mit Frauen und Priestern geht es wie mit Raben und Krähen: Sie wittern Leichen! Nein, nein und abermals nein! Sterben mußte man, das war sicher und gewiß; aber wenn die Stunde sich näherte, dann sollte man in seine Höhle krabbeln, seine Tür schließen und nach seinem Revolver greifen, auf daß nicht Vater Zeus und seine ganze aufgeblasene Sippschaft von Weibern und Priestern Gelegenheit bekäme, sich damit zu brüsten, das Sprungbrett zurechtgelegt zu haben zum »letzten großen Sprung«. Einsam muß man sterben wie man einsam gelebt hat.

 


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