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X.
Und Gott begrub ihn

Am dritten Tage, als Frau Martha angekommen war, schlossen sie den Sarg und senkten ihn im Park in die Erde, wo die Grabsteine des Bulckschen Geschlechtes standen. Reimarus sprach die letzten Worte über dem toten Leibe und warf die feuchte Erde hinunter. Der Regen rann in sein weißes Haar und legte die Strähnen über seine gefurchte Stirne, und seine Stimme, weithinhallend zu Anfang, wurde so leise, daß der Regen sie überrauschte. Er lobte Gott nicht und klagte ihn nicht an. Er sagte nur, daß das Leben furchtbar sei und daß der Tod ihm nicht nachstehe. Nun sei der Kelch geleert und eine neue Sonne gehe auf, über neuem Leben und neuem Sterben. Und er möchte wünschen, daß diese Sonne in seine gebrochenen Augen sehe. Denn sie seien bis zum Rande erfüllt vom Leid seiner Jahre und trügen keine Sehnsucht, das neue Gras in diesem Parke zu erblicken.

Darauf saßen sie in dem großen Hause, ein zerfallenes Geschlecht, dessen letzte Verheißung sie begraben hatten.

»Wie wollt ihr mich richten?« fragte Andreas, von einem zum andern blickend. »Ihr wißt nun, daß ich sein Mörder bin und was er gelitten hat. Ich wollte ihn aus dem Paradiese schleppen. Da verbarg er sich, wo meine Hand ihn nicht erreichen konnte. Nicht ihn hatte Gott mit Blindheit geschlagen, o nein. Er war sehender als ich.«

»Andreas,« bat Bulck, »laß doch dieses Grübeln. Du hättest ihn vielleicht nicht anrufen sollen, das war das einzige. Aber du wirst doch nicht glauben, daß ein Kind von selbst in den Tod geht?«

»Glauben?« lächelte Andreas. »Wenn ich alles so wüßte wie dieses, dann wäre das Leben mir leichter. Und jeder von euch weiß es ebenso. Ihr habt nur Mitleid mit mir, das ist es.«

»Du müßtest in ein Sanatorium gehen,« sagte Martha ruhig. »Und danach müßtest du pflügen und säen bei deinem Jons, oder du müßtest wieder Pfarrer werden. Es mag eine schöne Sache um Gott sein, aber er ist auf dem besten Wege, den Rest deines Lebens zu verderben. Ein Sonderling kann noch ganz liebenswürdig sein, Andreas. Ich brauche dich nicht daran zu erinnern. Ein Narr wird schon lästig, aber einen Besessenen sperren die Menschen ein, und man kann nicht sagen, daß sie unrecht daran tun.«

»Du hast dich wenig verändert, Martha,« erwiderte er grübelnd.

Sie lächelte statt einer Antwort und nahm ihre Wanderung von neuem auf.

»Was sollen wir tun?« fragte Reimarus.

Aber niemand antwortete. Noch immer strömte der Regen draußen auf welkende Wipfel. Der Wind strich ruhelos um das Haus, und Treppenflur wie Gebälk waren erfüllt von den Tönen, die in alten Häusern zur Nachtzeit umgehen.

Frau Martha blieb stehen und lauschte. »Furchtbar,« flüsterte sie fröstelnd. »Wie furchtbar …«

Als sie zur Ruhe gingen, blieb Andreas noch einmal an der Türe stehen. »Da ihr mich nicht richten wollt,« sagte er, »muß ich selbst den Weg des Gesetzes gehen. Nicht so, wie ihr denkt. Damit wird nicht ausgelöscht. Aber Gott hat mich nun für immer von den Menschen ausgestoßen. Er will nicht, was ich will. Er will immer das andere. Er will nicht, daß wir erlösen mit unsren plumpen Händen. Und ich werde nun gehen, um das andere zu suchen.«

Er war nicht erstaunt, daß Martha ihm in sein Zimmer folgte. Sie legte sich auf das Ruhebett, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände im Nacken. So sah sie zur Decke empor, aus deren Dunkel das Lampenlicht einen hellen Kreis schnitt. Das Rauschen der Nacht war hier stärker vernehmbar, und das Lied des Todes klang deutlicher über den verlassenen Garten.

»Setze dich hier zu mir, Andreas,« begann sie, »damit ich dich sehen kann. Ich fahre morgen wieder zurück, und es war wohl das letztemal, daß ich hier gewesen bin. Da haben wir ja wohl noch einiges zu besprechen … Wie du dich verändert hast, Andreas. Damals lag es nur in den Augen, aber jetzt hat es alles ergriffen, das ganze Gesicht. Sogar die Hände. Merkst du, was sie für sinnlose Bewegungen machen? Dies Zusammenlegen und Wiederlösen der Finger? Das war damals noch nicht … Man könnte dich wohl bedauern, aber dann muß man dich wieder ein klein bißchen verachten. Wirklich, Andreas. Du hast mich immer für schlecht gehalten, ›verworfen‹ wirst du es wohl genannt haben. Auch das war einer deiner großen Irrtümer, an denen du so reich bist. Du hast die Tiere immer geliebt und hast nie gewußt, daß die Frauen meiner Art ihnen so nahe stehen. Nicht nur in der Liebe … nun laß nur, Andreas, ich bin ja immerhin deine Frau, und auch wir haben unsern Sündenfall gehabt. Leider nur einen. Denn die Sündenfälle sind doch das Schönste auf der Erde. Ja, ich denke nun, daß wir uns scheiden lassen, Andreas, nicht wahr?«

»Wir sind geschieden, Martha.«

»Gott ja, du legst deine ethischen Belastungen in jedes Wort, aber die Welt braucht ihre Worte ohne solche Belastungen. Ich brauche Freiheit auch von diesen Dingen. Und du selbst? Du trägst ja nicht einmal den Ring mehr.«

»Ich bin in einen andren Ring geschlossen …«

»Ja, da magst du wohl recht haben … also ich nehme an, daß du einwilligst. Schön, Andreas, ich danke dir … du möchtest wohl nun wissen, was ich für ein Leben führe, aber das wirst du doch nicht verstehen. Du glaubst, daß Gott in mir gestorben ist? O nein, er ist in mir lebendiger vielleicht als in dir, nur daß es ein anderer Gott ist, aus längst vergangener Zeit. Hast du einmal von Astarte gehört? War sie schlechter als dein Jehova? Siehst du, es sind immer nur die törichten, menschlichen Maßstäbe, die den Wert der Dinge verändern. Glaube mir, Eva ist gelungen, was nicht einmal Christus gelungen ist: die Erlösung des Mannes. Erst die Pfaffen haben daraus den Sündenfall konstruiert.«

»Du darfst nicht so sprechen, Martha. Hörst du nicht, daß der Regen auf sein Grab fällt?«

»Ach, das arme Wurm. Laß ihm doch seine Ruhe. Du hast noch immer nicht begriffen, daß die Kinder der Fluch der Welt sind. Daß sie den alten Brei immer in neue Töpfe schütten. Der bethlehemitische Kindermord war gar nicht so dumm, wie du glaubst. Aber ihr macht immer nur den Anfang, und vor dem Ende graut euch. Und die Pfarrer zumal! Sie stöhnen über das irdische Jammertal, aber ihre Frauen bringen ein Dutzend Kinder zur Welt und setzen dann in die Zeitung: ›Gottes Güte schenkte uns heute …‹ und so weiter. Ach nein, Andreas, die Erlösung ist ganz anders. Laß das Feuer brennen und gieße nicht Wasser hinein. Wasser ist keine Erlösung. Zweitausend Jahre lang gießt ihr schon Wasser in die Flamme der Erde. Der Krieg hat euch gezeigt, was dabei herauskommt. Hätte Jochanaan den Mund der Salome geküßt, dann wäre die Welt anders geworden. Aber schon damals hattet ihr die Sünde erfunden, die Engel und die Teufel, den Himmel und die Hölle und was ihr sonst an geistreichen Gegensätzen habt.«

»Man soll Gott nicht vergessen, Martha, sagte der alte Gluba in der Kohlenstadt. Denke auch du etwas daran, wenn du nun allein in dein Leben gehst.«

Sie sah ihn von der Seite an. »Ich glaube, Andreas, es steht auch geschrieben, daß man den Menschen nicht vergessen soll.«

»Was meinst du damit?«

Sie lächelte schon wieder. »Ach, Andreas … gehe in deinem Leben zurück und frage dich, ob du je etwas anderes als deine Idee gesehen hast, ob du nicht immer und zu aller Zeit die Menschen an deiner Idee gemessen hast statt deine Idee an den Menschen. Du warst ein Kind und verließest deinen Vater, weil er deiner Idee nicht paßte. Du warst verlobt und hast deine Verlobte verlassen, weil sie keine Magd Gottes werden wollte. Du hast deine Frau verlassen, ohne irgendeinen Versuch, sie zu dir zu ziehen. Du hast dein Amt verlassen, weil es nicht zu deiner Idee paßte und weißt noch heute nicht, welches Opfer in der Entsagung stecken kann, im kleinsten Acker, an dem der kleine Mensch seine Pflicht tut. Und immer bist du dir als Gekreuzigter vorgekommen, statt zu wissen, daß kein Kriegsknecht grausamer gekreuzigt hat als du. Ein großartiges Kreuz hast du aus deiner Idee gezimmert, und an seine Balken hast du alles geschlagen, was dir unter die Finger kam, nur nicht dich selbst. Vater, Verlobte, Frau, und zuletzt … ja, Andreas … zuletzt dein Kind. Die Natur hast du glühender gehaßt als der finsterste Mönch des Mittelalters. Jawohl! Darf ich dich vielleicht an unsre Hochzeitsnacht erinnern, als du mich einschlossest und wegliefst? Du denkst ich bin ein Opfer meines Blutes, aber ich bin dein Opfer, Andreas, jawohl, deins allein … Und so ist dein ganzes Leben geworden, ein Zerrbild der Natur und der Natürlichkeit, und ein Muster der Heiligkeit. Und nur um eins bitte ich dich, zu deinem Besten: laß die Hand von den Menschen, Andreas. Geh zu den Tieren oder sonst wohin, zum Acker oder aufs Meer. Aber nicht zu den Menschen, hörst du? Nicht zu den Menschen. Geh schon lieber zu Gott, der deinesgleichen gewohnt sein mag … So, und nun leb' wohl. Das mußte ich dir noch sagen, bevor wir uns scheiden.«

Sie stand auf, gab ihm die Hand und ging zur Türe.

»Weshalb … sagtest du das … von den Tieren?« fragte er schwerfällig.

»Weshalb? Ohne besondere Absicht. Damit fingst du doch an damals, mit ihrer Erlösung. Und man kehrt am besten zu dem zurück, mit dem man angefangen hat. Da ist die Erlösung noch harmlos … So, nun gute Nacht … wir sehen uns wohl morgen noch einmal.«

Andreas blieb an der Stelle stehen, wo ihr letztes Wort ihn getroffen hatte. Er fühlte wohl, daß seine Stirn ihn schmerzte und daß es gut sein würde, das Pulver zu nehmen, von dem der Arzt im Lazarett ihm ein Päckchen mitgegeben hatte. Aber er war zu müde dazu. Ein Narr also … ja, das mochte wohl stimmen … aber einer, der ans Kreuz geschlagen hatte statt zu erlösen? Hatte nicht Michael etwas Ähnliches gesagt, von den Leuten, die jedes Jahr zu ihnen kamen, um zu erlösen? Er schüttelte den Kopf, einmal und noch einmal. Er fühlte seine Gedanken wie Bleigewichte durch seinen Körper fallen. Nun würde die Stirn wohl freier werden. So wohltuend war dieses langsame Seitwärtsbewegen des Kopfes … ja, eine Erlösung war es … hier war sie, die belächelte, verspottete, verhöhnte Erlösung … So stand er, die Füße bequem nebeneinander, die Hände lose herabhängend, die Schultern gebeugt, und wie eine Maschine bewegte sein Antlitz sich nach rechts und links, wobei ein ganz leiser, sinnloser Gesang sich über seine Lippen stahl. Er dachte nichts und vernahm nichts. Wie ein angestoßener Halm schwankte er hin und her, von längst verklungenem Anstoß bewegt, und sein Antlitz war so seelenleer, daß es wie eine Maske unter seiner Stirne lag.

Irgendein Geräusch im Hause erweckte ihn dann. Nun erst, wo er erstarrte, kam er zum Bewußtsein der erstorbenen Bewegung, und er fühlte den Schrecken als eine rieselnde Kälte im schmerzenden Nacken. Er ging zum Ruhebett, wobei er sich auf den Tisch stützen mußte, und legte sich nieder. Das Kissen war noch erfüllt von Marthas Parfüm, und seine Verlassenheit fiel über ihn wie der Deckel eines Sarges.

So lag er lange, ohne schlafen zu können. »Mein Gott,« flüsterte er nur von Zeit zu Zeit, »mein Gott.«

Nach der Mitternacht stand er auf, zog seinen Mantel über, löschte die Lampe und verließ das Haus. Der Regen fiel nur noch in einzelnen schweren Tropfen, und ab und zu erschien schon die Mondscheibe weit hinter auseinanderbrechenden Wolken. Die Büsche der Felder sausten im Winde, und ihre Schatten strichen weitausholend über die fahle Erde.

Andreas ging schnell, ohne der Nacht gewahr zu werden. Erst vor dem neuen Hause hielt er an und sah an den Wänden empor. Das Mondlicht erfüllte das nasse Mauerwerk mit flimmerndem Glanz, so daß das Ganze wie ein weißglühender Block zwischen den schwarzen Bäumen stand. Aber leer und grauenvoll brachen die Fensterhöhlen sich in die schimmernde Fläche, und der Schatten der Leitern hing wie Spinngewebe von ihnen nieder. »Du Traumhaus,« sagte Andreas laut. »Ich wußte nicht, daß du dasselbe bist, in dem Christus gemordet wurde.« Er sah nach der Schwelle, ob nicht die Ratten schon ein und aus liefen, aber nur das Mondlicht lag still auf ihrem Rande wie vor einer Höhle.

Er saß auf demselben Balken, auf dem Johannes gesessen hatte, das Kinn in die Hände gestützt, und starrte auf das schweigende Haus. Und in demselben Maße, in dem die Dumpfheit seiner Stirn vor der kalten Nachtluft wich, entwirrte sich das quälende Brüten der letzten Woche, und die gleiche Entzauberung begann wie damals, als er den Schlag mit der Eisenstange erhalten hatte. ›Ich kann ja nicht aus der Welt fallen,‹ dachte er fast glücklich, ›denn Gott ist die Welt, und wer könnte sich aus Gott herausstürzen wie aus einem geöffneten Fenster? Weshalb war denn mein Leben so schwer? Ich wollte wohl heraustreten, um Gott einmal von außen zu sehen, und so kam ich bis an den Rand der Welt oder ich glaubte es wenigstens. Ich wollte zu andern Menschen finden, zum Lazarus, zum Volke, zur Menschheit. Und habe mich selbst beinahe verloren. Gott wird schon wissen, was die Menschheit soll. Was habe ich ihm über die Schulter zu sehen? Hat Christus ihm über die Schulter gesehen? Er hatte nichts zu tun als zu gehorchen. Nicht wie ich will, sondern wie du willst. Er hatte nur den Kelch zu trinken. Weshalb will ich denn mehr? Genügt es denn nicht, den Kelch des Lebens zu trinken? Ich denke immer, daß jeder Mensch es tut und daß ich etwas anderes tun muß als jeder Mensch. Aber trinken sie den Kelch des Lebens? Handeln sie denn, wie er will oder nicht vielmehr wie sie wollen? Sie verschütten den Kelch, wie Tamara ihn verschüttet hat oder wie Martha …

›Nur der Pilger aus dem Strome, der die Sünde von seinen Füßen wusch, der tat, wie Gott wollte. Er sprach nicht von der Erlösung oder von der Auferweckung der Toten. Er wollte bloß gehen und auf Gott warten, weil das Kind gefragt hatte. Er war ein Armer am Geist, und doch war er wohl der Weiseste, der mir begegnet ist. Er war einer von denen, die auf den Treppen sitzen und warten, bis einer die Türe aufmacht. Ich aber, ich muß immer anklopfen, weil ich es nicht erwarten kann. Zudringlich war ich und tief gekränkt, daß Gott nicht beide Arme öffnete, um seinen zweiten Sohn zu empfangen.

›Ja, sie hat recht, daß ich meine Hand von den Menschen lassen soll. An jeder Seele habe ich herumgewaschen, die ich getroffen habe, und weit bin ich damit gekommen. Der Mond scheint jetzt auf sein Grab, und ich weiß, daß er noch im Sarge die Augen offen hat … diese furchtbaren Augen … Jehova stand in ihnen wie in einem gläsernen Tempel. Ich aber mußte anklopfen und schreien: »Komm, ich will dich erlösen. Morgen sollst du mit mir im Paradiese sein.« Da klirrte der Tempel und er starb. Er ging dahin, wo die plumpen Finger nicht mehr anklopfen können.

›Aber auch ich werde jetzt hinaustreten aus der Zeit auf einen andren Weg. Gott muß etwas andres mit mir vorhaben als das, was ich dachte. Damals als ich auf dem Moore stand und an die Sohlen meiner Füße das Ewige sich hob, da war ich ihm nahe, näher wohl als jemals. Ich hätte nicht fortgehen sollen, aber dann kam das mit dem Kranich … es war ja wieder ein Symbol, und die Symbole haben mich immer in die Irre geführt … Von den Menschen will ich wieder in die Öde kehren, und mir wird erscheinen, was mir damals erschien. Ich werde die Schuhe ausziehen, und jeder Busch wird brennen, und in jedem wird Gott sein. Und wenn nichts erscheint, wenn alles still bleibt, dann will ich denken, daß die Stille mir bestimmt ist. Oder auch das will ich nicht tun. Gar nichts will ich denken. Ich will die Sterne durch mich hindurchscheinen lassen und den Wind durch meine Adern tönen. Vielleicht will Gott nichts andres mit den Menschen. Wie haben sie gearbeitet fünftausend Jahre lang, um sich zu wärmen, zu speisen und sich totzuschlagen! Keinen Feiertag haben sie gehabt, keinen Sabbat ihrer Seele. Finster und böse sind sie davon geworden wie dort im Bergwerk. Wenn sie doch einen Feiertag haben könnten, einen einzigen! Aber sie fürchten, daß ihre Waren verderben, daß ihre Häuser nicht fertig werden, daß der Fortschritt der Menschen zu stocken beginnt. Und feiertagslos leben sie dahin. Sie vergessen, daß Gott selbst die Hände in den Schoß gelegt hat, und sie nennen träge und unnütz, wer es ihm nachtut. Auch mich werden sie so nennen, aber man soll Gott mehr fürchten als die Menschen …‹

Der Mond stand nun hinter dem Hause, dicht über dem Fichtenwald. Die glänzende Wand, des fremden Lichtes beraubt, ragte finster aus der Erde, und nur an ihrem oberen Rande floß ein schmales Lichtband wagerecht durch einen leeren Raum. Langsam stand Andreas auf, ergriff einen der schweren Hämmer, die an dem Balken lehnten, und stieg die nächste Leiter zur ersten Gerüstlage empor. Er ging auf den Brettern entlang, die den Schall seiner Tritte drohend in die Leere des Hauses warfen, bis er über der Mitteltüre stand. Vor seinen Augen lag der Stein im Ziegelwerk gebettet, in den des Hauses Name eingegraben war. Er glitt mit der Hand über die Buchstaben und fühlte, daß es ›Bethlehem‹ war, worüber er strich.

Lange stand er, den Hammer wieder in den Händen, und blickte auf die finstere Wand. Als ein helles Band schimmerte die Steinplatte aus dem Dunkel. Er glaubte die Wolken über sich hinrauschen zu hören und den Gang der verdunkelten Sterne. Er wußte, daß mehr dort vor seinen Händen lag als ein Stein oder ein Name. Es schimmerte wie ein Antlitz, gegen das er den Hammer heben sollte, um es zu entstellen oder zu töten. Ein wechselndes Licht floß verwirrend über die schattenhaften Züge, es bald in Gram und bald in Starrheit tauchend. Und aus den schmerzlichen Lippen klang Wort um Wort, sich aneinander fügend zu der Geschichte eines ganzen Lebens, und dieses Leben war von einer seltsamen, erschreckenden Vertrautheit, einer Ähnlichkeit, als habe dort ein Doppelgänger sein Antlitz durch die Mauer gebeugt und spreche in einen Spiegel hinein, aus dem die gleichen verwirrten Augen sich öffneten.

Andreas fühlte sehr wohl, daß er in dieser Stunde auf der letzten Brücke stand, die zum Menschen führte. Vor ihm stand der Name seines Lebens und Werkes auf dem Stein, und unter ihm rauschte der Strom des Unwiederbringlichen. Was in ihn fiel, tauchte nicht mehr auf und war wie ein Stein im Meere. Noch stand das Wort in der Mauer, und das Wort war Leben, und das Leben band den Menschen an Gott. Die Trümmer aber fielen in den Strom, und es gab keine Hand, die sie wiederfand. Selbst Gottes Hand würde sich leer aus dem Wasser heben.

Und doch hob er den Hammer auf gegen das Lebendige. »Ich habe mich vermessen,« flüsterte er. »Ich wollte dir das Brot zureichen, mit dem du speisest. Ich hatte vergessen, daß ich dein Knecht sein wollte, und es steht geschrieben: ›Wenn du zu deinem Knecht sagst: Tue das! so tut er es.‹ Nun tue ich es, es sei denn, daß du mich von diesem Gerüste schleuderst.«

Hart schlug das Eisen gegen den Stein, und splitternd brach die Form der letzten Erlösung. Im Inneren des Hauses stand drohend der Widerhall auf und lief vielstimmig durch die leeren Räume. Aus der Tiefe, in der Johannes die Tropfen gehört hatte, stieg eine dumpfe Klage empor bis an die letzte Mauerzinne, floß zusammen mit dem Hall der Flure und hob sich erklingend unter die Wolken. Und kaum erstarb der gebrochene Klang, so riß der nächste Schlag den dumpfen Donner des Gebäudes aus dem Schweigen der Nacht. Ja, selbst im Fichtenwalde schrie das Echo auf und schlug von Wand zu Wand bis in die fernsten Gründe, und Andreas schien es, als schrien alle diese Stimmen um Hilfe gegen den Mörder, der in ein lebendiges Antlitz schlug.

Als er zu Ende war, fühlte er den kalten Schweiß in seine Augen rinnen, und er vermochte nicht, mit der Hand über die Zerstörung zu gleiten, um zu sehen, ob sie vollständig sei. Er ging die Bretter entlang bis zu der nächsten Fensterhöhlung und setzte sich in sie hinein, den Kopf an die kalten Ziegel lehnend. Er schloß die Augen, bis sein Herzschlag nicht mehr den Schlag des Hammers wiederholte. Zu seiner Linken stand die Schwärze des Raumes, und die Hand, die er in ihn hineinstreckte, hing wie über dem Bodenlosen. Er lauschte hinunter, ob die Stimmen noch lebendig seien, die zu Gott gerufen hatten, aber alles war still außer dem Rauschen seines Blutes. Doch dann, nach geraumer Weile, als das Land im Osten sich schon unmerklich erhellte, hörte er den gleichen Ton, der sein Kind mit Grauen erfüllt hatte: den Ton von Tropfen, unregelmäßig, in wechselnden Pausen, die durch steile Schächte in unbewegtes Wasser fielen. Es war ein dumpfer und doch leise klingender Ton, wie Blut, das aus einem schon erkaltenden Körper in eine tiefe Schale fiel. Es würde weiter tropfen, vielleicht noch eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze, aber dann würde auch das aufhören. Es würde gerinnen über der Wunde, und dann würde das wahre Schweigen des Todes sein. ›Es ist wohl in den Kellern,‹ dachte Andreas, ›die noch offen stehen. Aber sollte ich nicht nachsehen, ob es nicht vom Stein herabtropft? Ja, ich muß nachsehen, so furchtbar es auch ist …‹

Aber er blieb sitzen, den Kopf noch immer an den Ziegeln und die linke Hand über der Schwärze des leeren Raumes. In seiner Narbe fühlte er die Schläge des Hammers, dumpf wie gegen ein vielfach gefaltetes Tuch, und leise begann sein Kopf sich wieder hin und her zu wiegen wie der Kopf eines betäubten Kindes. Die Finger seiner linken Hand öffneten und schlossen sich in rhythmischer Bewegung, und aus seinem abgezehrten Gesicht blickten seine glänzenden Augen starr wie die Augen eines Fakirs, der die Hände seines Gottes ergreift.

Erst als die Krähen schrien, ging er heim. Er kleidete sich in seinem Zimmer aus, wobei er die einzelnen Stücke vor seine Augen hob, ob das Blut sie nicht befleckt habe. Darauf legte er sich nieder, faltete die Hände über seiner Brust, lächelte wie ein erschrecktes aber nun beruhigtes Kind und fiel sofort in einen Schlaf von nicht zu messender Tiefe.

Als Frau Martha nach wortarmem Abschied davongefahren war und das Haus in grenzenlos scheinender Verödung zurückblieb, begann Andreas sein Testament zu machen. Er beschränkte sich nicht auf die Verfügung über sein Eigentum. Er verschrieb Jons und Grita die Pachtung als erb- und eigentümlichen Besitz und überließ seinem Schwiegervater die Bestimmung des neuen Hauses. Auch den alten Gluba und Christian vergaß er nicht. Den Hauptteil seines letzten Willens aber nahm eine kurze Niederschrift seines Lebens ein und der Wandlungen, durch die er gegangen war. Er wisse nicht, schrieb er, ob jemand diese Worte lesen werde und er sei auch weit davon entfernt, sein Leben als Maßstab oder gar als Vorbild zu betrachten. Und doch könne er sich denken, daß das Schicksal einmal die Augen eines Menschen auf diese Blätter lenken könnte, für den diese Worte eine Entscheidung bedeuten würden. Ihm sei nicht bange, daß das Schicksal nicht finden werde. Das Schicksal finde immer, wen es suche. Und vielleicht sei es möglich, daß dem anderen dadurch an Irrtum und Umweg erspart werde, was ihm selbst nicht erspart worden sei. Ob Gott den deutschen Lazarus erwecken und losbinden wolle, wisse er nicht. Ob er sich dazu eines Menschen bedienen werde, wisse er auch nicht. Nur daß er sich seiner Person nicht bedienen wolle, das wisse er nun für alle Zeiten. Er habe den Lebenslauf einer Zeitenwende durchlebt, vielleicht einer Weltenwende. Er habe ihn musterhaft durchlebt, das heißt mit Leidenschaft, Irrtum, Bekenntnis und Schuld. Er habe in einer wurzellosen Zeit ohne die herkömmlichen Wurzeln gelebt, Götter gestürzt und aufgerichtet, nach den Sternen gegriffen und am Kreuz gekniet. Es sei das Zeitalter der Propheten und auch er habe ein Prophet sein wollen. Aber am Schlusse seiner Bekehrungen könne er nichts sagen, als daß er die Schuhe ausziehen wolle, um zurückzutreten von der Erde in ein heiliges Land. Und er glaube nicht, daß ein Mensch seines Jahrhunderts mehr tun könne als dieses.

An einem hellen Herbstmorgen zu Ende des Oktober ging Andreas Nyland von den Menschen. Er hatte ein Bündel auf dem Rücken und einen Stab in der Hand und nahm von niemandem Abschied. Jede Geste erschien ihm unangebracht, mit der er diese einfachste Handlung seines Lebens begleiten würde, und jeder Händedruck, jedes Lebewohl wäre ihm schon als Geste erschienen. Man mußte aus dem gewohnten Lebenskreise schreiten, ohne zu sagen: ›Bitte seht her, was ich tue. Ist es nicht unerhört? Ist es nicht heldenhaft, zu gehen und nicht wiederzukehren? Hat dieses Jahrhundert so etwas gesehen?‹ Nein, man mußte gehen, wie die Schatten gehen, spurlos über Ebene und Gras, wachsend gen Aufgang und unmerklich mit der Dämmerung verfließend. Man mußte endlich zu der Erkenntnis kommen, daß der Mensch wie ein Gras sei, daß die Tränen der Erde um andre Dinge geweint werden müßten als um das Erlöschen eines Menschen, daß man in das heilige Land so schweigend zu gehen habe wie ein Samenkorn in den bereiteten Acker.

Als er auf der Höhe der Felder stand, von der er den Leuten des Gutes als der segnende Wotan erschienen war, sah er fast in der ganzen Runde die Pflüge durch das Erdreich ziehen. Der warme Morgenwind trug den Geruch der Scholle langsam über die Höhen, und aus den brennenden Wipfeln des Parkes stieg das blaue Gewölbe des Himmels in makelloser Reinheit zum Zenit empor. Noch einmal sah er die Erde, auf die Gott ihn gestellt hatte, ihre sparsame Schönheit, den Fleiß ihrer Menschen, die unbegrenzte Weite ihrer Flächen, den engen Kreislauf ihrer Freuden wie das Ungemessene ihrer Schmerzen. Er sah die Augen des Lazarus und empfand den Geruch seiner Grabtücher. Wer würde ihn erlösen aus den Banden der Knechtschaft, des Hasses und der Verstoßung? Wann würde Gott sich seiner erbarmen wie des Knechtes Hiob?

Er hob noch einmal die Hände über seiner Vatererde und wandte sich dann den Wäldern zu, aus denen die Morgennebel stiegen. Er sah sich so lange um, bis sein Schatten, der hinter ihm her über die Felder glitt, im Schatten des Waldes ertrunken war. Dann atmete er einmal aus aller Tiefe auf, und dann begrub das Rauschen der Wipfel den Klang seiner schreitenden Füße.

Von dieser Stunde an verlor das Schicksal Andreas Nylands sich im Dunkel des Gerüchtes und der Sage. Er trat aus dem Lichte des Tages, seiner Urteile und Meinungen, und verschwand gleich dem Namen eines Verschollenen oder eines Toten. Die Liebe hatte noch teil an ihm, und die Neugier hielt ihr Auge noch auf ihn geheftet, aber sie kamen aus der Erinnerung und gingen in das Rätsel. Der Tisch der Erde sah ihn nicht mehr unter den Speisenden, und die Brunnen des Irdischen sahen seine Schale nicht mehr unter den Wartenden. Das Gras war hinter ihm aufgestanden, und über seine Fährte wehte der Wind.

Es wurde erzählt, daß er auf dem Moore lebe und von den Früchten des Waldes sich nähre und daß in seiner Hütte Vögel und Getier ihre Heimat hätten, mit denen er wie mit Menschen spreche. Es wurde erzählt, daß man ihn zuzeiten sehen könne, auf der Mitte des Moores, unbeweglich und aufrecht, einen Stab in der Hand und einen Vogel an seiner Seite, so groß wie ein Mensch.

Man konnte nicht sagen, ob es Monate waren oder Jahre, von denen das Gerücht so sprach. Er trat aus der Zeit wie aus dem Raume heraus, verrinnend wie ein Strom, wo Welle gleich Welle und Wirbel gleich Wirbel scheint und doch das Gleiche nie gleich, das Bleibende nicht bleibend ist.

Es wurde erzählt, daß er das Moor verlassen habe und in weiter Ferne in großen Wäldern lebe. Daß er die Sprache der Blumen verstehe, daß das Gras sich nicht beuge unter seinem Fuß und daß man ihn mitunter sehen könne, die Wange an die Rinde eines Baumes gelehnt und die Hand um seine Zweige geschlungen.

Es wurde erzählt, daß die Geheimnisse der Erde ihm bekannt und erschlossen seien, die Kraft der Springwurzel wie der Segen der Kräuter, der Zauber des Neumondes wie das Gift der Schlange. Der Glaube des Volkes häufte auf seinen Scheitel, was die Märchen der Jahrhunderte an Dunkel und Weisheit enthielten. Und je ferner seine Gestalt verblaßte, je seltener der Zeiger auf die Stunde fiel, wo ein menschliches Auge ihn sah, desto blühender wuchs der Wald der Geheimnisse um die Form, die immer mehr aus dem Menschlichen glitt.

Und selbst als niemand mehr sagen konnte, er habe ihn dort und dort und dann und dann gesehen, als Ring um Ring im Holz der Bäume sich zueinander gefügt hatte, blieb das Raunen des Volkes von gleicher Gläubigkeit und wob das Kleid des Unvergänglichen um die vergängliche Form. Denn seinem Urteil war nicht faßbar, daß sterben könne, wer seine Schuhe ausgezogen habe, um zu Gott zu gehen.

In Wahrheit aber war von diesem verdunkelten Leben oder Sterben nichts anderes mehr zu sagen, als was Andreas Nyland einstmals von Mose, dem Knecht des Herrn, gesagt hatte: daß Gott ihn begrub in einem Tale, und daß niemand sein Grab gesehen hat bis auf diesen heutigen Tag.

 

Ende

 


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