Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Andreas Nyland war ein Wanderer zwischen den Steinen geworden, wie er ehemals ein Wanderer zwischen den Wäldern gewesen war. Er wohnte im Norden der Stadt in einem Hinterhause zwischen kahlen und ärmlichen Wänden, durch die die dumpfen Klänge erbitterter Lebenskreise drangen. Er hätte auf eine Frage nicht zu erklären vermocht, weshalb er noch bleibe. Manche Tage saß er über der Bibel oder er stand am Fenster, die Stirn an den Scheiben, und blickte zwecklos auf den tiefen Hof, der wie ein lichtloser Keller unter dem Lebendigen lag; auf dem lärmende Kinder spielten oder sich schlugen und in den der Haß und das Gezänk des Hauses herniederfielen wie in einen faulenden Brunnen.
Dann verließ er das alles auf Tage und Nächte und irrte durch die Straßen, in denen das Licht nicht erlöschen wollte und über denen man keine Sterne sah. Die Lösung von Beruf und begrenzter Lebensgemeinschaft, die ihm zunächst als ein Schritt in die Ewigkeit erschienen war, begann sich ihm als der Beginn einer hoffnungslosen Verlorenheit zu offenbaren. Er tat sinnlose Dinge, die er vergeblich zu Symbolen zu formen suchte. Er nahm ein hungerndes oder bettelndes Kind mit sich nach Hause und nährte und wärmte es. Er trat zu einer Gruppe von Straßenarbeitern, die in der Tiefe gruben, um Kabel umzulegen, und bat den Schwächlichsten von ihnen, ihn statt seiner arbeiten zu lassen, ohne einen Entgelt und nur um Gottes willen. Und mühte sich unter ungewohnter Last, oft bedrängt von rohem Scherz, bis der Aufseher kam und ihn davontrieb. Er ging auch zu den Geächteten und Verrufenen, und geschah es auch dann und wann, daß ein Blick ihn traf, unter Schmutz und Trümmern hervorbrechend wie ein verlorenes Geschmeide, so entglitt er ihm wieder, von Mißtrauen, selbst Haß verdunkelt, und wieder tastete er mit hoffnungsloser Hand um fugenlose Wände. Ein paar Wochen lang stand er in den Reihen der Heilsarmee, bis zur Erschöpfung den engen Weg durchlaufend, der ihm geboten wurde. Dann kehrte er in seine Einsamkeit zurück, weil er die Summe des Heils ermessen konnte, die am Ende eines solchen Lebens stand, und weil er sie bitter lächelnd verglich mit dem, was zu erfüllen war.
Mitunter konnte er aus seinem Leben heraustreten und mit finsterer Kälte auf den Knecht Gottes blicken, der ratlos hinter seinem Pfluge stand, mit müßiger Hand an den Schrauben spielend, während die Vögel über seinem Haupte schrien. Und mit Schrecken sah er das Bild dieses Fremden sich nutzlos bewegen oder in brütender Versunkenheit dasitzen und auf seine Hände starren, wie die Finger sich sinnlos auseinandertaten und wieder schlossen, als riesele Wasser zwischen ihnen hindurch und als sei auch dieses ein Symbol von derselben lähmenden Art wie die vergangenen.
Mitunter war Tamara in der frühen Dämmerung bei ihm. Oft traf sie ihn nicht an und er fand im Türspalt ihre Karte. »Ich habe gewartet,« stand jedesmal darauf. War er zu Hause, dann saß sie auf seinem Fensterplatz, daß er nur den schwer geformten Umriß ihres Kopfes und des Oberkörpers erkennen konnte, und fragte nach seinen Wanderungen. Er erfuhr von ihr nur, daß sie eine Stelle als Gesellschafterin in einem reichen Hause innehabe und daß sie Englisch lerne, um bald nach Amerika gehen zu können. Er bemerkte, daß, wovon sie auch sprechen mochte, ihre Gedanken fast unaufhörlich um seine Erzählung kreisten, wie er das Heilandsbild vergraben und wieder zum Licht gehoben hatte. Einmal brachte sie ihm einen Primeltopf, damit es nicht so traurig aussehe bei ihm. Als sie ihn beim nächsten Besuch nicht mehr sah, fragte sie fast feindselig danach und erfuhr, daß Andreas ihn einem kranken Mädchen geschenkt hatte. »Ist sie schön?« fragte sie unüberlegt. »Ich glaube ja,« antwortete er verwundert. Darauf blieb sie eine lange Zeit fort, und als sie wiederkam, war sie schweigsam und finster, ohne die Qual verbergen zu können, die das Wiedersehen ihr zu bereiten schien.
Doch wurden Nylands Gedanken durch ein Erlebnis und seine Folgen für einige Tage so gefesselt und das schwankende Gleichmaß seines Lebens so erschüttert, daß die Veränderung ihres Wesens fast spurlos an ihm vorüberging. Er kehrte an einem Vorfrühlingsabend von einer seiner Straßenwanderungen zurück, als er unter den leicht sich begrünenden Bäumen eines Vorstadtplatzes einen Menschenauflauf gewahrte. Was er sah, war zunächst nichts als ein Haufen lachender und johlender Kinder jeden Alters, wobei die Kleinsten von den Hintenstehenden hochgehoben wurden, um des Schauspiels nicht verlustig zu gehen. Unter einem der Bäume, mit einer wenig sauberen Hand an die Rinde gelehnt, stand ein Mann, etwas älter wohl als Andreas, und hob lauschend den Kopf nach dem Ruf eines frühen Buchfinken, der unbekümmert in den lichten Zweigen saß. Das verwilderte Antlitz des Mannes war von einer einsamen Seligkeit erfüllt, und seine Rechte folgte unbewußt mit einer fast taumelnden Bewegung dem Rhythmus des Vogelgesanges. Er zuckte zusammen, als ein neues Gelächter ihn herzlos traf und wandte langsam sein Antlitz nach den ihn umdrängenden Kindern. Seine Augen, groß und von hellstem Blau, starrten mit seltsamer Verwunderung aus seiner Versunkenheit heraus. Da traf ihn ein Stück Erde, von hinten geschleudert, an den Rücken, und ohne Übergang verzerrten seine Züge sich zu maßloser Wut. Mit vorgestreckten Händen stürzte er sich auf die zurückweichende Schar, verlor das Gleichgewicht und fiel auf sein Gesicht. In den Armen sich aufrichtend blickte er ratlos umher, und wieder erfüllte der Ausdruck seltsamen, ja blöden Erstaunens sein Antlitz.
Jetzt erst sah Andreas, daß der Mann betrunken war, daß hier Verwüstung ein Antlitz entstellt hatte, das zur Blüte bestimmt war, und schnell trat er, die Kinder zurückscheuchend, an seine Seite. Als er sich wortlos aber mit liebevoller Gebärde niederbeugte, traf ihn der Blick des Knienden, rückkehrend aus Wut und Verwirrung zu einer verlorenen Erde, und was aus Scham, Demut und seliger Bestürzung einen Herzschlag lang in die Augen des Helfers leuchtete, zerstreute mit unwiderstehlicher Begnadung alle Wolken der Verfinsterung, die über seinem Wege gestanden hatten.
Sie wechselten kein Wort. Und als Andreas den Fremden mit sich in sein Zimmer genommen und er in seinem Bett eingeschlafen war, saß er, jedes Geräusch vermeidend, am Fenster und blickte schweigend zum Abendgewölk auf, das einen roten Schimmer in den Schacht des Hofes fallen ließ. Nur als der Schlafende im Traume unverständlich zu sprechen begann, trat er an das Bett und beugte sich über das Antlitz des Fremden. Er blickte lange hinein wie auf eine weiße Maske, die vor dem Unbekannten hing, und das Geheimnis jedes Lebens ergriff ihn wieder mit unverminderter Gewalt. Es war ein schönes Gesicht, vom Geiste geformt, von Leidenschaften gezeichnet, kein toter Abdruck aus dumpfer Masse, sondern ein Ruf von einsamer Straße, hochmütig, verachtend, fast wild, aber vom Staube bedeckt.
Als Andreas ein paar Stunden später die Lampe anzündete, erwachte der Fremde. Er öffnete nur die Augen und blickte regungslos zur Zimmerdecke empor. »So,« sagte er dann ruhig. »Diesmal ist es ja hübsch geworden.« Dann suchte er in den Taschen seines Anzuges herum, zog eine Schachtel mit Zigaretten heraus und begann zu rauchen, mit Behagen den blauen Wolken folgend und schließlich sogar mit kunstvollen Ringen sich versuchend. Danach drehte er sich plötzlich auf die Seite, stützte den Kopf in die rechte Hand und blickte fröhlich auf Andreas, der ihn schweigend von seinem Stuhle aus betrachtete, das Kinn in beide Hände gelegt.
»Rauch ist alles ird'sche Leben, mein Freund, nicht wahr?« begann er heiter. »Darf ich Sie versorgen? Nicht? Schade … die Nichtraucher sind meistens sumpfigen Gemütes, Prinzipien als Eisenträger im sündigen Fleisch, die Stützen des Fortschritts der Menschheit, die Säulen im brechenden Tempel der Erde und so weiter … darf man fragen, wer Sie sind?«
»Ich heiße Andreas Nyland.«
»Schöner Name, symbolisch wie der meinige … Amadeus … aber, verzeihen Sie die Kränkung, aber furchtbar gleichgültig. Waren Sie im Kriege? Schön. Haben Sie sich bei einem Stolleneinsturz vorgestellt? Ich nicht. Wenn ein Balken Ihnen auf die Hirnterrine fällt, dann stellen Sie sich Ihrem Nebenmann nicht vor: ›Siegfried Meier.‹ Und das Leben ist, wie mir scheint, ein dauernder Stolleneinsturz. Also weiter. Heilsarmee? Apostel der Liebe? Oder was sonst?«
Andreas sagte schwerfällig ein paar Worte über sein Leben.
Plötzlich sah der andere ihn mit durchdringender Schärfe an. Dann begann er leise vor sich hinzulachen, immer unbekümmerter, bis Andreas sich unwillig abwandte. »Also der Knecht Gottes,« sagte er, noch immer lachend. »Wie komisch dieses ekelhaft langweilige Leben sein kann. Wissen Sie, daß eine unglückliche Liebe sich die Augen ausweint nach Ihrer Heiligenstirn? Das wissen Sie natürlich nicht. Wie sollten Sie auch? Aber Tamara kennen Sie, wie? Ja, Freundchen, die Journalistenseelen nennen das Zufall, und wer hätte heutzutage keine Journalistenseele im Zeitalter der Presse! Englische Stunden nimmt sie bei mir, und keine Stunde vergeht, wo sie nicht von Ihnen spricht.«
»Tamara,« wiederholte Andreas verblüfft.
»Jawohl, Tamara! Der gebildete Zeitgenosse würde jetzt unfehlbar fragen: ›Was halten Sie von ihr?‹ Aber das sind Sie, dem Teufel sei Dank, nicht … so, also der Knecht Gottes … immer noch auf der Suche? O gesegnetes Jahrhundert der Propheten, des Völkerfriedens und der Lustmörder, des Radio und des Weltbürgers!«
Er zündete eine Zigarette an der anderen an, die Reste sorglos an der Bettkante ausdrückend und auf die Dielen werfend. »Sie glauben an Ihre Sendung?« fragte er lächelnd. »Aber natürlich, wer glaubt nicht an seine Sendung? Das Erkennen kommt erst lange hinter dem Glauben, und wer erkannt hat, der …« Er schwieg, sich plötzlich verfinsternd, warf sich auf den Rücken und starrte mit bösen Augen zur Decke empor. »Nun sagen Sie doch, daß ich beichten soll,« fuhr er feindselig fort. »Es ist doch der gegebene Augenblick, und die Menschen tun immer das Gegebene.«
»Wer beichtet, glaubt,« sagte Andreas.
»Ach ihr Theologen,« flüsterte Amadeus verächtlich. »Und wer glaubt, kommt in den Himmel … Nein, Freundchen, ich will Ihnen etwas sagen: Wer beichtet, ist feige und wühlt im Schmutz, und ohne Schmutz können wir nicht auskommen, weder bei der Geburt, noch beim Tode, noch und am allerwenigsten im Leben. Das ist die Sache.«
»Und wer erkennt?«
Amadeus pfiff höhnisch durch die Zähne. »Wer erkennt, mein Freund, hängt sich auf, und bevor er sich aufhängt, trinkt er. Wer aber weder glaubt noch erkennt, das ist der Mann des Jahrhunderts, die Wanze des Tempels, der Tausendfuß des Erdkellers, das ist der Bürger, mein Freund, verstehst du? Einfach der Bürger! Wozu ein Attribut? Der Teufel hat auch keins.«
»Und dieser Bürger? Er trinkt nicht?«
»Nein, Sie Mann aus der Wüste. Der Bürger säuft, verstanden? Wie das Vieh. Nur der verlorene Sohn trinkt, nicht der, der heimkehrt, sondern der, der draußen bleibt, ganz draußen, und dann beichtet er, aus Hochmut, oder aus Haß … Er beichtet der Wüste, und wenn ein Mensch in der Wüste steht, so kann er es hören. Nur an den Toren der Städte verstummt er. Sie könnten ihn ans Kreuz schlagen und er würde stumm bleiben.«
»Beichten Sie,« sagte Andreas müde. »Um Ihretwillen, nicht um meinetwillen.«
»Ach, Sie Unberührbarer,« spottete Amadeus. »Gerade um Ihretwillen. Es wird Ihnen sehr dienlich sein, wenn eine Menschenstimme in Ihre Wüste dringt. Dazu weiß ich genug von Ihnen. ›Ich muß bekennen, lieber Meisenthin …‹ Sagte der hochedle Herr von Borke nicht so? Ach ihr Führer der Nation! … Ja also die Beichte … hören Sie gut zu, Andreas Nyland!«
Er zog die Beine an und schlug sie übereinander, mit der Fußspitze auf und nieder wippend. »Also wie überschreiben wir das Kapitel?« begann er. »Die Beichte eines Beamten? Das klingt bürgerlich. Die Beichte eines Toren? Das klingt literarisch. Die Journaille würde so sagen. Lassen wir die Überschrift. Überschriften sind für Schüler. Ja … ich wurde also normal geboren. Eltern und Großeltern waren normal. Keine Melancholiker, keine Säufer. Normale Lebensstraßen. Staatsbeamtentum, heutzutage Gehaltsstufe zehn mit Aufrückungsmöglichkeit. Pflichteifrig, dienstwillig. Krankheit nur während des Urlaubs, Urlaub nur mit amtsärztlichem Zeugnis. In der Familie Rückgrat, gegen Vorgesetzte zentral angedeutete Verdickungserscheinungen, aber noch nicht bis zur Wirbelsäulenform gediehen. Zu Untergebenen gemessen, schrankenbetont. Alter, Tod und Begräbnis staatsbürgerlich.
»Kindheit und Jugend waren normal. Normale Ideale wurden in meine Seele gepflanzt: Christentum, Vaterland, Klassiker, weiße Weste und so weiter. Sie wuchsen zur Freude von Freunden und Verwandten … Aber ich war kein glückliches Kind. Ich war leer. Wissen Sie, wie das ist? Nichts erfüllte mich. Ich ging zur Seite, wenn die anderen spielten und sah ihnen zu. Dann kam mir alles dumm vor, Gelächter, Bewegungen, Worte. Ich nannte das alles Theater. Und langsam wurden mir auch die Großen ›Theater‹. Ich war sehr aufmerksam, wißbegierig, ich horchte, lauschte, paßte auf. Ich wurde mißtrauisch, und dann verlor ich zum erstenmal den Glauben. Es war eine lächerliche Ursache, aber der dürftige Heiligenschein verschwand von der Stirne meiner Eltern. Auch sie glitten in den wachsenden Kreis des Theaters. Die Lehrer, der Pfarrer, die Honoratioren … es war eine kleinere Stadt … ich sah ihre Maske und ahnte ihr wahres Gesicht. Ich wußte noch wenig, ich war noch zu jung, aber ich fühle noch das Grauen, das ich vor dem Älterwerden hatte. Ich war so unglücklich damals, und da sich niemand meiner annahm, wurde ich böse. Ich begann zu hassen, und der Haß war meine Inbrunst. Es kam damals eine Zeit, wo das Wort ›normal‹ eine große Rolle zu spielen begann, natürlich auch bei meinen Eltern. Es gibt solche Worte, die ganze Jahrzehnte infizieren, so wie der Stil die Kunst oder die Methode die Pädagogik. Kinder, Bildungsgang, Entwicklung, Karriere: alles hatte normal zu sein. Das Unnormale war der Abgrund, die Verworfenheit, das Urböse.
»Die ganze Glut meines Hasses warf sich auf dieses Wort. Ich empörte mich. Zuerst gegen die Kleidung, dann gegen die Umgangsformen, das Herkommen. Als mein Vater bei Tisch lang und breit von einer Unregelmäßigkeit sprach, die bei seiner Behörde vorgekommen war, eine lächerliche Sache, stand ich auf und sagte laut und hart: ›Das ist ja ekelhaft.‹ Es gab böse Kämpfe. Auf der Schule wurde mir das Consilium angedroht, weil ich den Religionslehrer einen Heuchler genannt hatte. Meine Mutter pflegte die Hände zu falten und zu allen Leuten zu seufzen, ich sei unnormal. Von da ab strebte ich mit Leidenschaft, es zu beweisen. Ich stand kurz vor dem Abitur, und in meiner Seele sah es wüst aus. Ich zerfaserte, was mir unter die Hände kam, herzlos, zynisch, selbst gemein: Gott, Vaterland, Moral, die Ehe. Und bei alledem war ich grenzenlos einsam, wie ein Vogel über dem Ozean. Meine Kameraden fürchteten mich wegen meiner Erbarmungslosigkeit, meine Geschwister haßten mich. In der Stadt glaubte man, ich würde ein Verbrecher werden. Ich rührte keinen Finger, um ihnen den Glauben zu nehmen.
»Ich war ein negativer Mensch damals, ein Verneiner, ein Zerstörer. Mir fehlte die Kraft zum Positiven. Wenn ich an meine Zukunft dachte, schwebte mir nichts vor, als daß mein Leben ein Paroxysmus des Unnormalen sein würde.
»Und dann kam der Sturz, oder die Erweckung. Ihr nennt es wohl den Sündenfall oder die Austreibung aus dem Paradiese. Aber wie sollte ich ausgetrieben werden, da ich das Paradies nicht kannte? Ich habe Ihnen gesagt, daß ich furchtbar einsam war. Ich lebte wie ein Ausgestoßener, ein Verpesteter. Ich hatte keinen Menschen, kein Tier, keinen Baum. Nun stand ich eines Abends am Fenster eines der halbdunklen Räume, die Stirn an den Scheiben, die Hände auf dem Rücken, wie man um solche Zeit zu stehen pflegt, wenn man sich fragt, weshalb der Himmel nicht einstürze. Das Haus war leer, meine Angehörigen alle fort. Nun hatten wir damals seit einigen Wochen ein Kinderfräulein für eine spätgeborene Schwester. Sie war nicht mehr jung, mochte schon einiges erlebt haben und war allen angenehm durch ihre Heiterkeit und Hilfsbereitschaft. Ich hatte sie wohl ab und zu verstohlen betrachtet, aber im immer lebendigen Mißtrauen, daß sie ›eingeweiht‹ sei, zu merken gemeint, daß sie den Gifthauch in mir scheue und sie ohne weitere Prüfung zu den ›Normalen‹ gerechnet. Sie hatte den bei uns unbekannten Namen Monika.
»An diesem Abend nun, als ich am Fenster stand, kam sie herein und machte sich am Büfett zu tun. Jede Betrachtung meiner Person und besonders meiner Einsamkeit war mir verhaßt, und ich wollte gerade mit einer schroffen Frage mich umwenden, als sie schnell und lautlos zu mir trat, mich zärtlich über das Haar strich und sehr weich und liebevoll sagte: ›Armer Kerl.‹
»Ich weiß genau, daß damals der ganze Raum um mich zu schwanken begann und daß ich das Gefühl hatte, als stürze meine ganze Welt zusammen. Es war eine Erschütterung, die sich bis zum körperlichen Schmerz steigerte. Ich konnte nichts sagen, aber ich weiß, daß ich ihre Knie umfaßte und daß die Tränen unaufhaltsam aus meinen Augen stürzten. Ich sah weder ihr Gesicht, ob es schön oder häßlich war, noch ihre Gestalt, noch sonst irgend etwas. Ich fühlte nur die Hand eines Menschen auf meinem Scheitel und nichts mehr.
»Von da ab ging ich auf einer neuen Erde. Nach außen wurde ich finsterer als bisher, aber in meinem Inneren starb der negative Mensch. Eine unbändige Kraft erfüllte mich. Noch immer wollte ich die Welt zerschlagen, aber ich taumelte in der Glückseligkeit der Vorstellung, daß ich eine neue aufbauen wollte. Ich brachte mir nicht zum Bewußtsein, daß ich das Gift der alten zum erstenmal getrunken hatte. Ich wußte nicht, daß die Schlange mich in die Ferse gestochen hatte … hören Sie gut zu, Andreas Nyland! Wer zu Gott will, zum alten oder zum neuen, muß vom Menschen gehen. Denn Gott ist das All und der Mensch ist das Eine. Es gibt keinen Weg als über den Tod des Individuums. Ich aber war aus der Einsamkeit gestürzt in die Zweiheit, und die Zweiheit ist das Normale.
»Ich wußte das damals noch nicht. Ich machte mein Examen spielend, mit verächtlichem Lächeln. Am selben Tage trat ich vor meine Eltern und erklärte ihnen, daß ich Naturwissenschaften studieren würde und daß ich Monika heiraten würde. Beides kam einem Weltuntergang gleich. Mein Vater brüllte, meine Mutter bekam Weinkrämpfe. Beides war normal. Für mich aber waren beide Entschlüsse Folgerungen des neuen Lebens, des Positiven. Ich haßte damals wohl nichts so sehr wie meine Lehrer. Nach meiner negativen Theorie wäre es bei diesem Haß geblieben, bei der Zersetzung dieses pädagogischen Schleims, wie ich die Schule nannte. Nach meiner Wandlung aber ging es um mehr. Der neue Lehrer mußte geboren werden, der neue Typus, der Unnormale, der Auflösende und Erfüllende, und dieser neue Typus war ich. Ich ging in meinen Beruf mit einem Dolch in der Tasche, und ich konnte den Augenblick nicht erwarten, wo ich ihn heben würde, um jubelnd zuzustoßen.
»Und ähnlich war es mit der Heirat. Hier war der Stoß allen sichtbar. Ein Kinderfräulein heiraten, mit dem man im elterlichen Haus ein Verhältnis gehabt hatte: gab es einen brennenderen Schlag in das feiste Gesicht des Normalen? Aber es war nur ähnlich, nicht dasselbe. Der Besitz lockte, die Wiederholung, der Genuß. Das Gift begann zu wirken und trübte mir die Augen. Dort hob ich die Hände, und hier versank ich.
»Wir verließen zusammen das Haus und kamen hierher. Ein Jahr später war ich mündig und wir heirateten. Es war ein Zigeunerleben, in Ärmlichkeit erstickend. Aber nicht das war das Verhängnis. Sondern daß ich zu erkennen begann. Wir verwüsteten unsre Liebe durch Rausch, der sich überstürzte. Die Nächte wurden schal. Die Tage schlossen sich bleiern aneinander. Das Gespenst der Bürgerlichkeit hob sein aufgedunsenes Gesicht wie eine Fratze vor meinen Weg. Wir begannen einander zu hassen und verbargen es nicht. Damals fing ich auch an zu trinken. Und das Gift der ersten Nacht wuchs und wuchs. Ich ging zu anderen Frauen, und wenn ich von ihnen ging, mußte ich mich bezwingen, um sie nicht zu erwürgen. Sie hielten meine Füße wie ein Sumpf, die Zweiheit hatte mich, das Normale, und im Rausch hob ich wie ein Sterbender das Antlitz zu meinem Gott.
»Monika verschwand aus meinem Leben, um einen andern zu beglücken. Ich machte mein Examen und wurde angestellt. Man behauptete, ich hätte ›Fähigkeiten‹. Alle Blasen im Sumpf werden zunächst mit ›Fähigkeiten‹ bezeichnet. Nun war es Zeit, den Dolch zu heben. Mein Leben war so, daß der Direktor mich jede Woche einmal ins Amtszimmer nahm. Ich nannte das die ›Andachten‹. Zuerst war er sehr amtlich, Vorgesetzter und moralischer Zitterer. Ich lachte ihm ins Gesicht und riet ihm freundlich, sich vorzusehen; ich sei ein gefährlicher Mensch, und er solle froh sein, daß ich nicht etwas anstelle, was ihm an Kopf und Kragen gehe. Dann beschwor er mich mit erhobenen Händen. Dann ließ er auch das und sagte, er werde mit Kummer in die Grube fahren, wozu ich ihm ›gute Reise‹ wünschte.
Dann begann ich systematisch, die Ehen innerhalb des Kollegiums auf den Kopf zu stellen … es war übrigens wieder eine Kleinstadt … Mein Hauptstoß aber ging gegen die Schule. Die Schule hatte Staatsbürger zu erziehen. Die Lehrer waren Staatsbürger, die Schüler Staatsbürger-Embryonen. Gott, Vaterland, tarara und so weiter. Das erste war, daß ich Gott absetzte. Schwieriger war es mit dem Kaiser, noch schwieriger mit dem Weibe. Aber als die Autoritäten erst wankten, wankte vieles hinterher. Ab und zu petzte einer, dann gab's Sturm. Der Spießer hörte die Faust am Tor, die Fanfare schrie durch die Watte in seinen Ohren. Aber meine ›Fähigkeiten‹ hielten mich.
»Und doch rissen meine Segel und ich scheiterte. Wieder hatte ich etwas vergessen, etwas nicht erkannt, den Gott des Jahrhunderts, den Panzer des Normalen: die Masse. Hören Sie zu, Prophet? Als Diogenes in der Tonne saß, konnte ganz Griechenland ihn bestaunen. Wenn ich mich in die Tonne setzte, stand es im Kreisblatt, sonst nirgends. Hier liegt die Tragik der Propheten, nirgends anders. Mein Kollegium war eine Masse, solid, eisern, unüberwindlich. Es gab feine Köpfe und gute Kerls darunter, die sich abbröckeln ließen. Aber die Masse war eisern. Sie hatte Grundsätze, Weltanschauungen und Skatabende. Sie haßte das Bohren wie ein hohler Zahn. Sie kannte nur Orthoform. Sie haßte das Paradoxe, das Neue, das Rütteln an Fundamenten, von der Krawatte bis zum Christentum. Sie empfingen einander morgens im Flur mit der Frage: ›Was halten Sie vom Untertertianer Kienapfel?‹ Sie heirateten, zeugten Kinder und starben. Das Schulbanner neigte sich über ihrem Grabe, das Banner der Verbindung neigte sich, und der Direktor sprach von der schmerzlichen Lücke. Ein Neuer kam, wurde beschnuppert, verschmolz mit der Masse, und alles war wie sonst.
»Aber dieses Gleichbleibende war eine ungeheure Macht, eine Macht, die ich unterschätzte. Sie war verwurzelt mit Dingen, die tausend Jahre zurückreichten, mit den führenden Schichten aller anderen Berufe, mit Begriffen und Fähigkeiten, die so unentrinnbar vererbt waren wie der aufrechte Gang. Denken Sie nicht, daß aus mir der Haß gegen den Beruf spricht, der mich verstoßen hat. Dieser Beruf war nur die eine Fläche des Würfels, den die Masse darstellte, vielleicht die zu unterst liegende, die dumpfste und gedrückteste, aber doch eine ganz gleichwertige Fläche. Vielerlei ist durch mein Gesichtsfeld gekrochen: Juristen, die nahezu in Tränen ausbrachen über die Gleichstellung mit den Philologen, Pfarrer, die mit Blasrohren und Giftpfeilen hinter den Bäumen standen, Offiziere, denen der Zivilist ›Kanaille‹ war, Verwaltungsbeamte, die an einem Orden starben. Aber alle zusammen hielten sie auf Standeswürde, alle trugen ihre Weltanschauung auf der Schlipsnadel, alle betranken sich an Kaisers Geburtstag, alle stießen mit Füßen, wenn es um den Platz an der Sonne ging, alle hatten einen dünnen Kulturfirnis, besaßen ihre allgemeine Bildung, ihre Ideale, ihre Grundsätze. Und alle zusammen waren eine ungeheure Macht.
»Sie schlossen einfach die Türe vor mir. Sie gerannen zuerst wie Gallert aus einer Flüssigkeit, dann erstarrten sie, und dann wurden sie Eis. Sie hatten kein Blut, keine Nerven, keine Knochen. Sie waren unangreifbar, unnahbar, sie waren eben der Urstoff, die Materie, das Seiende. Der Meteor, der in ihre Atmosphäre kam, erhitzte sich, wurde glühend und zersprang in Atome. Gras wuchs über seine Stücke, und mit gut gewichster Schuhspitze stieß der Bürger an ihnen herum. ›Wenn uns der auf den Kopf gefallen wäre …‹ sagten sie schmunzelnd, aber sie wußten: ›Das kam nicht vor, die Wahrscheinlichkeit war zu gering.‹
»Als ich nicht abließ, an ihren Fundamenten herumzuklopfen und Steine in ihre Fenster zu werfen, setzten sie sich zur Wehr. Sie forderten mich nicht heraus, aber sie nahmen ihre Spaten und begannen mich zu unterwühlen. Sie höhlten den Boden unter mir aus, und ich brach ein, hier und da. Ich merkte es an den Schülern, an meiner Wirtin, an den Kaufleuten und so weiter.
»Schließlich übermannte mich der Ekel. Das heißt, ich war müde geworden. Ich verkehrte damals im Hause eines angesehenen Bürgers, das will sagen, ich verkehrte mit seiner Frau. Sie war eine Gans, eitel, lüstern, dumm, wie alle Frauen in jener Stadt, und ich verführte sie eben. Sie weinte ein bißchen, und ich lachte sie aus. Am nächsten Tage ging ich zu ihm und erzählte ihm bei einer Zigarette die Einzelheiten. Ich weiß, daß es schamlos war, aber ich ertrug es eben nicht mehr. Sie saß übrigens dabei und wurde normalerweise ohnmächtig. Er sprang mir nicht etwa an die Kehle, dazu sah ich wohl zu gefährlich aus. Sondern er bat, um Diskretion natürlich … so nennen sie das …, und als ich ihn auslachte, drohte er mit Anzeige. Ich lachte noch mehr und erzählte meinen Primanern die Geschichte. Er mußte die Pistole nehmen, ob er wollte oder nicht. Und er wollte gar nicht. Ich schoß ihn gutmütig durch die Schulter und spazierte auf Festung. Sie gaben mir den Abschied, und ich kam hierher. Jetzt bin ich, was ich ursprünglich werden wollte: Literat. Keine vornehmen Blätter, aber sie wissen schon, was sie an mir haben. Einmal in der Woche betrinke ich mich, und dann klopfe ich wieder an den Fundamenten herum.
»Und nun, Knecht Gottes, wollen wir das Fazit ziehen. Ich habe nur noch drei Zigaretten und muß Ihnen Ihr Bett räumen. Auch Sie sind ein Unnormaler, Andreas Nyland, und auch Sie haben wie ich einiges vergessen. Ich hatte es leichter, denn ich leugnete alles, was dem Bürger ›hoch und heilig‹ war. Sie aber nehmen einen seiner ›unverrückbaren Pfeiler‹, das Christentum, und wollen darauf die neue Welt gründen. Das ist viel gefährlicher. Denn Sie kommen mit einem ›Schein des Rechts‹. Ich kam als Fremder, aus dem Sumpf moderner Verderbtheit. Sie aber sind ein Sohn des Hauses. Sie sind ein Bruder, der die eigene Schwester verführt, ein Pfarrer, der seine Kirche anzündet. Meine Tat war Gottesleugnung, die Ihrige ist Gotteslästerung. Mich steinigt man, Sie aber schlägt man ans Kreuz.
»Von Ihrem Prinzip will ich gar nicht reden. Mit der Menschheitsbeglückung aus einem Punkt ist es wie mit dem Philosophieren aus einem Punkt. ›Das Ich setzt das Nicht-Ich im Ich …‹ erinnern Sie sich noch? Das ist für Ordinariate gut und für Studenten mit Kollegheften. Aber es ist ohne Zweifel das, was die Ärzte manio-depressiv nennen. Es ist übrigens die Grundlage alles Prophetentums. Bei mir ging es um das Unnormale, bei Ihnen um die Liebe.
»Aber die Hauptsache liegt woanders. Haben Sie bemerkt, daß es gegen die Schlußstunde einer Gesellschaft hier und da vorkommt, daß einer aufsteht und leise hinausgeht, um, an einen Baum des Gartens gelehnt, schweigend in die Sterne zu sehen? Nicht gerade, daß der Ekel ihn treibt, aber ein dumpfes Bewußtsein furchtbarer Leere mag es wohl sein, das ihn hinaustreibt. Meistens kehrt er wieder, manchmal geht er auch fort. Sie können das überall beobachten, am Ende einer langen Ehe zum Beispiel oder einer glänzenden Laufbahn. Im Mittelalter, wo die Hemmungen noch geringer waren, kam es häufiger vor. Man braucht gar nicht an Karl den Fünften zu denken. Heute ist es seltener. Tolstoj hat einen schüchternen Versuch gemacht. Das soll heißen, Andreas Nyland, daß hin und wieder einer von uns das dunkle, würgende Gefühl hat von der furchtbaren Leere der Welt, trotz Radio und Jazz, trotz Esperanto und Arbeitsunterricht; daß plötzlich in seinen Ohren trotz Tischreden, Sonntagspredigten und Ministeroffenbarungen jener furchtbare, halb singende und halb klappernde Ton einer leerlaufenden Maschine auftaucht, der Ton, der eine Katastrophe ankündigt, auch wenn man ihn nie zuvor vernommen hat; aber daß die Gesellschaft weiter bei ihrem Nachtisch sitzen bleibt, auch wenn Sie hinausstürzen, um die Arme zu den Sternen zu heben; daß die Minister weiter reden, die Pfarrer, die Lehrer; daß Ehen geschlossen werden und Kinder geboren; daß Zeitungen gedruckt werden und Bücher über die Grabmäler ägyptischer Könige oder über die Stickstofferzeugung, daß die Menschen Gold machen und Gas; daß sie Kirchen und Zuchthäuser bauen. Daß sie alles das tun und tun werden, Andreas Nyland, während Sie draußen an Ihrem Baume stehen. Und daß das etwas Furchtbares ist, ja etwas Entsetzliches und höchst Grauenvolles.
»Sie haben weiter vergessen, Andreas Nyland, daß die Kinder nicht vom Himmel fallen, sondern aus dem Schoß der Mütter emporsteigen, kein Geschenk Gottes, sondern eine Frucht des Teufels, erfüllt von Säften nicht einer Generation, sondern von den Säften der Masse, hundert Jahre, tausend Jahre alt. Daß hinter den feuchten Augen der dunkle und böse Glanz einer unendlichen Vergangenheit sich spiegelt und einer unendlichen, zähen und unwiderstehlichen Zukunft.
»Sie haben vergessen, daß Sie selbst solch ein Kind gewesen sind. Daß die Schlange Sie in die Ferse gestochen hat. Die Masse hat Sie, unwiderstehlich, die Zweiheit oder die Vielheit. Es gibt kein Brett in die Ewigkeit, auf das man hinaustreten kann. Es gibt nur Irrtum oder Sturz. Nur die Pfarrer können Gott fassen. Wir leugnen ihn oder er zersprengt uns. Wer erkennt, hängt sich auf, und vorher trinkt er. Die verlorenen Söhne kehren heim, aber die Söhne der Verlorenheit bleiben draußen, und die Wüste begräbt sie. Immer lag im Absoluten Vermessenheit, Zusammenbruch, Tod. Und in der Beschränkung, im Verzicht, in der Arbeit lag vielleicht immer die Erlösung. Wer nicht arbeitet, Andreas Nyland, soll auch nicht essen. Steht das nicht in Ihrer Bibel? Wir modernen Propheten sind ein bißchen faul geworden, meinen Sie nicht? So, und nun gehen Sie schlafen, Wächter über Zion. Der Schlaf ist Rückkehr in den Schoß der Erde, ein vornehmer Selbstmord mit Garantie des Erwachens, und vom neuen Tage kann man immer sagen: ›Vielleicht … wer weiß …‹«
Er zündete die letzte Zigarette an, nickte Andreas lächelnd zu und ging aus dem Zimmer. Man hörte die Treppe unter seinen Füßen knarren, immer ferner und ferner, das Lied verklingen, das er vor sich hinpfiff, und dann blieb nichts als das Schweigen der Wüste, in die der verlorene Sohn gebeichtet hatte.