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IV.
Die Fahrt zu Gott

Als Andreas drei Tage nach seinem Examen in dem Kirchdorf am großen Strom den Dampfer verließ, dämmerte es schon. Er stand noch eine Weile an der Landungsbrücke und sah über das dunkle Wasser, hinter dessen Uferweiden Nebel endloser Wiesen stieg. Auf der langen Reihe der Flöße brannten kleine, rauchlose Feuer, ein flackernder Saum immer schwächer werdender Lichter, und irgendwo aus der Weite stiegen die Klange einer Harmonika traurig über das dunkle Rauschen des Stromes.

»Es ist überall dasselbe,« dachte er schwermütig. »Wo die Ströme ziehen, da stehen die Menschen auf den Brücken und lauschen hinunter und wissen nicht, was es ist, das so traurig macht. Und wo keine Ströme sind, da sind es die Wälder, die in den Nächten rauschen, und wo das nicht ist, da ist es die Ebene, oder die Laternen in den Straßen sind es, oder die Biegung eines Weges, die in den Nebel sinkt … und schließlich ist es doch nur unser Herz, das traurig ist um Gott oder den Menschen.«

Er mied das Dorf und ging den Ufersteig an den Weiden entlang zum Pfarrgarten, der unterhalb an den Strom stieß. Er sah sie alle in der offenen Hauslaube sitzen, die Gesichter noch so schimmernd, daß sie kenntlich waren. Er sah das Antlitz seiner Verlobten und hörte ihr helles Lachen, und eine tiefe Trauer überfiel ihn, so daß er die Arme auf die Holzstäbe der Gartentür legte und seine Stirn auf die gefalteten Hände senkte. ›Werde ich denn jemals so sitzen können?‹ dachte er. ›Ein Dach über mir, Bäume vor mir, die mein eigen sind und mir Früchte tragen müssen? Eine Frau, die Kleider haben will und Schmuck, Kinder, die Nahrung und Schule haben wollen? Und hinten auf dem Strom, da klingen die Lieder der Wandernden, die nach Heimat verlangen, nach Ruhe, nach Brot? Ja, daß da überhaupt ein Strom ist, ein Wasser, das fließt und fließt, Tage und Nächte und Jahre und Jahrhunderte … und ich sitze und höre zu, lächelnd oder müde, und dann lege ich mich nieder, ohne zu denken, daß es immer weiter rauscht? Kann das denn sein?‹

Er hob den Kopf, spähend wie zur Flucht. ›Aber wenn ich fortgehe, wird sie nicht weinen? Schrieb sie nicht schon, daß sie Weihnachten geweint hat? Will ich nicht ein Pfarrer werden, anders vielleicht als die andern, aber doch ein Pfarrer?‹

Er hörte den Strom zu seinen Füßen rauschen, leise strudelnd, wo die Äste in die Flut hingen, und dumpf verklingend, wo Wurzelwerk vor hohlem Ufer stand. »Nein,« sagte eine dunkle Stimme über dem Wasser, »das wolltest du einmal werden, vor einem Jahr vielleicht noch, als du ihr Treue gelobtest. Als du sie fragtest, ob sie deine Frau werden wolle. Nun aber willst du kein Pfarrer mehr werden, und nun mußt du sie fragen, ob sie eine Magd Gottes werden will.«

»Aber wie soll sie das werden können?« fragt Nyland verzagt. »Liebt sie nicht helle Kleider und Ringe und Schmuck? Wollte sie nicht schon vor einem Jahr, daß ich mit ihr tanze? Und ist ihr Bruder nicht Student, und trägt er nicht eine bunte Mütze?«

»Deswegen mußt du sie eben fragen,« verklang die Stimme.

Da öffnete er leise die Tür und schritt durch den blühenden Garten zum Hause hinauf.

Sie sahen ihn erst spät gegen den dunklen Wall der Weiden. Sie verstummten mitten im schnellen Wort, bis eine helle Stimme aufschrie, jäh und sanft wie ein Vogel im Traum. Es war nicht die Stimme seiner Verlobten, sondern ihrer blinden Schwester Maria, die aus dem Rollstuhle die blassen Hände hob. »Andreas!« rief sie jubelnd. »Das ist Andreas!«

Er hielt erschüttert den Schritt an, sich zurückbeugend, als habe die Stimme über dem Wasser vergessen, ihm noch etwas zu sagen. Er empfing die Küsse seiner Verlobten und ihre frohen Vorwürfe, ohne ihrer inne zu werden, begrüßte die anderen, deren leise Zurückhaltung er traurig fühlte, und beugte sich dann über Marias Stirn, die er leise küßte. »Wie wußtest du,« fragte er gütig, »daß ich es sei?«

Sie hob ihr strahlendes Gesicht zu ihm empor. »Weil deine Füße anders gehen als alle anderen Füße,« antwortete sie. »Als ob du überall in der Kirche bist.«

»Also bitte nicht gleich eine Erleuchtungsszene, Andreas,« sagte Renate mit leiser Ungeduld.

»Haben weiß Gott genug Theologie in der Familie,« fügte ihr Bruder gelangweilt hinzu. »Wenigstens Examen geschmissen, Andreas?«

»Examen … ja … das habe ich auch gemacht …«

»Scheint unserm Schwiegersohn ziemlich gleichgültig zu sein,« bemerkte die Pfarrerin mit leiser Schärfe, während sie die Lampe anzündete.

»Nun rede doch, Andreas!« bat Renate, als sie um den runden Tisch saßen und er sie alle schweigend betrachtete. »Du bist immer in einer andern Welt. Hast du wenigstens tanzen gelernt inzwischen? Auch nicht? Geschrieben hast du auch kaum … was hast du denn getan inzwischen? Man verlobt sich doch nicht mit einer jungen, hübschen Dame und geht dann fast ein Jahr lang fort, so als wenn man einen Scheffel Erbsen bestellt und will ihn nach der Ernte abholen?«

»Ich habe gearbeitet, Renate,« sagte er leise, die Augen unruhig zum dunklen Garten wendend, »zum Examen … und auch in einem großen Sägewerk, am Gatter, mit Jons zusammen … er hat keinen Pflug, keinen Acker, und am liebsten möchte er wohl die Reichen totschlagen …«

»Allerhand!« meinte der Bruder und pfiff leise durch die Zähne.

»Ja, aber wenn ich Pfarrer bin,« fuhr er schneller fort, »dann will er zu mir kommen, zu uns, Renate, als Knecht. Er und Grita …«

»Wer ist das?« fragte die Pfarrerin mit offenem Hohn.

»Grita … das ist … das ist seine Frau … das heißt, sie sind noch nicht getraut, sie leben … bloß so … unter Gottes Hand …«

»Andreas!« Er sah, daß Renatens Augen sich mit Tränen füllten. Der Pfarrer nahm die Brille von den finster gewordenen Augen und beugte sich vor. Sein glattes, rosiges Gesicht, in dem es immer irgendwo zu lächeln schien, war ganz blaß geworden. »Andreas!« rief er beschwörend. »Bist du auf Irrwege geraten? Es ist viel gezweifelt worden an dir, als du fort warst. Aber ich habe dich verteidigt, mein Sohn, nicht nur aus christlicher Liebe. Soll ich nun erleben, daß eine falsche Lehre dich von uns führt?«

Andreas sah ihn nur grübelnd an und streichelte Renatens Hand, weil ihre Tränen ihn ergriffen.

»Sägewerk?« sagte der Bruder ironisch. »Womöglich in blauer Bluse mit Ölflecken durch die Straßen gezogen?«

Andreas nickte.

»Ja, zum Kuckuck, weißt du denn nicht, daß ich das Band deswegen verlieren kann?«

»Das … Band? Ach, mein Bruder, es gibt mehr zu verlieren auf Erden als Bänder.«

Sie starrten ihn schweigend an, wie er die Hände schmerzvoll faltete und die Augen schloß, als ringe er im Gebet um eine Gnade.

»Andreas!« schrie Renate. »Du hast etwas getan!«

Er blickte auf, lächelnd in seiner müden Trauer. »Ich habe niemand getötet,« sagte er beruhigend. »Ich bin nur ein anderer Mensch, und das erschreckt euch so. Ich habe einen neuen Weg gefunden, über die Straßen und Ströme hin; nun bin ich euch wie ein Fremder, der aus einem dunklen Walde kommt … Ich habe nicht getötet, aber ich will auch euch bekennen, was ich getan habe …«

Ein Vogel schrie über dem Strome, als stürze er aus hohem Fluge in die leuchtenden Nebel der Wiesen.

Lauschend wandte Andreas den Kopf. »Hört ihr?« sagte er mit glücklichem Lächeln. »Vielleicht ist es einer von denen, die ich erlöst habe … In einer Oktobernacht war es, als die großen Stürme über die Erde gingen. Da gab ich dem Tiere die Freiheit. Vielleicht habt ihr davon gelesen …«

»Du?« murmelte der Pfarrer und streckte unwillkürlich die geöffneten Hände gegen ihn, »An … dreas.«

»Nach der Zeitung war es ein Wahnsinniger,« sagte die Pfarrerin hart.

Andreas lächelte. »Ja, Mutter, die Menschen sind gern mit solchen Erklärungen bei der Hand … Aber ich habe bekannt, vor dem Universitätsrichter. Nur … er wollte nicht wie ich, nicht, daß ich ins Gefängnis kam. Und da ging ich meine Sünde bekennen.«

»Noch eine?« flüsterte Renate.

Er sah sie liebevoll an. »Du mußt nicht erschrecken, Renate,« sagte er sanft. »Ich habe gestohlen, als Kind. Ein silbernes Kruzifix vom Altar. Und habe es im Walde vergraben, wo es zehn Jahre gelegen hat. Ich grub es aus und kniete nieder in der Pfarrstube, wo sie alle saßen, und bekannte meine Schuld. So, das ist es, was ich euch sagen mußte.« Er sah sie der Reihe nach an, fröhlich, als erwarte er, daß sie ihn an ihre Brust zögen und küßten.

Aber sie bogen sich zurück vor ihm, und in Renatens weißem Gesicht öffneten die Augen sich wie vor einem Mörder.

»Ich muß euch erklären,« begann er bedrückt.

»Schweig!« schrie die Pfarrerin. »Ich habe es gewußt, von Anfang an. Den Verstand hast du verloren in der Gefangenschaft. Schande klebt an deinen Füßen, wo du gehst. Was willst du hier noch?«

»Ich stand am Gitter,« sagte er leise, »da unten an den Weiden, und wußte nicht, ob ich fliehen sollte. Aber eine Stimme sprach über dem Wasser: ›Gehe hin und frage sie, ob sie eine Magd Gottes werden will, nicht deine Frau, sondern eine Magd Gottes!‹ Denn auch ich will kein Pfarrer werden, sondern zuerst ein Knecht Gottes.«

Die Pfarrerin stand auf und nahm die Lampe. »So,« sagte sie laut, »dann packe nur dein Bündel, du Knecht Gottes, und ziehe in die Welt! Aber ohne Gottes Lohn und ohne eine Magd, verstehst du?« Und sie faßte mit hartem Griff nach Renatens Arm und ging mit ihr ins Haus hinein.

In dem bedrückten Schweigen, das hinter ihnen zurückblieb, wurde jetzt das leise Weinen der Blinden deutlich vernehmbar. Das blasse Licht des Mondes fiel aus nebliger Höhe auf Strom und Garten, ließ nach dem Verschwinden des hellen Lampenscheines die Erde nächtlicher und einsamer werden und das Weinen des blinden Mädchens wie den klagenden Jammer eines verirrten Kindes erscheinen.

»Was weinst du?« sagte der Student ungeduldig, sich in der Türe noch einmal umwendend. »Da hast du deine Erleuchtung … total übergeschnappt!«

»Andreas,« bat der Pfarrer hilflos, »trag's ihnen nicht nach … sie sind immer ein bißchen schnell … soviel Kummer … und so plötzlich … komm, du kannst bei mir auf dem Sofa schlafen … morgen wollen wir sehen …«

»Geh, Vater,« sagte er sanft. »Du sollst nicht Unfrieden haben … laß mich noch eine Stunde bei Maria sitzen. Sie wird dir alles erzählen.«

Dann schob er den Rollstuhl nach vorn, so daß er auf der obersten Treppenstufe sitzen konnte, den Kopf an ihre Knie gelehnt. Sie streichelte sein feuchtes Haar, und in der großen Stille hob sich nur das Rufen der Wasservögel über die Erde und ein ganz fernes Lied von den Flößen, dessen Worte die Weite nicht durchdrangen und dessen Klänge eintönig wie Glieder einer Kette in den ziehenden Strom fielen.

»Hörst du, Maria?« fragte er leise. »Und fühlst du nun auch, daß man so nicht leben kann? Daß man nicht schlafen kann, den Kopf seines Weibes neben sich, wenn draußen das Wasser zieht und die Vögel rufen und dieses traurige, ferne Lied erklingt?«

»Ich wußte es schon lange, Andreas,« antwortete sie.

»Ja du, Maria … weshalb ist sie nicht blind, Maria? Oder gelähmt? Oder eine große Sünderin? Wie kann ich denn solch eine Frau nehmen? Wo soll sie denn das Kreuz tragen? Auf ihren weißen Schultern etwa? Ach, daß ich das nicht schon damals sah! Aber ich weiß, arm und müde war ich und feige. Ein Glück wollte ich haben wie alle andern. In der Liebe wollte ich ertrinken, in der bequemen, süßen, berauschenden. Und der Heiland lag ja auch noch begraben …«

»Andreas,« flüsterte sie bange, die Hände über seinem Scheitel faltend, »welch einen schweren Weg willst du doch gehen!«

»Wenn du sehend wärest, Maria, du würdest ihn vielleicht auch gehen … Sieh, man muß doch sein Herz wie eine offene Schale halten, das muß man doch. Und dann muß man warten, bis das Korn hineinfällt. Sind wir nicht wie ein Acker oder wie ein Strom? Und wenn der Haß hineinfällt oder der Menschentand oder der Duft einer Speise, dann wächst es und der Mörder ersteht oder der Tanzende oder der Gierige. Aber wenn das Mitleid hineinfällt wie eine brennende Träne, muß dann nicht die Liebe wachsen? Muß sie nicht den ganzen Menschen anfüllen und seine suchenden Schritte lenken? Muß sie nicht wie eine Flamme uns durchlodern, bis wir nichts können als am Menschen verbrennen?«

»Sie haben ihn gekreuzigt, Andreas …«

»Ja, ich weiß. Und nun erzählen sie uns, alles sei in Ordnung. Er habe die Welt damit erlöst, ein für allemal, und wir hätten den Garantieschein in der Tasche. Und am Tor der Ewigkeit, da sei er nur aufzuzeigen: ›Dem Inhaber dieses wird bescheinigt, daß er Christ ist. Es wird gebeten, ihn ohne Aufenthalt in den siebenten Himmel zu führen!‹ Aber sie vergessen, daß man nach den Händen sehen wird, nach den Wundmalen, nach der Dornenkrone. Ich aber habe nicht vergessen, und so will ich nun gehen.«

Er stand auf, als führe die nächste Sonne den letzten Tag herauf, aber sie hielt ihn zurück. »Bevor du gehst, Andreas, erzähle, vom begrabenen Heiland. Es wird mir ein Licht sein, wenn du fort bist.«

Als er geendet hatte, sahen ihre blinden Augen wie die einer Entrückten in die helle Nacht. »Sie stand auf und wandelte,« flüsterte sie, und er fühlte ihren ganzen Körper erzittern. »Du sagtest es, und da stand sie auf … Ja, auch wenn sie in Wahrheit gelähmt gewesen wäre, sie wäre aufgestanden, ich weiß es … gehe fort, Andreas, o bitte, gehe fort, gleich!«

»Was ist dir?« fragte er erschreckt, sich über sie beugend.

Ihre kalten Hände glitten um sein Gesicht. »Wenn du … Andreas! … wenn du die Hand auf meine Augen legtest und sprächest: ›Ich sage dir, sieh!‹ dann würde ich sehen, die Welt, die Sterne, dich, Andreas, dich! Und ich darf nicht! Das Kreuz … halte es, daß ich es nicht fortwerfe … O weshalb gehst du nicht?«

»Maria!« rief er beschwörend. »Weshalb lästert ihr? Wie könnte ich das? Und wenn ich es könnte, wenn ich ein Arzt wäre, wolltest du blind bleiben?«

Sie stand schon an der Türe, mit dem Stock den Weg ertastend. »Verstehst du denn nicht?« schluchzte sie. »Fluchen müßte sie mir, Renate … denn bis ans Ende der Welt würde ich mit dir gehen.«

»Umsonst quälst du dich, Maria,« sagte er, sich beugend unter neuer Last. »Machtlos sind meine Hände … ich will jetzt gehen. Zu einem Kameraden soll ich hinter der Grenze, am Strom. Wenn ich wiederkomme, will ich Renate noch einmal fragen, und auch du wirst dann sehen, daß ich ein sündiger Mensch bin, blinder wohl noch als du …«

Er blieb auf den Steinstufen sitzen, den Kopf an das Holz des Pfeilers gelehnt, und blickte in die helle Nacht hinaus. Er sah die Sternbilder versinken und neue um die Himmelsachse steigen; und hörte den Strom durch das Land gehen und die blassen Gotteshände am Leid der Menschen weben; und seine Seele lag ganz still, wie erstes Linnen unter dem Tau der Nacht, und empfing die schwere Saat, die schweigend aus der bestirnten Höhe niederrauschte.

Erst als die Hähne krähten, ging er langsam zum Dampfer, setzte sich neben der Ankerwinde auf eine Taurolle und fuhr so Stunden um Stunden, die blühende Erde voll Andacht in sich trinkend, so schwer von Glück, daß ihm war, als sähe er den Heiland mit bloßen Füßen über das dunkle Wasser des Stromes schreiten, immer vor ihm her und dorthin, wo am fremden Horizont die Wälder blau aus dem letzten Lichte stiegen und fremde Worte durch den Abend klangen.

Am nächsten Morgen erst stieg er an Land, begrüßte voller Herzlichkeit seinen Kameraden aus den Tagen des Krieges und der Gefangenschaft, der hier ein großes Sägewerk verwaltete, und ging drei Tage und drei Nächte mit ihm durch die Rätselfragen des Seins und des Lebens, die sie damals zueinandergeführt hatten. Der Freund war verheiratet, mit einer hübschen Frau, die Nyland nach einer Unzahl von Dingen fragte, von denen er nichts wußte, die über die Einöde klagte, in der sie leben müsse, und die sich schließlich, nachdem sie nur ein dumpfes Echo aus ihm herausgerufen hatte, an den Flügel setzte und ganze Stunden mit den Klängen rasender Tänze füllte, bis sie zuletzt ein wenig zu weinen begann und dann über das verzagte Gesicht lachte, mit dem Andreas vor dieser seltsamen Welt stand. Am nächsten Tage schon fuhr sie im Wagen über Land, mit der Angabe, erst wiederzukommen, »wenn die Eulen aufgewacht seien«.

Der Freund aber bestieg in der Frühe des vierten Tages mit Andreas das Motorboot und führte ihn ein paar Stunden stromaufwärts, wo sie einen großen Wald ansahen, den das Sägewerk kaufen sollte. Sie gingen den halben Tag unter den schweren Ästen, die nach Harz dufteten, hörten die Wildtauben aus den hohen Wipfeln rufen und saßen gegen Abend wieder am Ufer, um die Sonne sinken zu sehen, bevor sie die Heimfahrt begannen.

Ein fernes Gewitter dröhnte leise über dem Strome, schob eine dunkelblaue Wolkenwand hinter roten Kiefernstämmen langsam in die Höhe, bis die Sonne in brennenden Schleiern ertrank, und warf einen fahlen Schein über die starren Wipfel der Uferwälder, zwischen denen das graue Wasser in dumpf tönenden Wirbeln dahinzog.

»Wie traurig das alles ist, Andreas,« sagte der Freund, den Kopf auf die Brust neigend und so über die Landschaft blickend. »Der Strom und diese weiten Wälder, unsere Arbeit und das Daheim, das Morgen und das ganze Leben, so traurig, so hoffnungslos … es ist schön, daß du gekommen bist; denn nun weiß ich doch, wie glücklich der Mensch sein kann, wenn er irgendwie liebt. Ich, sieh einmal, ich kann nicht hassen und nicht lieben. Zum Töten bin ich zu feige und zum Leiden auch, und so treibe ich das Leben entlang, wie die Rinde dort auf dem Strom … nein, nein, laß mich schon sprechen, es ist doch so … die Frau, siehst du, ich habe sie lieb; aber sie spielt Tänze, wenn ich weinen möchte, und wenn sie weint, dann sehe ich ihr zu wie einem Kinde. Sie will fort von hier, und ich werde mit ihr in eine Stadt ziehen, in die Heimat. Aber was wird anders sein? Sie wird nicht mehr weinen, aber ich werde auf ihr Lachen sehen wie auf ihre Tränen. Ich werde arbeiten wie hier, Zahlen schreiben, Briefe schreiben, Wälder kaufen und zerschneiden. Und manchmal werde ich in eine Gesellschaft gehen und sprechen, von diesen Wäldern, von Holzpreisen, vom Vaterland, von Gott und Menschenschicksalen, und immer wird es sein wie jetzt, dies leise Dröhnen aus irgendeiner Ferne, dasselbe fahle Licht und dasselbe dunkle Rauschen … denkst du manchmal an den Tod, Andreas? Du schüttelst den Kopf und lächelst … aber ich, ich denke daran … wenn ich liegen werde und sagen: ›Morgen … oder in drei Tagen … da ist es aus … Eine andre Hand wird deine Uhr aufziehen …‹ ja, auch solche Kleinigkeiten sind es, Andreas … ›wer wird deine Kleider tragen? Wie wird die Sonne in deinem Schlafzimmer scheinen? Und dein Kind, wenn sie es zu dir führen, wie wird es auf deine weißen Lippen sehen?‹ So denke ich, Andreas, und dann ist das Herz mir so schwer; denn es ist ja nichts, was geschieht, und das ist so furchtbar … Nichts, nur so, als ob man ein Licht löscht unter tausend anderen, und es ist doch ein Leben, das zu Ende geht, Andreas, ein Leben! Ist das denn gar nichts, und weshalb lebt man denn, wenn es gar nichts ist?«

Er stand auf, ohne eine Antwort abzuwarten und stieg ins Boot. »Hier, Jurgies,« sagte er mit abwesendem Lächeln zu dem Bootsmann, »nimm ein paar Zigaretten und bringe uns gut nach Hause, wirst auch müde sein!«

Nach einer Weile erst legte Andreas seine Hand auf seines Freundes Arm. »Sieh,« sagte er mit einer tröstenden Gewißheit in der Stimme, »schon deshalb lohnte es zu leben, daß er nach Jahren, wenn er mit einem andern hier fährt, an solch einem Abend sagen kann: ›Ja, Herr, er war ein guter Herr, der vorige. Bringe uns gut nach Hause, Jurgies, sagte er. Und dann legte er mir die ganze Hand voll Zigaretten … die Erde soll ihm leicht sein …!«

»Es ist ein bißchen wenig, Andreas.«

In der Frühe des nächsten Tages bestieg er die große Holztraft, die stromabwärts nach der Seestadt ging. Auf dem mittelsten Floß hatte der Freund ihm eine Rohrhütte bauen lassen, und Andreas stand mit strahlenden Augen auf den feuchten Stämmen, noch ein paar Abschiedsworte zum Ufer hinüberrufend. »Sieh,« sagte er dankbar, »das ist wie eine Fahrt zu Gott, und bevor ich in mein neues Amt gehe, sollen die Sterne mich noch einmal erfüllen wie eine Schale … und du selbst, werde nicht müde. Auch zu dir werden Gottes Füße kommen.«

Sie warfen die Taue los, die langen Ruder knirschten in ihren Sätteln, die Weidenbänder ächzten, und langsam trieb die Traft der Mitte des Stromes zu, während der langgezogene Ruf der Floßknechte klagend über das Wasser scholl. Das Sägewerk versank hinter der nächsten Biegung, und nur die taufunkelnden Wälder säumten die sonnenbeglänzte Straße, über der die Möwen schrien und der Kuckuck rief.

Die Hände unter dem Kopf verschränkt, das Gesicht im Schatten der Hütte, lag Andreas auf seinem Floß, den Blick stromabwärts gerichtet, die nackten Füße vom Winde gekühlt. Ganz nahe unter seinem sonnengetränkten Körper hörte er das Wasser zwischen den Stämmen murmeln, und vor ihm faltete die Erde ihr blühendes Kleid langsam auseinander, Wälder und wehendes Korn, Dörfer und dunkles Moor. Und es war ihm in diesem segenvollen Gleiten, als spüle sich langsam der Lärm und Ruß der Städte aus seiner Seele, als verwasche sich langsam das Blut des Lebens aus weißem Linnen, und als habe er nur so zu liegen und zu warten auf die nächtlichen Hände, die das buntfarbige Muster der Zukunft einzusticken hatten in den Saum seines Kleides, bevor er aufstände und hinausginge an den Acker, der seiner wartete.

Als die Sonne sank, kam der Floßherr und lud ihn achtungsvoll zu seinem Feuer, um ihm heißen Tee zu reichen gegen die Nebel, die sich über der Flut hoben. Sie saßen beieinander, während vom Vorderende schon die Klänge der Harmonika emporstiegen und die traurige Weise des alten Sonnwendliedes mit klagendem Ruf an die Wälder stieß:

»Jaa … nitte … Jaa … nitte
Jaa … nitte … Jaa … nitte
Lii … i … gooh …
Lii … goo …«

»Wen rufen sie?« fragte Andreas ergriffen.

»Den heiligen Johannes, Herr. So haben sie vor hundert Jahren schon gerufen und noch viel länger.«

Sie sprachen leise, vom Land und seinen Leuten, vom Hunger und vom Leiden, vom Haß und von der Liebe des Menschen. Und in den Pausen hörten sie den Strom ziehen und die Klänge der Lieder und die Nachtvögel, die über den Wäldern schrien. Der Mond stieg über die Bäume, goß sein weißes Licht aus der geneigten Schale und warf die Schatten der Floßknechte riesengroß über das helle Wasser. Sie zündeten die Laternen an zu beiden Enden der Traft und trieben weiter durch die Nacht, als habe der Tag sich nur leise verdunkelt und als stiegen die Stunden immer gleich und lebendig wie die Eimer eines Paternosterwerkes aus der segenströmenden Tiefe.

Als Andreas zu seiner Hütte ging, sah er eine gebeugte Gestalt am Rande des Floßes sitzen, die Füße im Wasser, den grauen Kopf in die Hände gestützt. Er hatte ihn am Morgen für einen der Knechte gehalten und trat nun zu ihm, weil die Einsamkeit des Menschen ihn rief.

»Was tust du?« fragte er freundlich. »Die Fische werden an deine Füße stoßen.«

Der Sitzende hob sein vom Monde beschienenes Gesicht, dessen bäuerische Schwere einen stillen Frieden trug. »Die Sünde spüle ich fort, Herr,« sagte er lächelnd, »die große Sünde. Ein Pilger will ich werden. Nach meinem Dorfe will ich fahren, wo ich geboren bin. Die Schwelle will ich küssen, wo meine Mutter saß, als ich ein Kind war. Und von da will ich ausgehen, barfuß, den ganzen Strom hinauf. Als ob ich noch einmal mein Leben anfange, weißt du. Denn Christus hat bei mir angeklopft, daß ich erkannte, und nun will ich von ihm predigen, so gut wie meine Zunge kann.«

»Und deine Sünde? Was hast du getan?«

»Vergessen habe ich, Herr. Das ist es. Vergessen und gelebt. Wie die andern, wie ein Tier. Gegessen und getrunken und geschlafen. Ist das nicht Sünde genug? Und sieh, gestern abend, da sitze ich vor meinem Haus, und da kommt ein Kind durch das Dorf, ein fremdes Kind, ein Mädchen. Sie sagen ja, es ist das Lehrerkind aus dem nächsten Dorf, und ich habe es auch hingebracht und abgegeben, aber ich glaube es nicht. Und die Leute lachen hinter ihm her. Und es kommt zu mir, Herr, und sieht mich an und sagt: ›Wohnt hier Jesus Christus?‹ Das war es, Herr, das allein. Und wie ich frage, so und so, da sagt es, die Mutter hat gesagt, überall wohnt Jesus Christus, bei allen Menschen. Da ist es suchen gegangen, denn es war ein wunderliches Kind, und die Leute sagen, daß es krank ist. Aber wie es mich ansah, Herr, mit seinen frommen Augen, da geschah es in mir, und nun spüle ich die Sünde von meinen Füßen.«

»Und wovon willst du leben?« fragte Andreas verwirrt.

»Sie werden mir geben, Brot und Wasser und Salz … du willst ein Pfarrer werden, Herr, sagen sie auf dem Floß. Aber laß dir raten, Herr, wohne nicht in den steinernen Häusern, an den Kirchen, und warte nicht, bis die Leute zu dir kommen. Ziehe deine Schuhe aus und gehe durch dein Land, und frage an jedem Haus: ›Wohnt hier Jesus Christus?‹ Denn wenn das Kind nicht gekommen wäre, Herr, dann würde ich weiter so leben. Und glaub' mir: viele sitzen so und warten, und wissen nicht, daß sie warten. Und könnten auch so sein wie ich, die Füße im Wasser und ohne Angst.«

»Ich danke dir, Bruder,« sagte Andreas leise. »Ich danke dir.«

Als er nach einer Woche im Kirchdorf wieder ans Ufer gestiegen war, ging er mit einer großen Ruhe im Herzen nach dem Pfarrgarten, die Hände ohne Beben nach den Würfeln streckend, die ihm fallen sollten.

Es hatte geregnet, und schwere Wolken klafften am Himmel auseinander. Die Sonne schien noch nicht wieder, aber auf dem ganzen Westhorizont erhoben sich weiße Lichtbalken, schräge gestellt, und neigten sich in ein dunkelblaues Wolkengebirge, dessen Ränder von dem Licht erglühten, das hinter ihm stand. Die Weiden tropften, die Schwalben kreisten hoch über dem Strom, und der Wind, der haffwärts zog, war gesättigt vom schweren Duft der Wiesen.

Andreas ging rasch, als habe er die Fahrt zu Gott nur unterbrochen und als werde er gleich wieder umkehren, weil das Letzte ihm noch nicht geworden war in diesen Tagen und Nächten des großen Schweigens.

Der Garten blühte, aber das Haus lag tot und erstorben, und nur die Blinde hob wie damals die Hände ihm entgegen. Aber ihre Lider waren geschlossen, und sie hielt seine Hände ruhig in den ihrigen. »Du bist in einem stillen Lande gewesen, Andreas,« sagte sie, »ich habe es gefühlt, denn meine Seele ist wieder ruhig geworden.«

»Ich wußte es,« sagte er fröhlich. »Du wirfst das Kreuz nicht fort.«

»Vielleicht hätte ich es doch versucht,« flüsterte sie, das Gesicht abwendend, »aber sie hat uns belauscht, Andreas. Sie wußte, was ich gesagt habe. Sie war sehr böse, mit Recht war sie es, und ich habe gebüßt … nun soll ich dir ihre Antwort geben; sie wollte dich nicht gleich sehen, hat sie mir gesagt. Aber ich soll dich hinführen, wo ihre Antwort liegt. Es wird wohl ein Brief sein, ich weiß es nicht.«

Sie führte ihn den Buchengang entlang zu der Stelle, wo an der Hinterwand der Jasminlaube eine einzelne hohe Fichte stand. Sie wollte seine Hand nicht, sondern ging sicher und gerade wie in ihrem Zimmer, nur mit dem Stock leise vor sich hintastend.

»Hier sollst du dich bücken,« sagte sie, »es wird wohl ein Brief sein oder irgendeine Überraschung. Sie war sehr froh in diesen Tagen, und der Bruder mußte mit ihr tanzen.«

»So,« meinte er unruhig, »aber ist es nicht etwas seltsam? Sie hätte es dir doch geben können.«

»Vielleicht wollte sie, daß es auch für mich eine Überraschung ist,« antwortete Maria lächelnd. »Hast du es schon?«

Er bückte sich und scharrte einen künstlichen Hügel von altem Laub zur Seite. Dann hob er plötzlich die Hände auf wie über einem giftigen Tier, während ein leiser Laut des Schmerzes aus seiner gebeugten Brust stieg. Jetzt erst gedachte er seiner Stunde im Winterwald und daß man ihn zwang, in niedrigem Haß, noch einmal zu tun, was nur einmal getan werden durfte.

»Was ist?« fragte sie erschreckt. »Ist es ein Brief, Andreas?«

»Ja,« sagte er mühsam, »ein Brief … ach, du armes Menschenkind, wie dunkel muß dein Herz gewesen sein …«

Er hielt das Blatt und den Ring noch in der Hand und blickte in trauriger Verwirrtheit zum Himmel auf. Die dunkelblaue Wolke war tiefer zum Horizont gesunken. Die schrägen Balken des Lichtes waren flammender geworden, und in ihrem Schnittpunkt loderte schon der Rand der wiederkehrenden Sonne.

»Nimm den Brief, Maria,« sagte er, den neuen Glanz schon auf der Stirne, »und hier den Ring. Gib ihr beides und meinen Ring dazu. Und sage ihr, der Knecht Gottes brauche das Gold nicht mehr. Ich habe unrecht getan, daß ich sie auf meinen Weg nehmen wollte, und ich bitte sie, mir zu vergeben. Ich weiß nun, daß ich nicht nur Vater und Mutter zu verlassen habe, sondern alle, alle, deren Liebe mich mit Glück erfüllt. Denn ich habe anders zu lieben als mit einer menschlichen Seele … und auch du leb' wohl, Maria. Nein, sprich nicht mehr. Es ist nun Zeit für mich, daß ich das Letzte in den Strom werfe und daß ich die Sünde von meinen Füßen spüle wie er.«

Er küßte ihre kalte Stirn und ging schnell durch den Garten und an den Weiden entlang zur Traft. Die Uferböschung mit den Flößen war menschenleer. Mit tausend Stimmen rief das Wasser nach ihm. So trug er wie ein Träumender die schweren Ruder des vordersten Floßes bis auf eins zurück auf die anderen Stämme, schnitt die Weidenbänder durch und glitt nun auf dem einzelnen Floß langsam in den Strom hinaus, mit schwerer Mühe es wendend, bis das Ruder hinten lag und es in der Mitte des Wassers ruhig abwärts trieb, dem flammenden Abendhimmel entgegen.

Der Wind wurde stärker, die Rohrwände beugten sich silbergrau zu beiden Seiten in die rauschende Flut, die Wolkenwand zerriß zu schweren, langgeschleuderten Wogen, Feuer brach aus dem wechselnden Geklüft, wachsend und steigend, bis die Berge zerfielen, in dunklen Blöcken hinter den Horizont sanken und eine einzige große Glut in den Abend stieg, daß die feuchten Stämme des Floßes brannten, der einsam Schauende über dem schweren Ruder, das breiter wachsende Band des Stromes, Wiesen und weichendes Land, und zuletzt das Haff wie eine Schale glühenden Erzes um ihn schwoll, gen Abend, bis an den schwingenden Wall der Nehrung, der fahlgrün gleich dem aufgebogenen Rand der Schale die Abendröte zerriß.

Wie eine Feuermühle reckte der Leuchtturm aus dem fernen Dünengebirge sich in den Untergang, und das Kreuz seiner Strahlenarme griff mit vier wagerechten Flügeln drehend und suchend in den Abend hinaus, schöpfend und schöpfend, bis die Glut sich senkte und die vier Flügel immer schärfer und flammensatter durch die Unendlichkeit des Raumes fegten.

Im ausstehenden Strom trieb das Floß am dunkelnden Ufer hinauf nach Norden, der Seestadt zu. Der rote Glanz über den Stämmen erlosch, Leuchtfeuer sprangen links und rechts aus der Nacht, aber immer noch kniete Andreas Nyland neben dem schweren Ruder, die Arme hoch und weit nach den verglühenden Dünen gehoben, und seine entrückte Seele, alles Irdischen sündlos und gierlos entbunden, flüsterte mit lächelnden Lippen: »Gott … mein Gott! … O du mein Glühender … mich Verbrennender …!«


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