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X.
Das Antlitz Gottes

Als Andreas spät erwachte, trug er ein dumpfes Gefühl des Schmerzes in sich, als habe man ihn mitten aus einer weiten Wanderung gerissen und zwischen engen Wänden in eine träge mahlende Mühle gestellt. Ein windstiller Sonnentag stand vor dem Fenster seines ärmlichen Zimmers, Möwenschrei fiel über den Garten, und mitunter glitt langsam und weich der Schatten einer unsichtbaren Wolke über die Zweige der Bäume. Der Hund saß vor dem Bett, und seine feuchten Augen warteten in hingegebener Liebe auf die erste Bewegung seines Herrn.

»Anima,« sagte Andreas leise und erschrak vor dem sanften Klange des Wortes, das aus einer verborgenen Tiefe aufgestiegen war.

Der Hund hob die Pfoten auf den Bettrand und leckte die Hände des Liegenden. »Dann sollst du so heißen,« sprach Andreas ihm zu. »Einen sinnlosen Namen hast du geführt, sinnloser als die Blumen, durch die du jagtest. Nun will ich dir einen Sinn des Lebens geben, wie du ihn mir gegeben hast.«

Er lag noch eine Weile regungslos, die Hand auf dem Kopfe des Tieres und schmerzlich bemüht, die Träume der Nacht ins Licht zu heben, große, weitgeschwungene Träume, deren dunkles Nachbild an rauschende Flügel gemahnte und an Hornruf, der von dunklen Wäldern widerhallte. Aber es gelang ihm nicht. Nur ein leises Erschrecken blieb im verstörten Blute und ein kaum merkliches Schwanken des Bodens, auf dem das Haus des Lebens stand.

Bevor er zu seinen Kranken ging, schritt er durch die Zimmer seiner Frau und war wie in einer fremden Stadt, wenn man von der Treppe des Bahnhofs in den Lärm der Straßen blickt.

»Habe ich die Ewigkeit verkauft um ein Linsengericht?« flüsterte er an der Schwelle, zurückblickend, und auf der Straße trat er in einen Torweg, als die Schläge der Turmuhr über die Dächer rollten, weil ihm war, als würfen die Glocken sich über ihn, um ihn zu ersticken unter erzenem Dach.

»Ist es wahr, Herr Pfarrer?« fragte die Fischerstochter, als er zum Abschied ihre gelähmte Hand streichelte. »Das mit dem Tiergarten … was die Leute erzählen?«

»Ja, es ist wahr,« antwortete er lächelnd.

»Wie sie jetzt fliegen mögen,« flüsterte sie, die traurigen Augen zum Fenster wendend, »über dem See und über dem grünen Wald … ich habe immer so gerne gesehen, wenn Vögel fliegen, Herr Pfarrer …« Und sie schloß die Augen und wandte das Gesicht zur dunklen Wand.

Andreas aber verließ die Stadt. Er ging an den Häusern vorüber, die auf ihn warteten, an Menschen, die mit leiser Scheu ihn grüßten, durch den Klang der Kirchenglocken, der ihm folgte und den er mit der Hand zur Seite schob wie den Zweig eines Baumes am dunklen Waldrand. Erst von einer fernen Höhe blickte er auf die Stadt zurück, auf Dächer, Gärten und Turm. Ein leiser Nebel verhüllte die Ferne, und die ersten Pflüger wendeten die geerntete Scholle zum Licht. Langsam und ruhevoll schritten sie über die braune Fläche, stießen lautlos gegen die dünne Wand des Nebels, die Tore der Ferne eröffnend, und verschwanden hinter ihr, als dehnten die Felder sich bis an den Rand der Ewigkeit und als liefen sie bis an Gottes Füße, der das Saatkorn mischte in seinem Kleid.

»Anima,« flüsterte Andreas, »wir müssen wandern …«

Sie gingen den ganzen Tag, den See hinunter und am anderen Ufer wieder hinauf. Sie erhielten Speise und Trank und freundliches Weggeleit. Sie kehrten bei Pflügern und Hirten an, bei letzten Blumen und spielenden Kindern, und um die Mittagszeit, als sie im warmen Ufergras lagen, rauschte ein Kranichzug hoch über sie hinweg dem Süden zu. Der Schrei der Vögel stieß gegen die schweigende Erde wie eine Lanze gegen einen Schild von Erz, und Andreas streckte die gefalteten Hände empor, als höbe er ihn über seine Brust zu lauterem Widerklang.

Bei der Heimkehr stand er oft an den Kreuzwegen still, in die Ferne schauend, ob nicht eine gebeugte Gestalt am Straßenrande sitze und auf ihn warte. Mit leise wachsender Trauer ging er weiter, und als eine alte Holzsammlerin ihn fragte, ob er krank sei oder einen Liebeskummer habe, lächelte er mit erzwungener Fröhlichkeit und blickte ihr dann lange nach, wie sie schwankend und gekrümmt durch den Staub der Straße sich schleppte. »Es fehlt uns noch einiges, Anima,« sagte er, mitleidig seinen Gefährten betrachtend, »bis der Menschentrost von unserer Stirne leuchtet. Wir dachten reif zu sein, aber unser Herbst ist noch nicht da …«

Es kam ganz von selbst, daß sie in den Weg einbogen, der zu Jons führte. »Er wird pflügen,« sprach Andreas zu seinem Hunde, »und wie könnten wir fort, ohne das gesehen zu haben?« Und sie hielten es für ganz in der Ordnung, daß sie noch eine Begegnung hatten an diesem Tage, der ohnehin so voll von Wundern war.

Es war am Rande eines Birkenwaldes, der, sonnenfunkelnd und vom Herbste gestreift, wie ein Feuer gen Himmel stieg. Ein Stoppelfeld lief sanft geneigt zu seinem Hange empor, wo Ebereschen sich über eine ringförmige Schanze beugten und Brombeergestrüpp aus blühender Heide wucherte. Kriegsgeschrei erfüllte die stille Luft. Dorfkinder, die mit Besenreisig heimkehrten, hatten dort oben ihre kleinen Wagen zusammengestellt und eine Bohnenstange mit einem schmutzigen Tuch als ein Fähnlein darübergepflanzt. Vorne stand das Kriegsvolk, lanzenbewehrt; dahinter kauerten die Mädchen, Erdklumpen zureichend, so daß das Ganze von einiger Entfernung der Wagenburg aus Urvätertagen gleichsah, das harte Los der Schlachten gleichmäßig über Mann und Weib verteilend und von dem strengen Willen getragen, Sieg oder Tod zu entscheiden, bevor die Sonne sank.

Als der Angriff zum zweiten Male die braune Höhe hinaufbrandete, trennten die eng verbundenen Weggefährten sich, ohne es zu merken. Während der Hund mit leidenschaftlichem Gebell sich der Masse der Stürmenden anschloß, trat Andreas aus dem Walde heraus in die Wagenburg, kaum bemerkt in der Hitze des Kampfes, legte die rechte Hand fest und schützend um das Fähnlein und blickte zwischen Lächeln und Ergriffenheit auf das Bild zu seinen Füßen. Ein Stück der braunen Erde traf ihn gegen die Brust, und er beugte sich schon fröhlich nach einer Waffe, als fast unter seinen Händen ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, das den Kopf über den schützenden Wagen hob, ziemlich hart an der Stirne von einem geschleuderten Lehmstück getroffen wurde. Der jähe Schrei des Kindes lähmte für Augenblicks Länge den Kampf, und als Andreas mit erschreckter und liebevoller Gebärde es in seine Arme hob und ein paar Blutstropfen von der beschmutzten Haut wischte, erstarb ganz plötzlich der Lärm der Schlacht, und in das tiefe Schweigen fiel nur der ferne Laut des Hähers aus dem Eichenwald.

»Mein Liebes,« sagte Andreas sanft, »es tut nicht mehr weh, nicht wahr?«

Noch waren die jungen Lippen von schwerem Schmerze entstellt, aber das Weinen verstummte, und Andreas fühlte nur den Schlag des erschütterten Herzens seine Brust durchdringen. Die großen blauen Augen waren fremd zu ihm aufgeschlagen, von Tränen verdunkelt, und Andreas sah mit tiefem Erschrecken sein eigenes Antlitz in der lebendigen Tiefe sich spiegeln. Und wie er sich vorbeugte, ergriffen von einem nie gekannten Wunder, sah er das Tor der fremden Seele sich langsam öffnen, sah das Dunkel sich erhellen, die Scheu sich lösen und zerfließen wie Wolken im Untergang, und ein anderes Wesen schlug groß und klar die letzte Hülle vom letzten Heiligtum zurück und bot sich lächelnd dar wie eine Knospe dem ersten Abendregen.

»Menschenkind,« flüsterte Andreas, »o du Menschenkind …«

Langsam wich die Befremdung von der lautlosen Schar, und endlich sagte eine kühne Stimme halb unwillig: »Is ja nich so schlimm,« womit der Bann nachdrücklich gebrochen war.

»Was war es denn für ein Spiel?« fragte Andreas, um etwas zu sagen.

»Deutschland hoch in Ehren,« antwortete der Wortführer und schlug stolz an die Fahnenstange.

»So, so … Deutschland hoch in Ehren … das ist schön …« Und er wandte sich verwirrt und blickte mit dem Kinde auf dem Arm über die schimmernden Felder, durch die der Pflug ging und hinter denen bläulich die Wälder standen, von der tiefen Sonne überflammt, die mit schrägen Balken in eine silbergraue Wolke griff.

Mühsam nur fand er sich zurück, sah noch einmal in die klaren Kinderaugen und setzte das Mädchen dann behutsam in einen der kleinen Reisigholzwagen. »So,« sagte er, »nun fahrt ihr langsam nach Hause mit eurer verwundeten Herzogstochter und feiert ein Friedensfest … ich muß noch weiter.«

Lange stand er noch auf der stillgewordenen Schanze und sah dem Heereszuge nach, wie er buntfarbig und schwerfällig an hügeligen Ackerrainen entlang dahinzog und wie über den hellen Kinderköpfen das schmutzige Fähnlein im leisen Winde flatterte.

»Komm, Anima,« sagte er leise. »Das ist ein wunderbarer Tag …«

Das Abendrot stand schon über der Erde, als sie Jons erblickten. Er mußte den ganzen Tag gepflügt haben, denn das Feld glänzte frisch und staublos, und der Geruch der Erde reichte bis an den Rand des Waldes, von dem sie ihm zusahen. Er hatte nur noch ein paar Pflugbreiten vor sich, aber der Acker war lang, und aus den Fichten fiel schon eine leise Dämmerung. Doch blieb sein Schritt von unveränderter Ruhe, als sei es das Zeitmaß der Ewigkeit, in dem sie wandelten: Pferde, Pflug und Pflüger.

Als Andreas ihn sah, schritt er von ihnen fort, den leisen Hang hinauf ins Abendrot hinein. Dort, vor der Wand des Himmels, wendete er das Gespann, großartig ins Unendliche ragend, das die leuchtende Bühne für ihn spannte, und senkte von neuem das Eisen ins leise Rauschen, mit dem er ihnen wieder näherwuchs. So schritt er von Aufgang zu Niedergang, und jedesmal war es, als stieße er mit leisem Klang an das dämmernde Gewölbe, das die Erde umschloß.

Aber nicht dieses war das Überwältigende, das aus der abendlichen Stunde floß. Sondern das Lied war es, das aus seinem Munde über die Ebene ging. Er sang. Fremde, langgezogene, traurige Worte. Sie schwangen in schweren, tönenden Wellen durch den Abend, sie verzitterten an der geröteten westlichen Wand, wenn das Gespann in der Ferne in den Himmel wuchs, und sie stiegen lauter, im Widerhall sich überdrängend, wenn der Pflug sich gegen die Wälder senkte. Und die Trauer in ihnen hatte etwas Wildes, der großen Einsamkeit sich Bewußtes, als ob sie sich berufen fühle, das unendliche Gewölbe über sich erdröhnen zu lassen und das große Schweigen zwischen der dunklen Erde und den ersten Sternen mit dem Trotz und der Klage des Menschen zu erfüllen, der aus der Ernte in den Samen ging und aus dem lichten Tage in das Dunkel der Nacht.

Immer mehr verfloß das Gespann und der Pflüger mit den wachsenden Schatten, aber unverändert traurig und stolz ging das Lied über die Erde wie Schwingenschlag eines großen Vogels, der sich von der Scholle hob; und erschauernd fühlte Andreas, daß der Weg dieses Tages ihn an das Tor einer Ewigkeit geführt hatte, nach der seine Hände in dunklen Träumen sich vergeblich gefaltet hatten.

Erst als die Töne schwiegen, betrat Andreas das Gehöft. Es war schon dunkel geworden, nur am östlichen Himmel stand ein heller Schein, wo der Mond aus dem Geklüft der Wipfel steigen wollte. Grita saß in der Küche neben dem Herdfeuer, die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf an die weiße Wand gelehnt, und sang ein leises Wiegenlied, während ihr Fuß von Zeit zu Zeit die Wiege schaukelte, in der ihr Kind schlief. Der Raum war dunkel, nur vom rötlichen Schein des Feuers leise durchflackert, so daß Grita sich vorbeugen mußte, um den Eintretenden zu erkennen.

»O Herr,« rief sie aufspringend, »ich mußte soviel denken an Sie heute, und nun sind Sie es selbst.«

Er drückte sie auf ihren Platz nieder und setzte sich ans Feuer.

»Alles singt heute, Grita,« sagte er, das Kind betrachtend. »Was für ein wunderbarer Tag … hast du gehört, wie Jons gesungen hat? Noch niemals habe ich einen Menschen so mit der Erde und den Sternen sprechen hören.«

»Er kann pflügen, Herr, das ist es,« antwortete sie mit leisem Seufzen.

Er sah sie besorgt an. »Und du, Grita? Hast du nicht dein Beet mit schwarzer Erde, und hat es nicht aufgehört zu weinen, seit ihr das Kind habt?«

Sie senkte die Stirne. »Es ist so, Herr … aber …«

»Nun, Grita?«

»Wir tragen kein Kreuz, Herr,« flüsterte sie. »Und wenn Sie kommen, so arm wie damals in der Stadt, dann ist es mir wie ein Stein auf der Brust … und neulich … es hat im Kreisblatt gestanden … sie verfolgen Sie, Herr.«

Er winkte mit der Hand. »Laß, Grita, dafür habe ich ihn gefunden.« Und er streichelte den Kopf des Hundes, der müde ins Feuer blinzelte.

Dann kam Jons, fröhlich und müde, und sie saßen unter leisen Gesprächen um den weißgescheuerten Tisch und plauderten zwischen Lächeln und Wehmut von ihrer Zeit im Hause des Leidens, leise, um das Kind nicht zu wecken.

»Weißt du, Grita,« sagte Andreas, die Wiege mit der Hand berührend, »daß ich heute zum ersten Male Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen habe?« Und er erzählte das Erlebnis von der Birkenschanze. »Es muß schön sein, so nahe bei Gott zu wohnen, daß man ihn jeden Tag schauen darf.«

»Mir ist so, Herr,« antwortete sie mitleidig, »wie wenn Sie jetzt am Strome stehen und hören das Weinen so wie ich damals.«

»Nicht ganz so, Grita,« sagte er gedankenvoll.

»Hat sie dir erzählt, Andreas, von den Kreuzträgern?« fragte Jons.

»Nein, ich weiß nichts.«

»Sie haben eine Gemeinschaft aufgemacht, Andreas, so wie bei uns zu Hause. Der Hirt vom Gut, ein paar vom Torfbruch und noch andre. Sie singen am Sonntag, denn es ist ihnen manchmal zu weit zur Kirche, und jedesmal betet einer. Und letzten Sonntag kam einer mit einem großen Holzkreuz auf den Schultern und sagte, sie müßten sich einen Namen geben, die Kreuzträger, und sie müßten auch so etwas wie ein sichtbares Zeichen haben, ein Kreuz, woran man sie erkennen kann. Und Grita ist auch dabei … Du bist nicht ganz unschuldig daran, Andreas, denn sie sagen, daß du ihr Stifter bist.«

Grita war tief errötet. »Wir wollen Sie schützen, Herr,« sagte sie leise, »wenn Sie uns brauchen, und wir machen Ihnen keine Unehre. Und Herr Bulck hat gesagt, was Sie sagen und tun, das ist immer gut.«

»Es ist gleich, wie der Mensch zum Kreuze kommt, Grita,« antwortete er mit traurigem Lächeln. »Nur daß er hinkommt. Ob durch das Tier oder durch das Kind oder durch den Pflug … es ist alles gleich. Aber ich werde keinen Schutz brauchen, denn ich werde fortgehen, weit und für lange Zeit.«

»Herr?« flüsterte sie mit vergehender Stimme.

»Ich bin erwacht, Grita,« sagte er ernst. »Oder vielmehr, ich bin erweckt worden. Ich kann dir nicht genau sagen, wie es gekommen ist. Ein Tier hat mich vielleicht erweckt, oder die Stimme eines Trunkenen, oder ein Kind. Vielleicht auch ein Lied oder alles dies zusammen. Sie wollten mich verschütten, verstehst du? Wie einen Brunnen. Aber da rief eine Stimme, von sehr weit her, und da erwachte ich. Die Arme warf ich empor, wie ein Vogel seine Flügel, und ich schrie zur Antwort, laut und angstvoll, und es kam ein Echo von irgendwoher. Die Tiere warten, Grita, die Kinder warten, das Volk wartet. Ich aber wollte bleiben unter einem grauen Dach, wo es kühl ist im Sommer und warm im Winter; denn ich dachte, daß es genüge, wenn man seinen Heiland an seiner Brust habe. Steht nicht, daß er in die Wüste ging vierzig Tage und vierzig Nächte, um sich zu bereiten? Ach, Grita …«

Er stand auf und trat ans Fenster, auf dem die Blumentöpfe standen, und es sah aus, als wolle er prüfen, ob der Weg zur Ewigkeit schon erleuchtet sei.

»Es ist schon so, Andreas,« sagte Jons im grübelnden Tone vergangener Jahre. »Mancher hat genug am Pflug und mancher an der Saat, und mancher braucht die Wolken oder die Lerche oder den Wind …«

»Ja, Jons, es kommt darauf an, daß man die Heimat findet. Deine Heimat ist der Acker, und du hast ihn gefunden. Meine Heimat liegt weit, und ich muß sie suchen.«

»Und wohin werden Sie gehen, Herr?« fragte Grita weinend.

»Ich weiß es noch nicht. Ich dachte, reif zu sein, aber nun muß ich erst in eine Stille gehen, wo ich reifen werde … und dann werde ich wandern und den Heiland ausgraben … das ist es.«

»Ich nehme nicht den letzten Abschied,« sagte er draußen, mit seiner gewohnten Bewegung die Stirne gegen die Sterne hebend. »Ich werde euch noch sehen. Und wenn ihr in die Augen eures Kindes blickt, dann werdet ihr mich wandern sehen, zum Letzten, was es gibt.«

Den Heimweg nahmen sie durch den Wald. Es war Andreas, als könne er am Schlusse dieses Tages der Wunder den rufenden Glanz der Sterne nicht mehr ertragen und als brauche er Wände und ein Dach, damit er nicht in dieser Nacht schon alles hinter sich lasse, was ihn band.

Er ging wie unter der Erde. Ohne Grenzen war das Schweigen. Irgendwo zu seiner Rechten stand der Mond, mit fahler Helle die Baumgründe erfüllend, und ab und zu blitzte ein bläulicher Speer lautlos durch die Fichtenkronen. Der Harzduft aus sonnigem Tag hing gleich schweren Tüchern von den Zweigen hernieder, streifte die Stirne des Schreitenden und drang wie Odem eines schlafenden Gottes in seine weit geöffnete Brust. Unerhört ruhevoll standen die Bäume, aufwachsend ins Unsichtbare, alles Pfeilermäßige überwindend durch das Lebendige, das sie verkündeten. Klage war nicht und nicht Jubel, nur überwältigende Notwendigkeit des Seins, Gottesnähe, die alle menschliche Inbrunst überflügelte, Ewigkeit, die die letzten Ringe schloß.

Mit gefalteten Händen schritt Andreas in Gott hinein. Der große Gesang des Pflügers war verklungen, aber es war ihm, als höre er nun den Schrei des Waldes. Er hatte den Sternen entfliehen wollen, aber auch hier war kein Dach, das den Scheitel schützte. Aus mildem Dunkel stieg Stamm an Stamm, und oben zerbrach das Gewölbe der Nacht. Sterne warfen sich hernieder durch bläulichen Schacht, Stimmen klangen aus Überwelt und ein leises Tönen von Eimern, die niedertauchten, schwer sich füllten und wieder zur Ewigkeit aufwärtsstiegen.

Dann kam der See.

Im Ufergrase kauerten sie sich nieder, Mensch und Tier. Ihre Augen hingen an der weißen Scheibe des vollen Mondes, die drüben aus den Wäldern stieg. Leise flammte die Erde auf, Wipfel, Stämme und Gras. Von leuchtendem Walde fiel das Kleid, die Bäume schienen zu wandeln. Ein Nachtvogel rief am Mond vorüber, müde, fremd, als komme er von einem Stern.

»Anima,« flüsterte Andreas und drückte das Tier an seine Brust. Auch sie überfloß das Mondlicht, weiß, mit bläulichem Nebenschein. Regungslos empfingen sie den Glanz, die Augen trinkend aufgeschlagen. Unter dem Monde lag eine dunkle, schmale Wolke mit weißen Rändern, schräg herausgereckt, mit aufgerissenem Ende, einem Drachen gleich, der in Schmerzen schrie. Drohend stieß sie in den Frieden der Nacht. Aber sie versank. Ihr Leib zerfiel, ihr Schrei erstarb, und am reinen Himmel stand nur das wandelnde Licht.

Da erst stand Andreas auf, lautlos wie ein Beter. Er beugte sich zum glänzenden Wasser, schöpfte die funkelnden Tropfen mit der Hand und wusch seine Stirn. Dann verließ er den Wald, querab der Straße, das müde Tier in den Armen, während der Weg der Zukunft ruhevoll in seiner Seele sich bereitete.

Lärm und Glanz fielen aus den Fenstern seines Hauses, als er die Schwelle betrat. Er fühlte keinen Schmerz, nur ein lauteres Tönen der Stimme, die in ihm sprach, und ein frohes Wachsen der Sicherheit, die ihn erfüllte. Er blieb einige Zeit in den Anblick des Kruzifixes versunken, das von kahler Wand im letzten Mondlicht leuchtete; dann betrat er, den Hund noch auf den Armen, die Räume, in denen er am Morgen die Fremdheit des Wanderers erfahren hatte.

Eben begann das Grammophon eine Melodie in das verstummende Gelächter zu schreien, Weingläser klirrten aneinander, und die schwere Wolke des Zigarettenrauches schwankte im Zugwind der offenen Fenster. Andreas, von der plötzlichen Helle geblendet, sah eine verwirrende Fülle weißer Gesichter, Silber, Blumen und farbige Gewänder, Nacktheit, Gier und Erschöpfung, blickte sich suchend nach seiner Frau um und fand sie endlich in einem ihrer tiefen Sessel liegend, in aufdringlicher Gelöstheit, während Kascheikes totes Gesicht sich über ihre nackte Schulter beugte und nur die bösen Augen mit schiefem Blick gegen den Eintretenden aufschlug.

In Farbe und Klang dieser Räume fiel seine Erscheinung wie ein Gespenst. Sein dunkles Kleid war bestaubt, Nadeln des Waldes lagen auf seinen Schultern und in seinem feuchten Haar, und an seiner Brust barg sich, vom Licht geblendet, der häßliche, struppige Kopf des Tieres, den seine Hand unbewußt streichelte. Lautlos, ohne Bewegung blieb die Gesellschaft vor seinem Bild. Und während ihre Augen in den seinigen hingen, fremd und haßvoll oder in kaltem Hohn, hämmerten die grellen Töne aus dem spiegelnden Kreislauf der rasenden Platte totenhaft in das atemlose Schweigen. Und obwohl sie alle wider Willen erbebten unter diesen frechen Klängen, die aus dem Nichts in ihr Leben schrien, fanden sie nicht die Kraft, eine Hand aus der Lähmung zu heben und den metallenen Mund zu schließen, der ein schamloses Lied in das Schweigen eines Grabes warf.

Erst als die Platte mit einem kratzenden Laut erstarrte, atmeten sie auf und spannten sich zur Gegenwehr. Aber sie bedurften keiner Anstrengung, denn Andreas lächelte. Nicht in ihre Augen hinein, sondern über sie hinweg, dem Walde gleich, der über das Tier hinlächelt. Soviel Fremdheit war in diesem Lächeln, abseits von Haß und Klage, soviel nachtgetränkte Schwermut, hinausgreifend über die Dinge der Zeit, daß sie ihn von neuem anstarrten, nach Waffen suchend, mit denen man ihn treffen könnte.

Und erst dadurch, daß er sein Lächeln schließlich seiner Frau zuwandte, fand einer der jungen Leute, die im Hause aus- und eingingen, den etwas gezwungenen Mut, sein Glas gegen Andreas zu heben und mit nicht ganz sicherer Stimme zu rufen: »Prost, Herr Pfarrer … was für ein schönes Tier haben Sie uns von Ihrer Wanderung mitgebracht?«

Aber noch bevor Andreas die lächelnden Lippen zur Antwort öffnen konnte, sagte Frau Martha laut und ernst: »Die deutsche Seele, gefunden vom Knecht Gottes, getränkt von seinen Tränen, ausersehen zum neuen Heiland … er hat's mir selbst gesagt.«

Mitten im berauschten Gelächter hob Kascheike die bleiche Stirn, blickte Andreas müde an und zog einen zerknitterten Zettel aus der Brusttasche seines Rockes. »Gut, daß du mich erinnerst, Nyland,« sagte er lässig, aber mit so vernehmbarer Stimme, daß das Gelächter verstummte. »Du warst immer ein Meister des Stils, schon auf der Universität, und dann nachher in der Periode der keimenden Liebe … du kannst mir etwas behilflich sein, deine Theorie erfordert das sogar … ich habe hier einen kleinen Artikel … du weißt, ich hatte immer eine journalistische Schwäche … der bedarf vielleicht noch einiger Ausfeilung. Du gestattest vielleicht, daß ich ihn dir vorlese … er ist kürzer als deine Predigten … also … ›Die geschätzten Leser unseres Blattes werden sich vielleicht noch der Notiz erinnern, die wir vor etlichen Tagen bezüglich der sensationellen und mysteriösen Tiergartenaffäre veröffentlichten. Aus derselben absolut einwandfreien Quelle erfahren wir heute eine neue, kaum glaubliche Ergänzung dieses … wir müssen zugeben … skandalösen Falles. Der bekannte Seelsorger, von dem wir unter allem Vorbehalt berichteten, scheint noch andere, recht schätzbare Qualitäten zu seinem geheiligten Amte zu besitzen. Er soll … fast sträubt sich die Feder … vor unbestimmter Zeit ein silbernes Kruzifix aus einer Dorfkirche mittels nächtlichen Einbruches entwendet haben. Der Zweck dieses unglaublichen Diebstahls ist bisher nicht recht geklärt worden, doch dürfte er nicht weit zu suchen sein. Daß das besagte Heiligtum, wahrscheinlich, nachdem der Verbrecher die Unmöglichkeit der Veräußerung erkannt hat, an den Ort seiner Bestimmung zurückgebracht worden ist, dürfte der Handlung nichts von ihrer Ruchlosigkeit nehmen. Wir fragen die maßgebenden Stellen: Quousque tandem? Ist die Religion ein Spott ihrer Diener geworden? Hat man vergessen, daß auch der Heiland die Wechsler aus dem Tempel trieb? Hat der Staat vergessen, daß er zu wachen hat? Wir warten …‹«

Er machte eine Pause und strich sich gedankenvoll die schwarze Haarsträhne aus der Stirn.

»So, Nyland, das ist der Artikel … was meinst du? Logisch scheint er mir in Ordnung, auch der Aufbau ist nicht ohne Geschick. Aber die Wirkung … ob sie gut berechnet ist? Daß er milde, nüchtern beinahe, anfängt, dann die Hauptsache, den Fall, wie einen Felsblock hinwirft, und daß dann am Schluß der Schrei der empörten Sittlichkeit wie ein Trompetenstoß, wie eine Fanfare in die erschütterten Seelen gellt, verstehst du? Das mit den Wechslern im Tempel, das ist vielleicht etwas matt, nicht? Der Vergleich ist zu milde, was meinst du? Ihr Pfarrer seid ja stark in Vergleichen. Ich dachte auch an Otterngezüchte oder an Mörder, aber das scheint mir etwas abgegriffen, zu pastoral gewissermaßen … besonders da man sich den Mörder für spätere Artikel vorbehalten muß, wo von Eheproblemen gehandelt werden könnte, keimendes Leben und so weiter … auch bei der Überschrift könntest du mir behilflich sein … Dokumente zur neuen Kultur … Knechte Gottes, oder so ähnlich … der Stil ist der Mensch, ein frappantes Wort, nicht wahr?« Und er zündete eine neue Zigarette an und blies den Rauch, die Stirne gedankenvoll faltend, über Frau Marthas tiefen Ausschnitt hin.

Andreas lächelte noch immer, fremder nur noch und einsamer als zu Beginn. Er hatte den Kopf an den Türrahmen gelehnt und die ganze Zeit den Lesenden angeblickt. »Alles dieses war, Kascheike,« sagte er nun nach langem Schweigen, »aber alles dieses ist nicht mehr. Einmal fließt alles Seiende in das Gewesene, und unsre Mühe ist umsonst. Außerdem werde ich am nächsten Sonntag alle diese Dinge von der Kanzel sprechen. Suche nicht nach dem richtigen Stil, ich werde ihn schon finden.«

Er verließ seinen Platz und ging langsam zu seiner Frau. Er beugte sich nahe über ihre Augen und blickte lange hinein. »Vergib mir,« sagte er leise, »was ich dir getan habe … man hat mich heute einen seltsamen Weg geführt. Das große Lied der Erde habe ich gehört, am heiligen Wasser habe ich gestanden, im Mondwald, und … und Gottes Antlitz habe ich geschaut, im ersten Menschenkind … ich wollte unter euch bleiben, vergebt mir meine Sünde … ich gehe wieder fort und will die Sünde von meinen Füßen waschen …«

Er nickte ihnen zu, gütig, als sollten sie sich weiter freuen. An der Türe blieb er noch einmal stehen, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er in die Ferne. Dann verließ er leise das Zimmer.


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