Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil


I.
Der Mann in der Öde

Wenn die Sterne der herbstlichen Nächte über den großen Wäldern, von denen Andreas Nyland gesprochen hatte, in seine geöffneten Augen schienen, so war es ihm zuzeiten, als seien es Sterne einer Wüste oder Lichter eines Himmels, der über einem Eiland fremder Ozeane sich schimmernd hob. Es waren nicht seine Kindersterne, und der Klang seiner Stimme zerbrach im fremd durchglänzten Raum.

Ging er unter dem Bogen der Sonne vom Aufgang bis zum Niedergang, so fand er keinen an seinem Wege, der aufgeblickt hätte beim Klange seines gezeichneten Namens; der Fluch oder Segen auf seinen gebeugten Scheitel hätte senken mögen. Auch fand er nichts, nicht Baum noch Tier, das Rauschen oder Schritt verhalten hätte, um seines Herzschlages zu warten. Der Nebel stand, in Tropfen fiel der Tau, und hinter dem Wilde schloß sich der Büsche gefärbtes Laub.

Der Knecht Gottes war im großen Schweigen, aber das große Schweigen war nicht in ihm. Er war einem Manne gleich, der sich vom Rande eines Schiffes in das Meer gestürzt hatte, um der furchtbaren Nichtigkeit zu entfliehen, die dort oben lärmend durch die Tage glitt, wie tönender Wind durch eine glatte Röhre. Aber nun, da das Wasser der Tiefe von seinen Wimpern tropfte, sah er den Rauch des Lebens nur noch den Horizont erfüllen, und ein kaltes Rauschen hob und senkte seinen Leib. Da schrie er wie Petrus auf dem See Genezareth und schloß die zitternden Lippen mit seinen gefalteten Händen, weil er sich entsann, daß er »in die Rüstung« hatte gehen wollen.

Als ein Mensch des Grübelns, der in dunklen Kellern nach den Fundamenten des Hauses tastete und am Stamm der Erscheinungen niederglitt zum verwirrenden Geflecht der Wurzeln; als ein Mensch des Leidens, der die Welt erbebend in sich trug wie eine Mutter ihr keimendes Leben; und als ein Mensch der leidenschaftlichen Bekennungen hatte er sich gegen das weichende Tor geworfen, das das Ende einer Gedankenbahn beschloß. Und nun stand er betäubt wie ein Kind im dämmernden Riesenraum, fassungslos, weil kein Erfahren dem Ergrübelten gemäß war.

Was ihn erfüllte, war nicht Seligkeit und nicht Verstoßung. Es war eine Inbrunst, die sich ins Grauen stürzte, weil der grübelnde Mensch im Nebel eine Hand erblickt hatte, und aus der Bewegung dieser Hand war zu lesen gewesen: »Du sollst ins Grauen gehen!« So hatte er die letzte Wand mit geschlossenen Augen durchbrochen und stand nun im Leeren, bis die Hand sich wieder heben würde.

Andreas mochte in den äußersten Kammern seiner Seele das leise Pochen der Erkenntnis fühlen, daß man Christus sein müßte, um ohne Grauen in der Wüste zu leben. Noch standen, nachleuchtend gegen den erloschenen Horizont, die Gestalten seines verschütteten Lebens in erstarrter, nachschauender Gebärde. Noch banden ihn Liebe, Zorn und vielfältiges Leiden an Blick, an Klang und Geschehen. Aus einem Grabe hatte er sich heben wollen, um in das Leben zu gehen, und erschauernd wollte er meinen, als sei er aus dem Leben in das Grab gestiegen. Er wußte nun, was es bedeute, im Garten Gethsemane zu knien.

Doch vernahm er bei allem Lauschen, mit dem er sich über seine Tiefe neigte, keine Stimme, die zur Rückkehr rief. Nur daß sich ihm im Tropfen der Stunden zum ersten Male das Bild der Zukunft in jener Unerbittlichkeit formte, die nur den langsam Sterbenden sich offenbart; daß die Knechtwerdung sich in ihm vollendete, bevor das Werk des Knechtes sich vor seine Hände legte; daß die Öde der Landschaft, die zu durchdringen und zu erfüllen keines anderen Sache und Möglichkeit war als die seiner Augen und seiner Stimme, ihm zum Gleichnis wurde für seinen Weg; daß er nun schon erfuhr, was es bedeute, herauszutreten aus einem gefügten Leben wie von einer Mauerzinne in den leeren, beglänzten Raum.

Daß Sonderlinge waren, hatte er freundlich zuschauend erlebt. Daß Narren von der Straße ins Weite brachen, war ihm nicht fremd. Aber daß ein Mensch im Schreiten innehielt, daß er sich wendete und weinend oder schreiend gegen die ewige Straße sich warf, die Hand zu Gott aufreckend; daß er es nicht als ein Kranker oder ein Verwirrter tat, sondern in die Öde ging, um gesammelt, geschlossen, gerüstet wiederzukehren und die Toten zu erwecken: das war etwas, was er für sich selbst zu suchen und zu finden hatte, als sollte er einer neuen Erde Schöpfer werden und eines neuen Kreuzes Träger, Aufrichter und Gekreuzigter.

Und während so aus der Besinnungslosigkeit des Fallens langsam und immer langsamer ein schmerzliches Gleiten, ein Anklammern und endlich ein Halten über erdlosem Raume wurde, tauchte aus dem Strudel des Sturzes allmählich das Seiende und Bleibende vor den sich sammelnden Blick. Der Atem fügte sich dem großen Wehen der Wolken und Wälder, das Ohr vernahm die ergreifende Mahnung des Lautlosen, der Mensch glitt aus den Räumen der Erde in die verschollenen Bezirke seiner Nichtigkeit. Langsam tauchte der Knecht Gottes aus der Wirrnis der Tage in die Bereitung zum Ewigen.

Er hatte nichts mehr, was er so sein eigen nannte, daß er es hätte bewahren oder gar mehren wollen. Er ging zu Gott in die Miete, und was an menschlicher Bindung nicht zu umgehen war, brachte er mit lächelnder Gläubigkeit in eine Form, die ihm als milde Wandlung des Ewigen erschien. Daß die Hütte am Rande des Hochmoores mit allem Dürftigen, das sie enthielt, nicht sein eigen war, wußte er sowohl wie der Förster, der ihn stirnrunzelnd eines Abends nach vielem Wissenswerten fragte. Aber Andreas lächelte nur wie der Pilger auf dem Floß, der seine Füße gebadet hatte, und wie jener erzählte er die Geschichte seines Lebens.

»Sie werden mich nicht vertreiben,« sagte er schließlich, »sondern von weitem werden Sie heimlich nach mir herübersehen, ob der noch da ist, dem der Wald ein Heiligtum gewesen ist.«

Da ging der Beamte, und Andreas war fortan ein Gast zwischen der welkenden Erde und den Gestirnen des Himmels. Zwar konnte er der Welt nicht entraten, wie er gemocht hätte, und in der Dämmerung jedes Wochenendes mußte er weitab vom Moore in die Lichtung der Wälder, wo um ein dunkles Wasser gleichsam verhüllte Häuser standen und wo er in einer schweigenden Krugstube kaufen konnte, wessen selbst der Knecht Gottes bedurfte. Doch wandelte sich ihm schon beim dritten Gange das Bedrückende dieses Weges zu einer beglückenden Feierlichkeit, als er, da eine Ware erst mit einem Boten erwartet wurde, um das dunkle Wasser herumging und langsam bis zur anderen Seite des Dorfes gelangte. Hier ragte nach einer schmalen Wiese der Wald gleich wieder mauergleich empor, aus dunklen Fichten schwermütig rauschend, und am ersten der flechtenbedeckten Stämme hing eine Tafel, um auch dieses winzige Leben einer Gemeinschaft einzugliedern in das große Gefüge eines geordneten Staates. Und obwohl Andreas von Namen sich zu wenden pflegte als von belangloser Oberfläche, so ging es doch wie ein kindliches Erschrecken über sein versunkenes Antlitz, als er dort im letzten Lichte die halbverlöschten Buchstaben las: »Gemeinde Verlorenwalde …«

Nachher, als er im Laden den Rucksack umhing und die Frau des Wirtes ihm schweigend zusah mit ihren stillen Augen, sagte er, schon die Türe in der Hand: »Es ist ein schöner Name für ein Dorf … so schön spricht er sich aus … Verlorenwalde …«

Sie lächelte nicht, wie er in seiner Verlegenheit erwartet hatte. Sie strich nur mit der Hand über den Ladentisch, in abwesenden Gedanken, und sagte: »Die Menschen haben schon gewußt, wie es hier heißen muß … wenn Sie weitergehen, nach einer Stunde, da liegt Beschluß, und noch einmal zwei Stunden, da liegt Amen … da ist es denn zu Ende.« Und sie nahm die Lampe und verließ lautlos den Laden, während Andreas in tiefer Verwirrung die Straße betrat.

Von dieser Stunde an verlor sich ihm der Schrecken der Einsamkeit und milderte sich zum Gefühle banger Fremdheit. Und es erfüllte seine Seele mit einer schwermütigen Ergebenheit, wenn er nachts von seinem harten Lager das mächtige Brausen der Wälder vernahm, den Ruf der Eule und den Schrei des Elches, daß rings im weiten Kreise inmitten lichtloser Öde diese drei Dörfer lagen und ein fast heiliges Band um seine Verschollenheit schlangen, so daß er wie ein Kind entschlummern konnte, gehütet von Großen, die Tag und Nacht im Lichte waren. Und mit einem Lächeln formte er lautlos noch einmal die drei feierlichen Worte: Verlorenwalde … Beschluß … und Amen.

In den letzten Sonnentagen vor den großen Nebeln war es Andreas, als verlange die fremde Erde dringender nach ihm, bevor das lange Schweigen beginne. Wenn der Tau zur Sonne gestiegen war und die Drosseln zu den leuchtenden Vogelbeeren kamen, ging Andreas in das Moor hinein. Er löste sich von dem Rande der dampfenden Wälder, langsam, fast spielerisch, wie ein treibender Kahn vom Ufer. Dann versank die Küste, das Bekannte, das Namentragende. Die Klänge erstarben, die jenseits der Tore in der Weite waren. Die Schatten erstarben, alles war Licht, war Schweigen und unendlicher Raum, und in der blauen Höhe hing nur der Falke ausgespannt über dem Dasein der Tiefe.

Wo das Moor sich in der Mitte wölbte und mit sanfter Neigung zu den Wäldern floß, pflegte Andreas lange zu stehen, auf seinen Stab gestützt, und zu lauschen. Er glaubte an seinen Sohlen das Wasser steigen zu fühlen aus unfaßbarer Tiefe, seinen warmen Körper feucht und kühl durchdringend und von seinem entblößten Scheitel wieder zur Sonne steigend, die gnadenvoll ihn wie die Tiefe umfing. In solchem Gefühl war es ihm nicht mehr, als sei er herausgetreten aus Gott mit der Stunde seiner Geburt und müsse nun um eine Fremdheit mit müden Händen tasten, sondern als ruhe er in einem neuen Mutterleibe, lichtlos vielleicht noch und dumpf, aber eingebettet in den warmen Blutstrom göttlicher Zeugung, nahe geschmiegt an jegliche Kreatur, und sein Herz erbebte unter dem Schreiten Gottes, der ihn trug.

Nichts trieb ihn in solchen Stunden zu einer Rechenschaft über Vergangenes, nichts auch zu einer gedanklichen Gestaltung des Künftigen. Wohl konnten gleich Gespenstern die Schatten verlassenen Grundes über den Rand der Stunde tauchen, aber sie konnten seine Hand nicht hindern, die dunklen Moosbeeren von den grünen Polstern zu pflücken, und in ihrer herben Süße, die seinen Mund erfüllte, löste sich lächelnd Bitterkeit wie Reue.

Die Verschüttung des Heiligen, wiewohl durch Jahrzehnte tiefer und tiefer sich senkend, hatte die letzten Gründe des Blutes nicht erreicht, das Erdverschwisterte, das in unendlicher Geschlechterfolge rückwärts lief bis zu dunkler Ahnung der All-Einheit. So daß der Schritt über die Grenze der Welt, vom qualvoll Lebenden zum triebhaft Seienden, nicht einer Entäußerung gleich wurde, einem verzweifelten Tode, sondern einem Rückgleiten in beglückende Dumpfheit, über Zeitalter hinweg, in denen das Antlitz des Lebens zu immer schlichteren und klareren Linien sich löste.

Doch bebte das Gleichmaß der Schalen und steigerte sich zum Schwanken des Lebensgrundes, als das ungeheure Schweigen des Winters über die Wälder begrabend sich senkte, als die Tierfährten über dem Moor allnächtlich unter neuem Schnee sich verschütteten und schließlich selbst der letzte Meisenruf aus der Öde entglitt, um in eine Welt zu kehren, wo Menschen wandelten und einer Stimme Laut tröstend erscholl.

Zwar schritt Andreas noch immer täglich aus den weißen Fichtenwänden auf das Moor hinaus, um auf der anderen Seite weglos in neue Wälder zu tauchen; aber wenn die Sonne auf niedrigem Bogen hinter die Wipfel sank, wenn nach fahler Glut die Schatten riesenhaft über das Moor sich warfen, dann stand die Nacht als eine Götterdämmerung über dem Scheitel des Grübelnden, und heimlos irrte seine Seele durch die verfinsterten Gründe.

Im Lehmherd starb mit klagendem Laut die Glut des Holzes, der Schnee trieb um das blinde Fensterglas, und in der Weite schrie der Frost im spaltenden Baum. Die Bibel entglitt den Händen des Grübelnden, und der dämmernde Raum erfüllte sich mit Bildern, die zu Gestalten wurden, visionenhaft entkörpert. Abgründe taten sich auf, ins Unsagbare reichend, und schlossen sich wieder, Fluch floß wie Segen über ekstatische Lippen, bis alles ertrank in dumpfer Dämmerung, aus der wie tröpfelndes Gift ein flackernder Schlaf sich gebar.

Doch leuchtete unverlierbar durch Spuk und Grauen mondelanger Not das Heilandsbild in die Kammern der Finsternis. Ungewollt, ja bekämpft schob das Bild des Einsamen in der Wüste sich vor die Formen des Gegenwärtigen, verwirrend, betörend, aber doch als eine Stärkung, und erst als mit grünen Flecken die Erde sich der Märzsonne entgegenbot, versank das Gespenstische der lichtlosen Zeit langsam in krankhafter Tiefe, nicht ohne daß ein leises Grauen zurückblieb, aber auch derart, daß der bleiche und entkräftete Mensch, der den Geschöpfen des Waldes gleich aus dem Schlafe in das Leben trat, mit seinen Händen über seinen kühlen Leib strich, als fühle er etwas von dem, was er mit großen und ahnungslosen Worten eine Rüstung genannt hatte.

Erst später, als die Erde schon blühte, trat ein Ereignis ein, das ihn noch einmal halb erschreckt und halb beseligt nachsinnen ließ über seine Trennung vom Lebendigen, die er schmerzlos vollzogen glaubte. Unweit des Randes stand auf dem Moor ein toter Wald. Rindenlose Stämme hoben sich fahl aus feuchtem Grund, entlaubte Kronen waren niedergebrochen und erstickten in wucherndem Porst, Aststümpfe leuchteten mit gesplitterter Fläche, als sei die Bahn der Granaten todbringend durch sie gefahren. Das Moor, lautlos wachsend, hatte den Wald gemordet. Hier saß Andreas oft vor der Frühe, aus dem schweigenden Sterben Erinnerung sammelnd an die Jahre des Blutes, die jenseits der Stacheldrähte lagen. Von hier aus sah er die Sonne flammend über das Moor sich heben und die kahlen Äste gespenstisch in die erste Glut sich recken.

So regungslos lehnte er an dem toten Lärchenstamm, den fernen Birkhähnen lauschend, daß der Baumläufer, der nach Würmern suchte, fast bis zu seinem Scheitel herniederstieg und das bröckelnde Moderholz in seinem Haar haften blieb. Doch drang in dem Schweigen der Sonnenaufgangsstunde ein leises Rauschen des hohen Grases an sein Ohr, und noch waren seine Augen, rückkehrend von versunkenem Geschehen, kaum zur Hälfte nach der Stelle des Lautes gewendet, als ein schriller Angstruf aus unbekannter Vogelkehle schneidend seine Träume zerriß. Noch sah er blaugraues Gefieder aufleuchten und jäh verlöscht im Gebüsch sich bergen, noch sah er einen hochgewachsenen Vogel, jungbefiedert, irr vor Todesangst sich den anderen nachwerfen: dann stürzte er sich mit wortlosem Schrei auf den Fuchs, der mit funkelnden Sehern über dem jungen Kranich lag, die blutende Schwinge im Fang.

Und dann hielt er den Vogel an seiner Brust, mit zitternden Händen bemüht, das wilde Schlagen zu bändigen, mit dem das Tier in dumpfem Ahnen vom Menschen strebte. Er fühlte nicht den Schmerz der Schnabelhiebe, er fühlte nur das warme Blut an seinen Fingerspitzen und endlich, nach einem letzten ohnmächtigen Krampfe der Kreatur, das jagende Klopfen des fremden Herzens an seiner Hand. Er beugte sein Antlitz in das warme Gefieder des Vogels, mit leisem Schauer den Tau des Moores an seiner Wange spürend; er hob sich nicht von der Erde, auf der er kniend lag; er neigte sich noch tiefer, und mit versagenden Lippen flüsterte er: »Vogel du … mein Bruder … mein Bruder …«

Dann trug er ihn nach der Hütte, als sei es ein sterbendes Kind.

Mit der Erscheinung des Vogels begann eine neue Erde für Andreas Nyland. Wieder geschah es wie früher zuzeiten in seinem ekstatischen Leben, daß er Mauern niederbrechen hörte, daß aus der Stauung Ströme des Göttlichen sich über ihn warfen. Über alle Maßen gnadenreich erschien ihm ein Dasein, in dem ohne Wollen und Ahnung Wand auf Wand sich lautlos neigte. Wohl war in ihm eine dunkle Forderung, die Hand vom beglückenden Raube zu ziehen, wohl gedachte er manchmal der Worte von den Symbolen, die Reimarus bedeutungsvoll ihm auf den Weg gegeben; aber er vermochte die Stimme des Blutes nicht zu ersticken.

Der Vogel, scheu und wild zunächst, unterlag dem Zauber liebevoller Neigung, die ihn umfing, zumal nichts in ihm zur Wehr sich setzen mochte als ein dumpfer Trieb, geschlechterweit ins Vergangene reichend, aber nicht bewußt gemacht durch eigenes Erleben. Da war etwas, das mit Saft von Kräutern Schmerzen stillte, das Nahrung spendete, so oft der Ruf es mahnte, das mit seltsamen Lauten immerwährend um ihn war. Und noch war das große Schweigen des Sommers nicht über das Moor gefallen, als Mensch und Tier gleich zwei Gefährten alltäglich aus der Hütte schritten, sich langsam aus den Schatten entfernend und nebeneinander in der flimmernden Luft der flachen Weite verschwindend.

Nur einen Namen gab Andreas dem Vogel nicht. Lag er um die Abendzeit vor der Schwelle der Hütte, den Kopf unter gefalteten Händen und den Blick zum geruhigen Glanze sinkender Wolken gehoben, vom Lichte erfüllt und der Gnade des Seins; kam dann der Kranich mit leisem, fast träumendem Ruf, um mit den Knöpfen seines Kleides zu spielen und endlich zwischen Brust und Arm des Liegenden sich einzunisten; glitt dann in kürzer werdenden Zwischenräumen der Schleier des Schlafes als eine zarte und gleichsam blinde Haut über das kluge Auge: dann drückte Andreas wohl leise die Hand auf das kühle Gefieder, und fast unhörbar flüsterte er: »Mein Bruder …« Aber einen Namen gab er ihm nicht.

Er versuchte auch nicht, mit erkennenden Gedanken, die kühl wie Glieder einer Kette sich aneinanderfügten, sich Rechenschaft zu geben über den Wandel des Gemütes, den er dunkel empfand, oder an dem Wege zu bauen, der aus der Öde zum Leide führte. Gleich Geschwistern sah er Pflanze und Baum sich aufwärts heben, der Blüte entwachsen, der Frucht sich bereiten. Sonne wie Regen fielen über seine Tage, gemessen und ohne Willkür, wie aus Gottes Hand. Wandel der Gestirne stand feierlich auf hinter dunkelndem Horizont, das lichtlose Gewölbe zerbrechend, und starb nach Erfüllung der Stunde. Und stürzten die Räume des Himmels in dröhnenden Donnern, von Licht überflammt, so dampften die Wälder schon wieder eratmend, wenn ferne noch Glühen aus Klüften der Wolken blitzte, der farbige Bogen umspannte das funkelnde Moor, und das Heute war nichts als Verheißung des Morgen.

Doch mahnte eine Nacht des hohen Sommers mit erschütternder Stimme, daß keiner Erde mehr gegeben war, Paradies zu sein, wiewohl Mensch und Tier als Brüder sie erfüllten, und riß Andreas mit schmerzlicher Gewalt aus einem Traume, in den sein Leben entglitt. Er fuhr so jäh aus dumpfem Schlaf, als stürze er durch eine brechende Decke, und vernahm zunächst nichts als den Strom seines Blutes und das Wühlen des Windes im Wipfelmeer. Noch mit geschlossenen Augen öffnete er die Tür. Die Wälder brausten hoch über ihm, und er sah Wolkenberge über die geneigten Kronen in eine lichtlose Ferne stürzen.

Und dann hörte er den Schrei aus dem Moor.

Sinnlos, unbekleidet stürzte Andreas in die Nacht. Der tote Wald stieg gespenstisch aus dem fahlen Licht und versank, von Wolkenschatten erstickt. Wasser spritzte unter dem nackten Fuß, den Leib mit eisigem Schauer durchbebend. Die Erde schwankte wie ein federndes Geflecht, ein Vogel stieg steil ins Dunkel mit schrillem Laut: aber immer noch hob sich aus der Ferne der Schrei, aus dumpfem Stöhnen zu greller Qual, als breche er aus der Tiefe des Moores zu den verhüllten Sternen und verklinge nachhallend im leeren Gewölbe.

›Die Blänken,‹ dachte Andreas. ›Zwischen den Blänken … o Gott …‹

Er stürzte und hob sich aus taumelnder Erschöpfung zu neuem Lauf. ›Flurhüter!‹ rief eine irre Stimme. ›Flurhüter … weshalb schliefest du?‹ Er hob die Arme zum brausenden Himmel und preßte sie wieder an sein rasendes Herz. Und dann tauchte es jäh aus dem Schilfgras an seiner Seite, ein Dunkles, Gestaltloses, verzerrte Form, die nach seinen Gliedern griff. Er schrie, die Todesstimme übertönend, im Sturze gelähmt, die kalte Stirne zurückgebeugt, von Entsetzen geschlagen in der Zerrüttung seiner Sinne.

Bis das Schluchzen ihn erlöste, jubelnd fast nach der Verstörung des Lebens: der Kranich stand an seiner Brust. In der grenzenlosen Weite war er bei ihm, Gefährte und Bruder, ein Wesen mit lebendigem Auge, mit dem Schlag eines Herzens, das Freude wie Trauer fühlen konnte gleich seinem eigenen. Nicht allein, in furchtbarer Verlorenheit kniete er mehr in der sternlosen Nacht, in der die sterbende Stimme zu einem Gotte schrie, der sich gewendet hatte.

Noch erreichten sie den Rand des schwarzen Grabens, aus dem das Spiegelbild seines Nachtkleides gleich der Blässe eines Toten schimmerte. Dann schwieg die Stimme. Und es war nun im leisen Rieseln des Wassers, als gleite der Versunkene unter ihren Füßen mit unmerklicher Bewegung fort, von geheimen Strömen getragen, oder als quelle die ganze dunkle Masse des Moores langsam wieder zusammen, mit einem geflüsterten Seufzen, als wende ein schwerer Körper im schmerzlichen Schlafe sich zu einer anderen Lage. Und dann ging nur der Wind hoch über der leeren Fläche dahin.

Um die Tagesfrühe erst erreichten sie die Hütte.

Am Sonnabend saß er dann in der Dämmerung bei der Mutter des Toten. Es war die letzte Hütte, zunächst der Tafel mit dem Namen Verlorenwalde. Die Fichten rauschten wie an jenem ersten Abend, und in der offenen Tür stand der Kranich, sein Gefieder ordnend. Die Frau trug ein Feiertagskleid und hielt das Gesangbuch auf den Knien. Sie weinte nicht, aber aus ihrem ganz stillen, gefalteten Antlitz blickten die klaren Augen mit einer seltsamen Fernheit auf Andreas. »Was weißt du vom Sterben, junger Mann?« schienen sie zu sprechen. »Weil du dabei warst? Soviel wie du von den Schmerzen weißt, mit denen ein Kind geboren wird. Nur das graue Haar weiß vom Sterben.«

Sie nickte unmerklich zu seinen Worten, aber sie fragte nicht. »Der liebe Gott weiß es schon,« sagte sie endlich. Und als er sie verwirrt ansah: »Sie sind nicht aufgewachsen hier … wenn Gott braucht, dann ruft er … und dann richtet er selbst das Begräbnis aus.« Und sie setzte mit ruhigen Händen ihre Brille wieder auf und öffnete sorgsam ihr Gesangbuch.

Andreas aber trug ihre Worte als eine Last mit sich heim, und der langsam einfallende Herbst sah ihn wieder in tieferer Verstrickung mit den Schmerzen des Seins. Und wie inbrünstig er die Füße Gottes umfaßte, so schien es ihm, als berühre nur eine kühle Hand seinen gebeugten Scheitel, und oft widerfuhr es ihm, daß er, inmitten des Moores stehenbleibend, sich sprechen hörte: »Wenn Gott braucht, dann ruft er …« Dann streckte er die Hand nach dem Vogel und hob das Haupt lauschend zur Ferne. Aber keine Stimme rief aus der Höhe oder aus der Tiefe, von der er geglaubt hätte, daß sie ihm gelte.

Eines Morgens aber, als Andreas bei geöffnetem Fenster sein Lager richtete, hörte er unweit der Hütte in der stillen Septemberluft den mehrstimmigen Schrei von Kranichen, der wie abgetöntes Erz durch die Frühe drang. Er trat vor die Türe. An der Schwelle stand der namenlose Vogel und wendete nicht den Kopf. Der schlanke Körper verharrte in seltsamer, hochaufgerichteter Erstarrung, das dunkle Auge glänzte dem Rufe entgegen, und es schien Andreas nur, als rühre ein leiser Wind in dem zarten Gefieder der Krone. Dann drang mit einer plötzlich sich beugenden Bewegung des Kopfes ein schriller, nie bisher vernommener Schrei aus der Kehle des Vogels, die Schwingen öffneten sich in erschreckendem Glanz, und brausend hob sich der schimmernde Körper, sich langhin streckend, streifte das farbige Laub der Birken und fiel nach kreisender Bahn zu den drei Gefährten nieder.

Erst als Andreas verstanden hatte, was geschehen war, trat er vor die Schwelle, hob den Arm, wie er zu tun pflegte, und rief, wobei er fühlte, daß seine Lippen ihm nicht gehorchen wollten. Aber sein Ruf schien über die Kraniche hinwegzugehen, die in seltsamen Sprüngen sich im Kreise bewegten, während die Wälder widerhallten im dröhnenden Nachklang ihrer jubelnden Fanfaren.

Da stürzte sich Andreas auf das Moor, zu dem einzig Lebendigen, das er besaß. Erstarrt war die Bewegung, verstummt der Schrei. Wie bläuliche, fremdartige Pflanzen ragten die Vögel aus braunem Moos. Dann breitete sich das Dunkel der Schwingen aus, und in jähem Anlauf stieg das Geschwader brausend empor, pflügte sich aufwärts durch tönende Luft, im Kreis den Waldrand überschneidend, während riesengroß die Schattenbilder durch die Wipfel der Birken schossen, hob sich höher zum zweiten Kreise und begann von neuem den doppelten Ruf, der nun wie Klang von Glocken die Runde erfüllte, weil alle Wälder ihn fingen und ihn einander zuwarfen über das ganze Moor.

»Anima!« schrie Andreas zum Himmel empor. »A … ni … ma!« Er hatte die Arme über sein Haupt gehoben, in der wilden Verzweiflung des Versinkenden, unbewußt formten die Hände sich zur Gebärde glühender Beschwörung, und so schickte er die flehenden Silben dem Bilde des Namenlosen nach, der sich aufgerissen hatte vom Fremden und Machtlosen und sich gesellt zu seinem Blute, der aufrauschte von sich färbender Erde, rückkehrend zum Blau der grenzenlosen Räume, und der nun ohne Schwanken sich ordnete in die Linie des Keiles, der aus dem Himmel des Moores stieß und über den Wäldern entschwand.

In den Knien lag Andreas, die blinden Augen mit den Händen deckend. Nachleuchtend wie einer Flamme Glanz sah er das Bild der Vögel, und in dem Schmerz, der ohne Erbarmen war, wußte er, daß Gott gerufen hatte, den Namenlosen und ihn selbst.

Und nach drei Tagen und Nächten ging er aus der Öde in das Leid, und er wußte, daß er in der Rüstung war.


 << zurück weiter >>