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So lebte es sich also, wenn das Grauen einen zwischen den Schultern berührt und man es vergessen hatte. Es ging sich leicht wie auf Flügeln, aber unter der Erde ging es mit.
Und man wußte nicht einmal, ob es sich leicht ging. Man ging zu der kleinen Kammer im Schafstall, und unterwegs war die Sonne oder das Abendrot, die Büsche mit den Tautropfen, der Ruf der Kraniche oder der Heidelerche. Das was immer dagewesen war, von Kindheit an, das Vertraute, das nie Gefährliche, das was so nahe war, wie die Wände der eigenen kleinen Kammer nahe waren. Das was ohne Beziehung da war, nicht verbunden mit einer fremden Hand, über die man mit einer Weidenrute schlug. Oder mit einer Schilfhütte, über der die Sterne standen. Oder mit zwei Wacholderbüschen, vor denen jemand im Heidekraut lag.
Daß auch dieses dagewesen war, wußte man nicht mehr. Oder man wußte es nur so, wie man in einem schweren Traum weiß, daß einer hinter der Tür steht. Man weiß es, aber man weiß auch, daß es ein Traum ist. Man wird erwachen, aber man weiß nicht, wie man erwachen wird, und auch nicht, zu welchem Morgen man erwachen wird.
Als ganz gewiß weiß man nur, daß das Helle und Tröstende und fast Allmächtige da ist, sobald man an der Schwelle des Schafstalles steht. Das, an dessen Knie man die Wange legen kann und dessen Hand man auf seinem Haar fühlt.
Und daß das Kind da ist. Das weiß man ganz gewiß. Man fühlt es, und wenn man ganz still ist, vermeint man, seinen Atem und seinen Herzschlag zu vernehmen. Und das ist nun fast die ganze Welt. Alles andere steht herum, an einem dämmerigen Rande, aber das Kind ist die Welt. Ohne das Kind würde die Welt nicht dasein, mit ihm ging es sich leicht wie auf Flügeln, obwohl die Füße doch schon schwer gingen.
Und was war es, das unter der Erde mitging? Was ringsum geschah, fiel in das Bewußtsein hinein, klarer vielleicht als die anderen meinten. Dieses zum Beispiel, daß die Frau fortgegangen war am letzten Abend des Jahres. Man hatte es erzählt und darüber gesprochen. Man erinnerte sich auch an die Frau, ihr Gesicht und ihr Haar. Aber es fiel wie ein Licht in ein dunkles Wasser. Es fiel in die oberste Schicht und erhellte die Spitzen der Wasserpflanzen. Aber die Pflanzen, die wie in einer leisen Strömung wehten, reichten in eine dunkle Tiefe, und dort fiel das Licht nicht hinunter. Was dort war, wußte man nicht. Weshalb die Frau gegangen war, wohin, und ob sie wiederkehren würde, davon wußte man nichts. Es verlor sich in der Dämmerung, und schließlich sank es in die Tiefe. Und diese Tiefe war unter allem. Unter jedem Schritt, den man ging, unter jedem Wort der Mutter, das sie sprach, selbst unter den Augen des Mannes, dessen Hand über das Haar strich und von dem man wußte, daß er ein Freiherr war und Amadeus hieß.
Und es war nun, als müßte man seine Hand immer fester halten, jeden Tag immer fester, damit nicht auch er in die Dämmerung zurückträte. Er war das Gewisse, das einzig Gewisse auf dieser Erde. Er ging am Morgen auf, wie die Sonne aufging. Er erleuchtete den Tag. Noch im Abendrot warf er sein Licht auf die Dinge der Welt.
Manchmal nahm die »junge Frau« nun seine Hand und zog ihn mit sich, von der Schwelle fort, in den Wald hinein. Wo die Vögel riefen und das Harz aus der Rinde trat. Bis zu einem der warmen Felsen, an dessen Fuß man sitzen konnte, um in die Weite zu blicken. Dort kamen die grünen Eidechsen aus dem Moos, und man konnte sehen, wie ihr zarter Körper atmete. Oder der Schwarzspecht war zu hören, unter dessen Ruf man erschauerte, als ob die Zukunft riefe. Nicht die nächste Stunde oder der nächste Tag, sondern die ganze Zukunft, alles, was noch wartete und geschehen würde.
Man brauchte kein Wort zu sprechen. Man brauchte nur die Hand zu halten, die andere, helle Hand, und sie würde einen halten, auch wenn die ganze Erde versänke.
Die Pflanzen atmeten, die grünen Eidechsen, und auch das Kind atmete. So still, wie der leise Wind in den Bäumen auf und ab ging. Man war nicht außerhalb der Erde, man war eingeschlossen, tief in das Grüne, Tröstende, Lebende und Seiende.
Einmal hörte sie einen fremden, ganz leisen und klagenden Ton. Der Mann lauschte und nahm sie dann bei der Hand. Sie gingen lautlos in die Büsche hinein, immer tiefer in den atmenden Wald. Und dann sahen sie das, was gerufen hatte. Ein Tierkind, rötlich, mit weißen Flecken, wie es im Grase lag und den Kopf hob. Und sie hörten, wie das Reh hinter den Farnkräutern Antwort gab. Eine Zwiesprache ohne Menschenwort, aber wie im Märchen verstanden sie alles.
Sie gingen leise zurück und achteten darauf, daß sie keinen Ast berührten, bis sie wieder an dem warmen Felsen saßen. Die junge Frau atmete schneller. Sie lächelte, aber ihre Augen waren nicht so ruhig wie sonst. Amadeus fragte nicht, er streichelte nur ihr Haar, und nur von Zeit zu Zeit, ganz selten, wurde ihm bewußt, daß dies alles doch etwas Unwirkliches für ihn war. Daß hinter dem Schweigen des Waldes die Brüder lebten oder die Leute am Moor. Daß es Tag war und seine Stunden erfüllt werden müßten. Und daß er nun hier saß, neben einem dunklen Schicksal, an das er sich freiwillig gebunden hatte. Und daß die Frau des Bruders Erasmus lächeln würde, wenn sie ihn hier sähe. Jemanden, der auf ein Kind wartete, das ihm nicht gehörte. Mit einem Mädchen, das einmal Mörder gedungen hatte, um ihn töten zu lassen von ihnen.
Aber daß der Pfarrer Wittkopp gemeint hatte, es sei gut so und sei ihm auf die Schultern gelegt worden. Und daß er selbst es meinte und keinen Zweifel daran hatte.
Er wußte nicht, wieviel von dem in den verstörten Sinn der jungen Frau gefallen war, was in den letzten Monaten gesprochen worden oder geschehen war. Aber er erschrak, als sie seine Hand plötzlich fester hielt und leise sagte: »Und wenn es nun ein Mal haben wird auf der Stirn oder eine gezeichnete Lippe?«
»Ich werde die Hand darauf legen«, erwiderte er ruhig, »und es wird kein Mal sein.«
»Aber du bist nicht das Jesuskind?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Aber es hat mir Macht gegeben, an seiner Stelle die Hand aufzulegen, weil es sich deiner erbarmt hat.«
»Hat es sich erbarmt?« fragte sie leise und ganz abwesend. »Und wann hat es sich erbarmt?«
»Seitdem du dich erbarmt hast.«
»Wann habe ich mich erbarmt?« flüsterte sie.
Er zögerte einen Augenblick und sah auf ihren Scheitel nieder. »Als du über das Moor liefst und ›Christoph!‹ riefest. ›Christoph, hilf!‹«
»Über das Moor«, sagte sie grübelnd. »So laufen sie im Märchen oder im Fieber … Schnell, ganz schnell …, aber die Füße sind schwer … Christoph, das ist Christophorus, der das Kind trug …, einmal band er mich, und ich griff nach seinem weißen Haar …, aber nun ist das Haar schön, weißes Haar, und der Wind geht darüber wie über deines –«
Wie lebt es sich also, wenn am Rande jeder Stunde das Grauen steht? Hinter der Tür der Kammer im Forsthaus, hinter der Tür im Schafstall, hinter jeder Tür. Vielleicht kann man sagen, daß es sich wie bei einer Sonnenfinsternis lebt. Einmal, als Kind, hat die junge Frau eine Sonnenfinsternis gesehen. Von der Schwelle des Hauses aus. Nur der Hund war an ihren Knien, und der Hund zitterte, und sein Haar war feucht. Alles andere hatte sich verborgen, alle Vögel, alle Eidechsen, alle Käfer. Die große Stummheit war über alle Kreatur gefallen, und über diese Stummheit fiel das fahle Licht aus dem Himmel. Das gleiche Licht, das bei der Auferstehung der Toten dasein würde, wenn die Gräber sich öffneten. Kein Mangel an Licht, keine Verschleierung des Lichtes, sondern eben ein anderes Licht. Kein Blatt an den Bäumen hatte sich geregt, nicht einmal an den Espen, die sich immer regten, weil Judas Ischariot sich an einer Espe erhängt hatte. Das ungeheure Schweigen war über die Erde gefallen, und das Licht war gleich der Finsternis gewesen.
So lebt es sich nun unter der Sonnenfinsternis. Sie schweigt, aber man weiß nicht, was hinter ihrem Rande lebt. Dort, wo das Moor in der Dämmerung verfließt, kann es wohl aufstehen, was das Wesen der Finsternis ist. Neue, unbekannte Formen und Gestalten, die auferstanden sind unter der sterbenden Sonne. Und die darauf warten, daß der Weg ihnen freigegeben wird. Frei gegen Mensch und Tier, die bisherigen Herren der Erde, aber nun werden sie aufhören, Herren zu sein. Nun wird die Finsternis Herr sein, und wahrscheinlich wird sie ein schrecklicher Herr sein.
Mitunter hebt sich etwas auf am Horizont, etwas wie eine Gestalt, und winkt. Sie winkt mit etwas, das wie eine Hand aussieht. Sie ruft nicht, weil man weiß, was sie will. Weil man sich erinnert, nicht an die Gestalt, aber daß da einmal etwas war, dort, an dem Horizont. Daß da einmal das war, das nun hinter den Türen steht, hinter jeder Tür, auch hinter der kleinsten. Das was wir einmal waren, das nun losgelöst ist von uns, mit einem eigenen Gesicht, einem eigenen Körper, einem eigenen Kleid, und das nun wartet. Es steht ganz still. Es kratzt nicht einmal leise an der Tür, wie ein Hund tut, der hinein will. Es steht und wartet …
Und dann kommt die Angst, die große, nicht auszumessende Angst. Mit den kalten Tropfen auf der Stirn und dem aussetzenden Herzen. Nicht die Angst vor der Geburt oder den Schmerzen der Geburt, sondern vor dem, was in der Dämmerung der Sonnenfinsternis sich versammelt. Wie Wölfe sich in der Dämmerung versammeln. Wie Ratten sich in einem Keller versammeln. Wie Männer sich versammeln, um auf einen Mord auszugehen. Nicht auf einen einzelnen Mord, sondern auf einen großen, Tausende umfassenden Mord, und wenn man den Atem anhält, kann man am Horizont das Klirren der Spaten hören, mit denen eine Grube ausgehoben wird. So groß, daß das ganze Moor darin versinken könnte.
Dann faßt man in das Haar des Hundes, fest, so fest, daß der Hund zu klagen beginnt. Oder man wirft sich in Christophs Arme, wenn er da ist. So tief, als könnte man sich in sein Herz werfen, und man fühlt die grobe Hand, die leise über die zitternde Schulter gleitet.
Oder man läuft zum Schafstall. Man soll nicht laufen, und es schmerzt, dort, wo das Kind liegt, auf der schmalen Brücke zwischen Nacht und Licht. Aber man läuft, schnell, ohne Atem, mit weit geöffneten Augen. Und dort, auf der Schwelle oder vor dem Herd ist der Allmächtige, und man kauert sich an seine Knie, und alles ist gut. Die Schatten weichen zurück, sie kriechen über das fahle Heidekraut zurück, über das weite, tote Moor, bis an die Grenze, wo das Leben aufhört.
»Erzähle«, flüstert sie und preßt die Hände um seine Knie wie um das Haar des Hundes … »Erzähle …«
»Was soll ich erzählen?« fragt Amadeus leise und trocknet den kalten Schweiß auf ihrer Stirn.
»Erzähle, wie Christoph erzählt hat, als die Kerzen brannten …«
»Von einer jungen Frau?«
»Ja, von einer jungen Frau, die über das Moor ging, und ein schwarzer Hund lief in ihrer Spur, und sie sollte ein Kind gebären …«
Einen Augenblick sah Amadeus ratlos vor sich hin, und die schwere, große Angst aus dem Mädchenkörper floß leise in seinen eigenen Körper hinein. Aber dann legte er beide Hände in das feuchte Haar der Knienden und erzählte.
»Es war einmal eine junge Frau«, sagte er ruhig und tröstend, »die sollte ein Kind gebären, und die Nebelfrauen wollten es nicht. Die Nebelfrauen waren unfruchtbar, und sie wollten nicht, daß eine Menschenfrau Kinder hätte. Da schickten sie aus ihrem Nebelreich einen Wolf ab, der lief in den Wald, wo die Menschenfrau lebte, und heulte. Er saß auf seinen Hinterfüßen, die ganze Nacht, und heulte in den abnehmenden Mond.
Aber die junge Frau schlug das große Buch auf und saß vor dem Herd und las aus dem großen Buch. Und sie las ganz laut und fröhlich, daß ein Gebot ausgegangen war vom Kaiser Augustus und nachher ein Gebot vom König Herodes. Und wie die Kriegsknechte suchten und die Kinder erschlugen, aber wie sie dieses Kind nicht fanden, weil es schon auf dem Wege nach Ägyptenland war …«
»Und es war ein Herd wie dieser Herd?« fragte die junge Frau, und ihr tiefer Seufzer erfüllte den ganzen Raum.
»Genau solch ein Herd«, erwiderte Amadeus und strich mit der Hand über ihren Scheitel. »Das Birkenholz brannte mit einer schönen, blauen Flamme, und die weiße Rinde krümmte sich und duftete. Und die junge Frau streckte ihre rechte Hand aus und wärmte die Hand an der Flamme, aber sie las immer weiter, ganz laut und fröhlich, bis der Wolf zu heulen aufhörte. Denn er mochte nicht hören, was sie las, und er lief zu den Nebelfrauen zurück und sagte, daß es so nicht ginge, weil er keine Gewalt hätte über das Buch …«
»Keine Gewalt«, flüsterte die Frau, und der Griff ihrer Hände um die Knie des Erzählenden lockerte sich und verlor sich. »Keine Gewalt, weder über das Buch noch über das Kind …«
»Nein, keine Gewalt«, sagte Amadeus. »Nicht die Spur einer Gewalt …«
Nun war es ganz still vor dem kleinen Herd, und Amadeus legte ein neues Birkenscheit auf die Flammen. Er spürte den Herzschlag der jungen Frau an seinen Knien, und er fuhr fort, über ihren Scheitel zu streicheln, ganz leise und ganz langsam, so als würde er niemals aufhören damit.
Aber dann rief der Nachtvogel wieder über dem Moor, und die junge Frau zuckte zusammen. »Erzähle nun weiter«, flüsterte sie, »denn das Buch ist nun ausgelesen …«
»Das Buch ist niemals auszulesen«, sagte Amadeus tröstend. »Es ist wie ein Ring, der überall anfängt und nirgends ein Ende hat. Und hinter dem letzten ›Amen‹ fängt es gleich wieder von vorne an: ›Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …‹«
»Und da las die junge Frau wieder?«
»Ja, da las sie wieder, ganz laut und fröhlich, und als sie mitten im Lesen war, schickten die Nebelfrauen einen Hund, der war schwarz und saß auf der Schwelle und kratzte an der Tür.«
»Er wollte das Kind«, flüsterte die junge Frau, und ihre Hände schlossen sich wieder fest zusammen.
»Ja, er wollte das Kind«, sagte Amadeus ohne Sorge in seiner Stimme. »Aber er hörte doch zu, was die junge Frau las. Und die junge Frau hatte gerade das Buch Ruth aufgeschlagen, so ganz von ungefähr, und sie las, was dort aufgeschrieben war: ›Rede mir nicht ein, daß ich dich verlassen sollte und von dir umkehren. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden …‹ Und als sie das gelesen hatte, ganz laut und fröhlich, heulte der Hund auf und verließ die Schwelle und lief über das Moor zu den Nebelfrauen und sagte, daß es nicht ginge, weil er keine Gewalt hätte über das Buch …«
»Sage es noch einmal«, bat die junge Frau, und ihre Hände wurden wieder still und ohne Angst. »Wo du stirbst …«
Und Amadeus sprach die Stelle noch einmal und streichelte ihren geneigten Scheitel.
Nun war es wieder ganz still vor dem kleinen Herd, und wenn Amadeus den Kopf wendete, konnte er die Sternbilder über dem Moor sehen, hoch und silbern in ihrer wunderbaren Stille.
Aber dann rief ein Kauz in den hohen Fichten, und die junge Frau zuckte wieder zusammen. »Erzähle nun weiter«, flüsterte sie, »denn einmal mußte die Frau nun doch über das Moor gehen, weil die Nebelfrauen riefen …«
»Ja«, sagte Amadeus, »da machte sie sich nun auf, kurz nach der Mitternacht, und der Mond schien hell auf das Moor und warf ihren Schatten hinter ihr her. Sie hatte nichts als das Kind, das sie unter dem Herzen trug, und das schwere Buch, das sie in den Händen trug.«
»Aber sie nahm es mit?« fragte die junge Frau.
»Ja, natürlich nahm sie es mit. Sie hielt es zwischen beiden Händen und drückte es an ihr Herz, dort wo das Kind im Dunklen lag.
Und als sie eine Weile gegangen war und ihre Füße naß waren vom Tau, drehte sie sich um, und da sah sie, daß der Hund in ihrer Spur war und ihr folgte, die Nase auf der Erde, wie Hunde auf einer Spur zu tun pflegen. Da schrie sie leise auf und fürchtete sich sehr.«
»Aber«, flüsterte das Mädchen und erschauerte, »aber …«
»Aber, da war jemand bei ihr«, sagte Amadeus lächelnd und ohne alle Sorge, »der war wie ein Mann, zu dem eine Frau sprechen konnte, daß sie ihn nicht verlassen wollte. Der ging neben ihr und bückte sich und brach eine Blume, die auf dem Moor blühte, eine von den weißen Waldorchideen, die so süß duften. Und er brach sie und legte sie hinter sich über die Spur der jungen Frau. Und dann gingen sie weiter.
Und als sie sich umdrehten, sahen sie, daß der Hund über die Blume hinwegzuspringen versuchte, aber er konnte es nicht. Es war, als ob eine Hand ihn jedesmal beim Halsband nahm und zurückschleuderte. Da krümmte er sich und heulte, und es klang schauerlich unter dem kalten Mond.
Und da sahen sie, wie er ein Loch zu graben begann, mit beiden Vorderfüßen, ganz schnell und hastig, aber es dauerte lange, weil das Loch sich immer mit Wasser füllte, und er mußte es mit seiner Zunge aufnehmen, ehe er weitergraben konnte. Aber dann war es doch einmal tief genug, und dann mußte er laufen, um einen Ast zu finden, und mit diesem Ast im Maul schob er langsam die Blüte in das Loch hinein, und dann scharrte er das Loch wieder zu …«
»Und so lange konnte die Frau weitergehen?« fragte das Mädchen.
»Ja, so lange konnte sie weitergehen, und erst als die Blüte begraben war, konnte der Hund ihr folgen.«
»Denn sie hatte Gewalt über ihn«, flüsterte das Mädchen.
»Ja, sie hatte Gewalt über ihn. Und als er nun wieder ganz nahe gekommen war und sie seinen Atem hörte, brach der Mann neben ihr einen kleinen Fichtenast von den Bäumen, auf denen im Winter die Kerzen brennen, und legte ihn über die Spur. Und wieder mußte der Hund warten, bis er den Fichtenast begraben hatte.«
»Denn er hatte Gewalt über ihn«, flüsterte das Mädchen.
»Ja, natürlich hatte er Gewalt über ihn. Und nun liefen sie wieder weiter. Die junge Frau hatte schwer an dem Buch zu tragen, und der Mann fragte, ob sie es nicht fortwerfen wollte …«
»Nein«, flüsterte das Mädchen und preßte die Hände um Amadeus' Knie. »O nein, das tat sie nicht …«
»Nein«, sagte Amadeus, »das tat sie nicht. Denn es war das Buch, in dem von der Krippe geschrieben stand und auch von dem Mädchen, das die Ähren von den Stoppeln las und das die Frau nicht verlassen wollte.«
»Nein, der Mann wollte das Mädchen nicht verlassen«, flüsterte die junge Frau, und nun fielen ihr langsam die Augen zu.
»Und nun mußt du schlafen«, sagte Amadeus leise, »und morgen erzählen wir weiter.«
»Ja, morgen«, sagte die junge Frau wie im Traum. Und sie ließ sich aufhelfen und das Tuch um die Schultern festziehen, und dann führte Amadeus sie langsam durch den Wald zurück. Sie hielt die Augen halb geschlossen, aber sie lächelte. »Keine Gewalt«, flüsterte sie, wenn der Nachtvogel rief, »keine Gewalt …«
Amadeus führte sie die Treppe hinauf in ihre Kammer und zündete die Kerze neben ihrem Bett an. »Gehe noch nicht, bis ich eingeschlafen bin«, bat sie, und er gehorchte.
Sie entkleidete sich wie ein Kind, immer lächelnd, und dann saß er noch eine Weile auf ihrem Bettrand. Sie hatte die Augen nun geschlossen, und ihr Gesicht war ganz weich und ohne Angst. Sie sprach auch nicht mehr.
Seine Hand glitt über ihr Haar, immerzu, ganz langsam, bis sie eingeschlafen war. Die Kerze warf seinen Schatten riesengroß an die Wand der Kammer, und hinter dem kleinen Fenster fiel das Mondlicht bläulich auf die regungslosen Bäume.
Dann drückte er mit der Hand leise das Licht aus und stand auf. Eine Weile lauschte er noch dem ruhigen Atem, und dann tastete er sich zur Kammertür und die Treppe hinunter.
Er ging langsam durch den Wald zurück. Das silberne Licht fiel in breiten Balken durch die Lücken zwischen den Bäumen. Er war nun müde, fast erschöpft, als hätte er die Frau und das Kind auf seinen Schultern getragen. Es war kein Wolf in seiner Spur und auch kein schwarzer Hund, aber doch war es ein schwerer Weg, voller Dunkelheit und Gefahr. Seine Hand durfte nun nicht zittern, keinen Augenblick lang, und er wußte doch so wenig von den Verwirrungen einer Seele.
Aber er fühlte, daß die Toten nun nicht mehr hinter ihm hergingen. Nur das Gesicht des französischen Gelehrten tauchte vor ihm auf, das schöne Gesicht, das mit den Bildern der Madonnen und der Dome gefüllt war. »Ce sont toujours les pauvres …«, hörte er ihn sagen. »Toujours les pauvres …«
Am nächsten Abend war das Gesicht der jungen Frau verändert, als ob es nun dicht an der Schwelle stände. »Mache ein Feuer«, bat sie, »und erzähle …«
Als die Flamme knisterte, kauerte sie sich wieder bei ihm nieder. »Es ist dir nicht angst?« fragte sie und blickte ihn mit ihren verstörten Augen an.
Amadeus lächelte. »Nein, mir ist nicht angst«, erwiderte er. »Denn als sie nun noch eine Weile gelaufen waren und die Füße der jungen Frau schon strauchelten und der Atem des Hundes schon zu hören war, da krähte plötzlich ein Hahn hinter dem Moor. Der erste Hahn in der ganzen dunklen Runde, und eine ferne, ganz ferne Uhr schlug die erste Stunde des Morgens an.
Und mit dem Krähen des Hahnes und dem Schlag der Stunde war die ganze Erde verwandelt. Der Hund heulte einmal auf, aber dann war er nicht mehr da. Der Nebel wogte noch einmal um die Schilfwälder, aber dann war er nicht mehr da. Der Morgenstern stand ganz still über dem Moor, und es sah so aus, als lächelte er. So sicher und schön stand er da.
Da sank die junge Frau in die Knie, und wo sie hinkniete, wurde die Erde trocken und fest, und Wacholderbüsche standen herum, und ein kleines Dach mit einer Krippe war da, wie die Förster sie für die Rehe im Winter bauen. Und dort gebar die junge Frau ihr Kind und legte es in die Krippe, und da sie kein Kopfkissen hatte, legte sie das große, schwere Buch unter den Kopf des Kindes.
Und dann kam das Morgenrot …«
Die junge Frau hob ihr Gesicht, so daß sie seine Augen sehen konnte. Das Gesicht sah so aus, als fiele das Morgenrot wirklich in die offenen Augen hinein. Aber es war noch nicht still, das Gesicht, weil Licht und Schatten noch immer darüber hingingen.
»Und es war nicht blind?« flüsterte die junge Frau.
Amadeus schüttelte lächelnd den Kopf. »Weshalb sollte es blind sein?« fragte er ruhig, »da doch das ganze Morgenrot in die offenen Augen fiel?«
»Und es hatte kein Mal auf der Stirn?« fragte die junge Frau wieder.
»Weshalb sollte es ein Mal haben?« sagte Amadeus, »da der Atem des Hundes es doch nicht berührt hatte?«
»Und es hatte keine gespaltene Lippe?« fragte die junge Frau wieder.
»Weshalb sollte es eine solche Lippe haben?« fragte Amadeus, »da doch nur die Worte aus dem großen Buch in seinen Schlaf gefallen waren?«
»Und der Mann?« fragte die junge Frau nach einem langen Schweigen.
»Der Mann stand an der Krippe«, sagte Amadeus, »und hatte die Hände auf das niedrige Dach gestützt. Er stand wie ein Wächter da, und manchmal dachte die junge Frau, daß er eine silberne Rüstung trage. Und sie schämte sich sehr, als der Mann sich niederbeugte und ihre wunden Füße mit dem Morgentau wusch. ›Weshalb tust du das?‹ fragte sie ganz verwirrt. ›Weil deine Füße wund sind‹, sagte der Mann, ›und sie sind wund, weil sie über das Stoppelfeld gegangen sind, um Ähren zu lesen. Wir hätten dir die Ähren aus der Scheuer geben sollen und nicht aus dem Stoppelfeld.‹«
Die junge Frau dachte lange nach, und Amadeus sah, daß es ihr Mühe machte. Dann zog sie mit der rechten Hand den Rocksaum von ihren bloßen Füßen und betrachtete sie. »Aber sie sind nicht wund?« flüsterte sie.
»Nein, weil sie schon gewaschen sind«, erwiderte Amadeus.
»Wer hat sie gewaschen?« flüsterte sie.
»Die sich deiner erbarmt haben«, sagte Amadeus leise.
»Morgen um diese Zeit wird es geboren sein«, sagte die junge Frau plötzlich. »Ohne Makel und Mal, wie du es versprochen hast.«
»Ganz so«, erwiderte er und ließ die Hände auf ihrem Scheitel ruhen.
Am nächsten Morgen stand sie nicht auf, und der Förster holte die weise Frau aus dem Schloß und die beiden Frauen aus den Moorhütten. Sie wollte Amadeus nicht sehen, aber sie wollte, daß er auf der Schwelle der Försterei bliebe, und dort saß er nun vom Morgen bis zur Dämmerung. Nur der Hund war bei ihm, und ab und zu saß Christoph eine Weile an seiner Seite. »Sei nur getrost, Herr«, sagte er, »nun kommt die gute Zeit für uns. Nun hat die Erde ausgezürnt.«
Aber Amadeus wußte nicht, ob die gute Zeit kommen würde. Einmal zerbrach die sanfte Macht der Märchen, und die dunkle Gewalt würde aufstehen. Und er wußte nicht, wie weit ihre Hand reichen würde.
Er vernahm keinen Laut aus der Kammer, den ganzen Tag nicht. Er war so erschöpft, daß seine Hände zu zittern begannen, und mitunter fielen ihm die Augen zu. Wozu habe ich mich überreden lassen? dachte er einmal. Was sitze ich hier wie ein Narr und warte auf ein fremdes Kind?
Aber dann schämte er sich des Gedankens, streichelte den Kopf des Hundes und blickte wieder zu den Wipfeln der Bäume hinauf, die sich rötlich zu färben begannen.
Bis die Förstersfrau ihn holen kam. »Es ist ein Mädchen«, sagte sie, »ein schönes Kind. Und nun will sie Sie sehen.«
Amadeus mußte sich an den Pfosten der Tür lehnen und die Augen schließen, ehe er die Treppe hinaufstieg. Für die andern war es nun gut, alles war gut, aber für ihn war es noch nicht gut. Für ihn war es erst der Beginn.
Er wußte nicht, was ihn erwarten würde. Es konnte alles zwischen Himmel und Erde sein, was ihn erwartete. Es brauchte sich nichts geändert zu haben, und er konnte weiter der Mann sein, der in der silbernen Rüstung an der Krippe stand, bevor er die Füße wusch. Aber es konnte sich auch alles geändert haben, der ganze Grund der Erde, auf dem ihr Leben ruhte, und sie konnte mitsamt dem Kind in das Bodenlose stürzen.
Die Kammer lag schon im Dämmerlicht. Das Fenster war weit geöffnet, und er erinnerte sich später, viel später, daß durch dieses Fenster das Lied der Heidelerche hereingekommen war und daß es ihm als eine Verheißung dessen erschienen war, was Christoph die gute Zeit genannt hatte.
Aber dann war es geschehen, daß die junge Frau die Hände auf das Holz des Bettes gestützt hatte, als ob sie sich aufrichten wollte. Und da sie zu schwach dazu war, hob sie die Hände wieder auf, mit geöffneten Fingern, so weit geöffnet, wie nur das Entsetzen sie öffnen kann, und während ihre großen, vom Schmerz noch verstörten Augen sein Gesicht umfaßten, schrie sie einmal auf. Einen langen, hohen, klagenden, von Grauen erfüllten Schrei, wie nur die Tiere in der Todesnot schreien, und dann fielen ihr Kopf und ihre Hände zurück, ohne Bewußtsein, und Amadeus konnte noch erkennen, daß sie noch mit dem letzten Atemhauch des Bewußtseins versucht hatte, ihr Gesicht zur Wand zu kehren.
»Geht hinaus«, sagte er leise, »alle. Und nehmt das Kind mit.«
Sie gehorchten mit verstörten Gesichtern, und Amadeus saß nun auf dem Bettrand wie zwei Abende zuvor, und wie damals strich er mit seiner linken Hand über das feuchte Haar der Bewußtlosen. Das Fenster an der gegenüberliegenden Wand erfüllte sich nun immer tiefer mit dem glühenden Abendrot, und die Vögel sangen noch einmal mit aller süßen Kraft ihrer Kehlen, ehe die Nacht auf den Wald fiel.
Das Gesicht unter seiner Hand war so weiß wie das einer Toten, aber um die geschlossenen Augen lief ein unaufhörliches Zittern und Zucken, als höbe man eine Kerze über das Gesicht.
Amadeus wußte nicht, wie lange es gedauert hatte. Er wußte nur, daß das Viereck des Fensters nicht mehr rot war, sondern von einem silbernen Licht erfüllt und daß er ganz von Ferne die Nachtvögel rufen hörte. Er zündete das kleine Öllämpchen an, bei dem ein kleiner Docht auf der dunklen Flüssigkeit schwamm.
Er sah, wie die Augen der jungen Frau sich öffneten. Zuerst blickten sie in das silberne Viereck des Fensters, und dann wendeten sie sich ganz langsam und blickten in sein Gesicht. Und dann schlossen sie sich wieder zu, und er fühlte in seiner linken Hand, die auf dem feuchten Scheitel lag, daß der ganze Körper erzitterte. Ja, er glaubte, jedes einzelne Haar unter seiner Hand erzittern zu fühlen.
Er hatte nichts bedacht und nichts überlegt. Es kam wohl wie eine Eingebung über ihn, daß er fortfuhr, das Haar zu streicheln, und fortfuhr zu sprechen, wie er am letzten Abend gesprochen hatte, so als ob nichts inzwischen gewesen wäre, gar nichts als der Schlaf einer jungen Frau, die sich fürchtete und getröstet werden mußte. Es war nicht mehr ein Märchen, das zu erzählen war. Es war nur dies, daß das Märchen in die Wirklichkeit hineingeführt werden mußte. Nicht daß man sagen konnte: »Gestern war das Märchen, aber heute ist die Wirklichkeit.« Sondern daß man sagen mußte: »Gestern waren wir unruhig und fürchteten uns und sahen nur die Hälfte. Aber heute fürchten wir uns nicht mehr und wollen nun das Ganze sehen.«
»Und als die junge Frau sah«, fuhr Amadeus leise und ruhig fort, als ob er eben erst aufgehört hätte, »daß ihre Füße gewaschen waren und nicht mehr wund waren, weil sich einer ihrer erbarmt hatte, blickte sie sich zum erstenmal in der Runde um, als müßte sie sich an etwas erinnern. Der Morgenstern verblaßte nun, und im Osten stand das erste Rot feierlich über dem Walde. Das Kind lag in der Krippe und schlief, und seine Wange lag auf dem großen Buch, das die Frau nicht fortgeworfen hatte. Das Kind lächelte im Schlaf, und nun, im aufsteigenden Tageslicht, konnte man sehen, daß es ganz ohne Makel war.
›Hier war ich doch schon einmal‹, sagte die junge Mutter, und eine schmale Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen, als machte es ihr große Mühe, sich zu erinnern.
›Gewiß warst du schon einmal hier‹, erwiderte der Mann und legte trockene Zweige zusammen, um ein kleines Feuer anzuzünden. ›Hier warst du, als die Hütte noch stand und du das Kind empfingst, das nun in der Krippe schläft. Aber es ist schon lange her, so lange, daß es nur noch wie ein Traum ist.‹«
Die junge Mutter hatte den Kopf unter seiner Hand leise bewegt, so daß ihre Augen ihn nun ansehen konnten. Große, weit offene Augen, die nun nicht mehr von Angst, sondern von einer schrecklichen Verzweiflung erfüllt waren.
Aber der Zauber des Märchens, aus dem soviel Trost in sie geflossen war während der letzten Tage, mußte wohl noch über ihr liegen, denn sie bewegte langsam ihre Lippen, und als Amadeus sich tiefer zu ihr neigte, konnte er verstehen, was sie sagte: »Das Kind ist kein Traum«, sagte sie. »Das Kind ist da …, ich habe es gesehen …«
»Wir alle haben es gesehen«, sagte Amadeus und richtete sich wieder auf. »Ein schönes Kind, ohne Makel, aber du hast es mir geschenkt. Alle wissen es, daß du es mir geschenkt hast. Einmal muß das Jesuskind gekommen sein, am Heiligen Abend vielleicht, von dem Christoph erzählt hat, und hat es aus seinen Händen in meine Hände gelegt. Es wollte, daß es mein Kind sei. Daß es unser Kind sei. Es braucht ja nur die Hand zu heben, und dann geschieht es.«
Sie sah ihn noch immer unbeweglich an, mit ganz klaren und unbestechlichen Augen. »Weshalb vergaß ich es?« fragte sie.
»Wahrscheinlich hat das Jesuskind es gewollt«, erwiderte Amadeus. »Manchmal will es, daß wir vergessen. Es hat auch gewollt, daß ich das Lager vergesse, und deshalb hat es ein Kind in meine Hände gelegt. Ohne das Kind würde ich nicht haben vergessen können.«
»Aber dann fingen sie den Mann«, sagte die junge Frau und sah ihn an, als ob tief auf dem Grunde seiner Augen das Eisen zu sehen wäre, mit dem sie ihn gefangen hätten.
»Ja, sie fingen ihn«, sagte Amadeus ruhig. »Sie fingen ihn, weil auch er von den Nebelfrauen gekommen war, ganz wie der Wolf und der Hund. Und weil auch er das Kind holen sollte. Aber er konnte es nicht holen, weil er keine Gewalt darüber hatte.«
»Keine Gewalt«, flüsterte die Frau wie am Abend zuvor.
»Nein, keine Gewalt. Und damit keine Gewalt wäre, auch bei den andern nicht, die ihn gefangen hatten, mußte ich nun zwischen den Wacholderbüschen liegen, an derselben Stelle, genau an derselben Stelle. Und nun war keine Gewalt mehr. Nun war sie ausgelöscht, und nun erst konnte das Kind ohne Makel werden in dir.«
»Aber ich wollte dich töten lassen dort, mit Gewalt.«
»Du wolltest es, aber dann erbarmtest du dich. Weißt du noch, wie du dich erbarmtest? Du saßest im Heidekraut und wolltest zusehen, wie ich sterbe. Aber du sahst noch nicht, daß ich dalag, um das Bild des andern auszulöschen. Und wenn ich gestorben wäre, würde der Mann nicht dagewesen sein, der mit dir über das Moor gegangen ist und die Blüte auf deine Spur gelegt hat und den Tannenzweig. Siehst du, welch eine schöne Ordnung in allem ist?«
»Und dann haben die Menschen geglaubt, daß du der Vater bist?« fragte sie, und zum erstenmal stieg das Blut ganz leise in ihre Wangen.
»Ja, das haben sie geglaubt, und das dürfen sie auch ruhig glauben. Aber viel wichtiger ist, daß du es geglaubt hast, und nur mit diesem Glauben bist du über deine Krankheit gekommen. Denn du warst sehr krank.«
»Ich habe dich geschlagen«, sagte sie leise, »ich habe dich immerzu geschlagen.«
»Du hast mich geschlagen«, erwiderte er lächelnd, »weil du sein wolltest wie ich, und damals konntest du es noch nicht.«
»Ich werde es niemals können«, sagte sie.
»Ach nein«, erwiderte er. »Damals, am Moor, als du liefest, um Christoph zu holen, warst du es schon. Damals erbarmtest du dich. Und es ist schwer, sich zu erbarmen. Vor zwei Jahren habe ich noch nicht gewußt, daß ich mich jemals erbarmen würde.«
»Nimm die Hand von meinem Haar«, sagte sie nach einer Weile. »Ich bin so voll Schande, daß jedes meiner Haare darin gebadet ist.«
Er fuhr fort, ihren Scheitel zu streicheln, und fuhr fort zu lächeln. »Sieh«, sagte er, »du mußt nun erkennen, daß alles verwandelt ist. Es gibt keine Schande, wenn man sich erbarmt hat. Es ist auch keine Schande darin, daß man mich geschlagen hat, als ich geflohen war. Es war nur Leiden und Gewalt darin. Aber nun ist weder Leiden noch Gewalt. Du mußt wissen, daß du viel Gutes getan hast.«
»Was für Gutes?« fragte sie finster.
»Daß du mit deinem Leiden alles Gute in uns aufgeweckt hast, verstehst du das? Ohne dich wären wir dunkel und finster geblieben. Und nun sind wir hell geworden. So hell wie die Stirn deines Kindes.«
»Geh noch nicht fort«, bat sie nach einer Weile.
»Nein, ich gehe nicht fort … Hörst du die Nachtvögel? Gestern fürchtetest du dich noch. Heute fürchtest du dich nicht mehr.«
»Nein, ich fürchte mich nicht …, wirst du nun sagen, daß du nicht der Vater bist?«
»Weshalb sollte ich das sagen, da ich es doch bin? In allen diesen Monaten war ich der Vater.«
»Aber ich muß mich nun scheiden von dir«, sagte sie. »Ganz und gar scheiden.«
»Weshalb solltest du dich scheiden wollen?« fragte er. »Als der Hund an der Tür kratzte, um das Kind zu holen, weißt du nicht mehr, was du damals gelesen hast? ›Wo du bleibst, da bleibe ich auch‹, hast du gelesen. Ich werde nun immer hierbleiben, vor dem Herd im Schafstall. Ich werde nicht mehr fortgehen. Und du wirst jeden Abend kommen und vor dem Feuer sitzen.«
»Es wird kein Makel an ihm sein?« fragte sie nach einer Weile.
»Niemals«, erwiderte er.
»Auch nicht einer, den nur du allein sehen wirst?«
»Auch nicht einer.«
Die Augen fielen ihr langsam zu. Aber sie suchte mit geschlossenen Augen nach seiner rechten Hand, über die sie ihn als Kind geschlagen hatte. Sie suchte mit ihren Fingern nach der Narbe, die noch zu fühlen war, und schloß beide Hände darüber. Der Kauz begann in den hohen Eichen zu rufen, aber sie zitterte nicht mehr.
»Hole nun die Mutter«, flüsterte sie. »Sie soll das Kind mitbringen. Und du sollst schlafen, lange, lange …«
Er küßte ihren Scheitel und ging leise hinaus.
Er wußte nicht, wie spät es war. Der Mond stand schon tief, und es rührte sich leise in den Bäumen, als sei der Morgen nicht mehr fern. Der Kuckuck rief schon, und er erinnerte sich, daß es Regen bedeutete, wenn er schon so in der Frühe wach war.
Und nun war es schön, daß es regnen würde. Nun war es so schön. Zuerst würden die einzelnen großen Tropfen fallen, schwer und jeder für sich zu zählen. Und dann würde es langsam anschwellen und sich zusammenschließen wie in einem großen Orchester, in dem die Instrumente eines nach dem andern einfielen. Die große Pastoralsymphonie, in der auch der Ruf des Kuckucks nicht vergessen war. Der große Regen würde fallen, auf den Wald, auf das Moor, auf das Schilfdach des Stalles, auf die Schwelle des Hauses, in dem die junge Frau mit ihrem Kinde lag. Auf die dunklen Spuren des Wolfes und des Hundes, auf die Spuren des Jahres und der vielen Jahre, in denen Gewalt gewesen war. In denen der Haß und das Blut und das Grauen gewesen waren.
Aber nun würden sie ausgelöscht werden. Das Gras würde wieder aufstehen, die Wurzeln der Erde würden wieder getränkt werden, der gereinigten Erde, die nun ausgezürnt hatte. Weil die Menschen ausgezürnt hatten. Nicht alle, aber diejenigen, die beiseite gegangen waren, um den Abend zu finden und mit dem Abend die verlorene Zeit, die lange vergangene, uralte Zeit, in der man aus dem großen Buche las, wenn die dunklen Tiere auf der Schwelle saßen. In der noch ein Hauch der alten Weisheit und Güte und Gerechtigkeit die Gräser bewegte, der Hauch der Märchen, in denen der Mensch das Letzte zu begreifen versuchte. In der er es nicht mit Apparaten und Formeln zu begreifen versuchte, sondern mit den Gestalten, die er sich erschuf, mit den Nebelfrauen und den Wölfen, mit dem ersten Ruf des Hahnes im Morgenrot und mit der Blüte, die man auf eine Spur legte, damit die bösen Füße der Spur nicht mehr folgen konnten.
Es war so ohne Bedeutung, was sie nun im Wirklichen tun würden. Ob die junge Frau bleiben oder fortgehen würde, um mit ihrer Hände Arbeit das Kind zu ernähren. Ob die andere junge Frau nun den weißen Sand der Nehrung durch ihre Finger rinnen ließ oder ob der Sand still in ihren erstarrten Händen lag. Ob der Bruder ein Kind haben würde für die toten Kinder, die auf der Landstraße nach ihm gerufen hatten, oder ob dieses Kind, das gestern geboren worden war, nun für alle Kinder geboren worden war, nach denen sie hier am Moor verlangten, der Bruder und die junge Frau mit dem Heimweh und noch andere vielleicht, von denen er es nicht wußte.
Daß hier das große Geheimnis geschehen war: daß aus dem Dunkeln das Helle aufgestiegen war. Daß ihnen gezeigt worden war, wie wenig Feindschaft zwischen dem Guten und dem Bösen zu sein brauchte. Daß die Guten so wenig Recht hatten, sich über die Bösen zu erheben, weil tief, ganz tief unten derselbe Urgrund für beide bereitet war. Daß die große, weise Ordnung sie beide umschloß, sie alle umschloß, wenn sie nur gehorsam waren und demütig. Und wenn sie ohne Gewalt waren.
Ja, auf dieses alles würde der Regen fallen, der wunderbare Regen, unter dem die Augen zufallen würden nach so viel Wachen und Angst. Und wie vor Jahren, vor langen unendlich langen Jahren würde man aufwachen, und ein alter Mann würde vor dem Herde knien und das Feuer anmachen, und auch die Zeit, die zerbrochene, würde sich wieder zusammenschließen, die Kinderzeit mit der Abendzeit, und sie würden wieder »tanzen, wenn auch traurig«, weil auch die Traurigkeit nun anders geworden war. Weil sie nur wie die Stille zwischen den Herzschlägen war, und ohne die Stille würden die Herzschläge nicht sein.
So einfach war alles, daß die nicht Einfachen lächeln würden, wie sie über die drei Brüder gelächelt hatten oder über Christophs blauen Rock oder über den Freiherrn, der ein Vater hatte sein wollen, damit eine Frau und ein Kind in das Helle hatten treten können. Damit die Eisen nicht mehr gestellt würden, in denen man Tiere und Menschen fing. Damit Galgen nicht mehr aufgerichtet würden, deren Schatten bis in die Schlaflieder fielen, die man den Ungeborenen sang.
War der Weg so lang, den der Freiherr bis zu seinem Schafstall zu gehen hatte, oder war die Zeit so lang, durch die er zu gehen hatte, daß der Weg gar nicht aufhören wollte? Oder war er so müde, daß jeder Schritt wie eine Ewigkeit war? Er sah das Morgenrot zwischen den Bäumen sich über die Erde heben, ein glühendes Morgenrot, das den Regen verkündete. Er hatte es viele Jahre lang über den Wachttürmen aufgehen sehen und die grauen Läufe der Maschinengewehre röten, die auf Menschen gerichtet waren. Er hatte es die Gesichter der Menschen röten sehen, verfallene, zerstörte und dem Tode zugewendete Gesichter. Er hatte nicht mehr gewußt, daß es dazu geschaffen war, die Erde zu röten und die Zeit zu messen, weil dort keine Zeit gewesen war.
Aber nun war es wieder da, und keine Gewalt hatte es zerstören können. Es war so da, als ob »aus Abend und Morgen« der erste Tag würde, und so würde es immer sein. Sie waren nicht herausgefallen aus der Ordnung der Zeit, damals nicht und heute nicht. Sie hatten sie nur vergessen für eine Weile, und nun würden sie sie niemals mehr vergessen. In diesem verlorenen Winkel der Erde würden sie noch einmal festhalten, was man dort draußen so schnell verlor. Trotz Spott und Lächeln würden sie es festhalten. Sie würden die Erde nicht bewegen und nicht das Geschehen der Staaten und der menschlichen Ordnungen. Aber sie würden eine Schwelle haben, auf der man würde sitzen können, wenn auf der ganzen Erde kein Raum mehr war zum Sitzen. Und wenn es nur ein Kind war, das kommen würde, um dort zu sitzen. Eines, das sie gerettet hatten aus der Nacht der Empfängnis und des Werdens. Ein dunkles Kind, und sie hatten es hell gemacht. Und mit ihm hatten sie die Erde noch einmal neu begonnen, den ganzen Sinn der Erde: daß aus der dunklen Wurzel das goldene Korn heraufstieg. Das Korn, aus dem Brot würde, das Brot, aus dem der nächste Tag würde. Der nächste Tag, aus dem die Zeit, und die Zeit, aus der die Ewigkeit würde.
Der Freiherr Amadeus schlief sofort ein, kaum daß er sich auf sein Bett gelegt hatte. Und er erwachte für eine kurze Weile, als die ersten, schweren Tropfen auf das Schilfdach fielen. Er erwachte nur so weit, daß er begriff, daß es Regen war. Nicht, wo er war und wann es war, und nur mit Mühe, wer er war. Aber daß es der Regen war, der langsam anschwoll wie eine Symphonie, und der Ruf des Kuckucks fehlte nicht in ihr, und dann, als alle Tropfen sich versammelt hatten, war es das leise, tröstliche, wie unendlich erscheinende sanfte Rauschen, das um den Schafstall stand, um den Herd, in dem kein Feuer brannte, um das Lager, auf dem er ruhte. Das Rauschen, in dem die welken Gräser sich wieder aufrichteten, in dem des Bruders Saaten wachsen würden, in dem das Kind an der Brust der jungen Frau lag, um die Süße und Bitterkeit des Lebens in sich einzutrinken. Aber es war keine Grenze zwischen Süße und Bitterkeit, wie zwischen Schlaf und Wachen keine Grenze war, und wahrscheinlich auch nicht zwischen Tod und Leben. Es war das Ganze, was sie alle umfing in dem fallenden Regen und was bis an ihre Wurzeln reichte, wie es bis an die Wurzeln der Gräser und der Saaten reichte.
Und es war nun auch wirklich so, daß Christoph vor dem Feuer kniete, als der Freiherr Amadeus erwachte. Das Feuer brannte schon, aber Christoph war so geblieben auf seinen Knien, die Hände auf die Erde gestützt und in den Anblick der Flamme versunken.
Es regnete nicht mehr, aber der Tag mußte schon vergangen sein, weil ein Stern in dem Viereck des Fensters stand und weil die Nachtvögel schon riefen. Aber man konnte noch hören, wie aus den alten Bäumen die Tropfen auf das Dach des Stalles fielen.
Amadeus erinnerte sich, an alles, was gewesen war, aber wie an etwas, das der Regen schon bedeckt hatte. Und was übriggeblieben war, war nur der große Friede, der alles umfing, das Haus, den Herd, den alten Mann und ihn selbst. Ein so wunderbarer Friede, daß er nur ganz leise atmete, um nicht als etwas Besonderes da zu sein.
Aber Christoph hatte auch dieses gehört, diese leise Mühe, nicht dazusein. Er wendete nicht den Kopf. Er schob nur mit einer Hand den Kessel etwas zur Seite, in dem das Wasser zu kochen begann. »Es ist nun gut, lieber Herr«, sagte er in das Feuer hinein, »es ist so gut, wie es unter Menschen sein kann.«
»Warst du dort, Christoph?«
»Ja, ich war dort, und ich habe an ihrem Bett gesessen. Sie hat mich um Verzeihung gebeten, wie sie alle um Verzeihung bittet, und ich denke, da ist nun etwas, wovor sie Angst hat, lieber Herr, daß du sie heiraten möchtest. Und wenn du das wolltest, hat sie gesagt, würde sie fortgehen müssen, so weit, wie die andere Frau fortgegangen ist.«
»Sie wird nicht fortzugehen brauchen, Christoph.«
»Das habe ich ihr gesagt, und sie hat es auch geglaubt. Der Herr Erasmus hat geheiratet, um ein Kind zu haben, und er wird es doch niemals haben. Du wirst nicht heiraten, lieber Herr, und du hast ein Kind gewonnen auch ohnedem. Du bist nun so weit gegangen, lieber Herr, daß dies alles hinter dir geblieben ist. Du hast eine größere Liebe gehabt, als man sie zum Heiraten braucht.«
»Bin ich denn weit gegangen, Christoph?«
Nun wendete der alte Mann ihm sein Gesicht zu und sah ihn an. »Du kamst hier an, lieber Herr«, sagte er, »wie ein Wolf, und ich habe Trauer um dich getragen. Und nun weißt du, daß die Armen auf dieser Erde nicht die Schafe, sondern die Wölfe sind. Mehr braucht einer nicht zu wissen, lieber Herr.«
»Ich würde es nicht gelernt haben ohne dich«, sagte Amadeus leise.
Christoph stand auf und schüttete den Kaffee in das kochende Wasser. »Es ist eine gute Zeit, lieber Herr«, erwiderte er freundlich, »wenn der Edelmann denkt, von seinem Kutscher lernen zu können. Aber es ist eine noch bessere Zeit, wenn das weiße Haar vom grauen Haar lernen kann. Richte dich nun auf, lieber Herr, daß ich dir den Kaffee bringen kann.«