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Die Verhandlung gegen den Förster Buschan fand in der ersten Adventswoche statt, und seine Frau und der Freiherr Amadeus waren als Zeugen geladen worden. Da der Zustand des Mädchens bekannt war, hatte man bei ihm von einer Vorladung abgesehen.
Amadeus war sehr besorgt, daß die »junge Frau« von dem Termin erfahren könnte, aber er weigerte sich, sie mit Gewalt zurückhalten zu lassen, wenn sie zur Verhandlung gehen wollte.
Er sah sie sofort, als er den kleinen Saal in der Kreisstadt betrat. Sie saß zwischen Erasmus und Christoph, in ein dunkles Tuch gehüllt wie ihre Mutter, und blickte mit einem stillen, abwesenden Lächeln auf den Richtertisch. Wer sie nicht kannte, würde nichts von ihrer Krankheit gemerkt haben.
Amadeus setzte sich im Hintergrund auf eine der Bänke. Der kleine Saal war gefüllt, und die Leute sahen nicht anders aus, als ob sie zu einem Schauspiel gekommen wären und auf das Aufgehen des Vorhangs warteten. Amadeus dachte, daß sie vor zwei oder fünf Jahren ebenso ausgesehen haben würden. Die Zeit hatte keine Zeichen in ihre Gesichter geschrieben, außer den Zeichen des Hungers oder vielleicht der Not. Die Katastrophe hatte den Alltag ihrer Herzen nicht berührt.
Der Ankläger saß schon an seinem Tisch und blätterte in seinen Papieren. Er war ein kleiner, gedrückter Mann, ein Werkführer vielleicht aus einer der Rüstungsfabriken, und Amadeus wußte, daß er zwei Jahre in einem Lager zugebracht hatte. Er würde es auch an seinem Gesicht erkannt haben, das scheu und böse war wie die Gesichter von vielen, die er auf dem Appellplatz gesehen hatte. Er war nun »in der Macht«, und es war aus seinen Augen abzulesen, daß er alle diejenigen im Saal verachtete, die nicht hinter dem Stacheldraht gewesen waren.
Als der Vorsitzende mit den Beisitzern den Saal betrat und sich hinter dem langen Tisch niedersetzte, sah Amadeus auch ihn lange an. Er war der frühere Redakteur einer kleinen, sozialistischen Zeitung. Man hatte ihn in den ersten Tagen nach der »Machtergreifung« verprügelt und ihn mit einem Plakat um den Hals durch die Straßen geführt. Dann war er untergetaucht, niemand wußte wo, und die Brandung hatte ihn wieder an den Strand gespült. Er hatte Frau und Kinder bei den Bombenangriffen verloren. Aber seine Augen blickten ruhig in den Saal, als erinnerte er sich nicht mehr an die vergangenen Jahre.
Die Beisitzer saßen stumpf mit ihren runden Gesichtern da, als wäre es eben ihres Amtes, dazusitzen, und als säßen sie schon viele Jahre in diesem kleinen Saal, um das Recht über diejenigen zu sprechen, die nicht auf einem Stuhl gesessen hatten, sondern marschiert waren.
Der Angeklagte und die Zeugen wurden aufgerufen, und dann begann die Befragung des Försters.
Buschan stand ruhig vor den Schranken, in seinem sauberen, einfachen Anzug und sah den Vorsitzenden und den Ankläger mit seinen stillen Augen an. Es war ihm anzumerken, daß er mit sich »ins reine« gekommen war. Er stockte nicht mit seinen Antworten, er sah sich nicht um, er brauchte nicht lange nachzudenken, wenn man ihn etwas fragte. Er machte kein Hehl daraus, daß er geglaubt hatte, und auch daraus nicht, daß er sich getäuscht hatte. Er sagte es so einfach, daß kein Zweifel übrigblieb.
Es gelang dem Ankläger nicht, ihm nachzuweisen, daß er seine Waldarbeiter bedrückt oder die Gefangenen, die im Walde arbeiteten, schlecht behandelt hätte. Er hatte gehorcht, aber er hatte kein Leid zugefügt.
Es war zu sehen, daß es dem Ankläger leid tat, daß der Förster niemanden erschlagen oder erschossen hatte. Aber dann legte er die Blätter auf seinem Tisch zur Seite, warf einen schnellen Blick in den Saal und fragte dann, wie es mit dem Freiherrn von Liljecrona gewesen sei. Er ließ erkennen, daß alles Bisherige für ihn belanglos gewesen war und daß er nun mit seinem Amt beginne. Es sah so aus, als ziehe er das Tuch von dem Gesicht eines Ermordeten und hebe dieses Gesicht mit einer Hand auf, damit jedermann im Saal die gebrochenen Augen erkennen könne.
Der Förster faltete, ohne es zu wissen, die Hände und blickte zum erstenmal eine Weile vor sich nieder. Aber dann sah er so ruhig auf wie bisher und blickte den Vorsitzenden an, nicht den Ankläger.
»Ich habe alles bekannt«, sagte er, »in dem Schafstall, in dem der Herr Baron lebt, und der Herr Baron wird es bezeugen. Ich habe bekannt, daß es mir schwer geworden ist, die Anzeige zu schreiben, aber daß ich es damals für meine Pflicht hielt. Und daß ich es bereue.«
Es war nun ganz still im Saal, und nur das leise Schluchzen war zu vernehmen, aus der Ecke, in der die Förstersfrau unter ihrem schwarzen Tuch saß.
Und worum es sich in der Anzeige gehandelt hätte, fragte der Vorsitzende endlich. Sie sei nicht mehr aufzufinden gewesen, und die Kammer müsse sich nun auf das verlassen, was der Angeklagte aussagen wolle.
Der Herr Vorsitzende könne sich darauf verlassen, erwiderte der Förster und sah den Fragenden an. Er sei mit dem Freiherrn im Walde gewesen, um seine ausgelegten Eisen nachzusehen, und in einem hätte ein Fuchs gesessen. Sie hätten davor gestanden, und da habe der Freiherr gesagt, er sollte doch besser keine Eisen mehr stellen, seitdem sie ein ganzes Volk im Eisen gefangen hätten. Man sollte an den Tieren nicht wiederholen, was der Staat mit den Menschen mache. Und das sei nun alles, und so habe er es aufgeschrieben und abgeschickt.
Und er sei sich über die Folgen klar gewesen, fragte der Vorsitzende und sah nicht den Förster, sondern den Freiherrn Amadeus an.
Einen Augenblick überlegte der Förster, und dann sagte er leise, daß er diese Frage wohl bejahen müsse, auch wenn er nicht habe voraussehen können, welcher Art im einzelnen diese Folgen sein würden.
Der Vorsitzende spielte noch eine Weile mit seinem Bleistift, indem er ihn auf die schmale Kante eines Glasdeckels legte, mit dem das Tintenfaß vor ihm geschlossen werden konnte. Er versuchte, den Bleistift so zu legen, daß die beiden Enden im Gleichgewicht blieben, aber es gelang ihm nicht.
»Ist noch eine Frage, Herr Ankläger?« fragte er schließlich, ohne den Gefragten anzusehen.
»Es dürfte genügen«, erwiderte dieser mit seiner beleidigten Stimme.
Frau Buschan wurde aufgerufen und verweigerte die Aussage nicht, wie die meisten erwartet hatten. Sie hatte das schwarze Tuch bis über die Stirn gezogen, und sie sah aus, als sei sie zu einer Beerdigung gekommen. Ihr Gesicht war so von Schmerzen gezeichnet, daß es den Beisitzern unbehaglich war, sie anzusehen, und der Vorsitzende bot ihr einen Stuhl an.
Aber sie schüttelte den Kopf. Sie hatte nichts auszusagen, als daß sie das Schreiben ihres Mannes nicht gelesen hätte, aber daß sie ihn beschworen hätte, es nicht abzuschicken. Er sei ein guter Mann gewesen, zu ihr, zu ihrer Tochter und zu den Arbeitern, aber er sei in einem Wahn befangen gewesen.
»Auch Ihre Tochter ist es gewesen?« fragte der Vorsitzende leise.
»Sie leidet, Herr Präsident«, flüsterte sie. »Rühren Sie sie nicht an, damit sie nicht schreit.«
»Es klingt mir nicht übermäßig glaubhaft«, sagte der Ankläger, ohne seine Stimme zu dämpfen, »daß Sie Ihren Mann beschworen haben, wie Sie sagen. In solchem Falle pflegen Männer zu gehorchen.«
Die Frau wendete ihm ihr Gesicht zu und sah ihn lange an. »Ich weiß nicht«, sagte sie endlich, »was der Herr Ankläger ›übermäßig glaubhaft‹ nennt. Bei uns wird geglaubt oder nicht geglaubt. Ich lese noch in der Bibel.«
Der Ankläger zuckte die Achseln und sah den Vorsitzenden an.
Frau Buschan wurde entlassen, und die andern Zeugen wurden nacheinander aufgerufen. Sie hatten nichts auszusagen, als daß der Förster eine »Stütze des Systems« gewesen sei, wie ein Holzhändler es nannte. Aber es sei richtig, daß er nach ihrer Kenntnis niemandem etwas zuleide getan habe.
Dann wurde der Freiherr Amadeus aufgerufen und sogleich vereidigt.
Diesen Zeugen sahen die Mitglieder der Kammer nun sehr genau an. Aber während die beiden Beisitzer ihn betrachteten, als stände er noch immer in einem eisernen Käfig, mit einer Art von dumpfer Scheu betrachteten, als könnte dies eigentlich nicht sein, war in dem Gesicht des Anklägers eine leise Mißbilligung zu lesen, daß jemand aus der Klasse der »Junker« und der »Ausbeuter« vom Schicksal auf eine Stufe gehoben worden war, die ihn nun mit dem leidenden Proletariat gleichstellte. Es paßte auf eine schwer zu begründende Art nicht in das »System« des Anklägers, daß hier eine Ausnahme auftrat, und er würde ohne Zweifel lieber gesehen haben, wenn dies kein Freiherr gewesen wäre, sondern ein Grubenarbeiter oder etwas Ähnliches.
Der Vorsitzende fragte den Freiherrn, ob er von der Rolle gewußt habe, die der Förster in seiner Sache gespielt habe.
Nein, das habe er nicht gewußt, weil er niemals nach seiner Gefangennahme verhört worden sei und weil ihm niemand gesagt habe, weshalb man ihn gefangengenommen habe.
So daß also, fragte der Vorsitzende weiter, da die Anzeige nicht mehr aufzufinden sei, der Förster den Tatbestand hätte abstreiten können, da ja die Frau ihre Aussage hätte verweigern können.
Ja, das sei so, erwiderte der Freiherr, und es sei auch das, was er dem Angeklagten nahegelegt habe, als er zum erstenmal zu ihm gekommen sei.
Es ging eine leise Bewegung durch den Saal, und der Vorsitzende wartete, bis sie erstarb.
»Und was hat der Angeklagte erwidert, Herr Baron?« fragte der Vorsitzende nach einer Pause.
»Er hat erwidert, daß er durch die Tür nicht gehen könne, die ich ihm geöffnet hätte, weil Recht Recht bleiben müsse und weil man für einen Irrtum zu bezahlen habe.«
»Aber das ist schön?« fragte der Vorsitzende wieder nach einer Weile.
»Ja, das ist sicherlich schön«, erwiderte der Freiherr.
Der Ankläger bat den Vorsitzenden, ein paar Fragen stellen zu dürfen. Er legte seine Bleistifte nebeneinander, wie nach der Schnur ausgerichtet, sah den Freiherrn mit einem schrägen Blick an und fragte dann, die Augen wieder in den Saal gerichtet, ob es dem Zeugen klar sei, daß er mit dieser sogenannten offenen Tür den Angeklagten dem Gericht habe entziehen wollen.
Nein, das sei ihm durchaus nicht klar, erwiderte Amadeus und blickte den Ankläger an. Es sei festgestellt, daß unter der Handlung des Försters niemand gelitten habe als er, der Freiherr selbst und allein.
Das Recht habe gelitten, erwiderte der Ankläger scharf.
Und ob er ihm sagen möchte, fuhr Amadeus fort, was das Recht sei. Zunächst im allgemeinen, und dann in diesem besonderen Falle.
Es verwundere ihn, erwiderte der Ankläger, daß jemand, der vier Jahre in einem Lager gewesen sei, eine solche Frage stelle.
»Vor vier Jahren«, sagte Amadeus, »war es das Recht des Staates, mich zu verhaften. Heute ist es das Recht des Staates, den Förster Buschan zu verhaften. Schon das ist beunruhigend. Das Recht aber sollte beruhigen, nicht beunruhigen.«
Ob der Zeuge damit sagen wolle, daß er beunruhigt sein würde, wenn der Angeklagte nun nach Recht verurteilt würde.
»Ja, sehr beunruhigt«, erwiderte Amadeus. »Als der Förster bei mir war und seinen Irrtum bekannt hatte, war ich beruhigt, ganz und gar beruhigt. Und alles, was darüber hinausgeht, wird mich sehr beunruhigen.«
Ob der Zeuge nicht besser daran tun würde, fragte der Ankläger, von seiner eigenen Person etwas abzusehen.
»Gern«, erwiderte Amadeus, »wenn der Herr Ankläger von seiner eigenen Person etwas absehen möchte. Ich habe viele gesehen wie Sie«, fuhr er nach einer Weile fort. »Vier Jahre sind ja eine lange Zeit. Unter ihnen waren viele, die nur geschlagen wurden, und manche, die geschlagen wurden und geschlagen haben, um nicht selbst geschlagen zu werden. Und ich möchte nicht, daß auch jetzt noch geschlagen wird. Das Recht schlägt nicht. Die Richter schlagen.«
Die Beisitzer sahen den Freiherrn mit verstörten Augen an, als spräche er eine Sprache, die seit Jahrtausenden ausgestorben sei. Der Vorsitzende blickte still auf seinen Bleistift nieder, der nun für eine Weile im Gleichgewicht zu ruhen schien.
Ob der Zeuge meine, daß er, der Ankläger, geschlagen habe, fragte der Ankläger zornig.
»Das meine ich natürlich nicht«, erwiderte Amadeus ruhig. »Weil ich davon nichts weiß. Davon könnten nur andere Zeugen wissen oder nicht wissen. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist allein, ob der Förster Buschan geglaubt hat oder nicht. Ob er seinen Glauben aufgegeben hat oder nicht. Wer heute seines Glaubens wegen gerichtet wird, erleidet das gleiche wie wir, die wir unseres Glaubens wegen gerichtet wurden. Und es soll nicht das gleiche geschehen, sondern etwas anderes. Etwas Besseres. Weil sonst nämlich umsonst gelitten worden ist.«
»Sie selbst, Herr Baron«, fragte der Vorsitzende und legte den Bleistift auf das grüne Tuch des Tisches, »tragen dem Angeklagten nichts nach?«
»Nicht das geringste«, erwiderte Amadeus. »Ich danke ihm nur.«
»Wofür danken Sie ihm, Herr Baron?«
»Dafür, daß er mir gezeigt hat, wo gerichtet wird und allein gerichtet werden darf.«
»Und wo ist das, Herr Baron?« fragte die leise Stimme.
»Hier«, erwiderte Amadeus und deutete mit seiner linken Hand auf sein Herz.
Der Vorsitzende sah ihn eine lange Weile an, und in dem kleinen Saal war nichts zu vernehmen als die leisen Atemzüge aller derer, die ihre Augen auf den Richtertisch gerichtet hielten.
»Adsum. Hier bin ich, Herr!« sagte eine leise Stimme im Hintergrund des Saales. Es war die Stimme Wittkopps.
Der Vorsitzende wendete seine Augen von dem Gesicht des Freiherrn dorthin, von wo die Stimme gekommen war, aber er sagte nichts.
»Wenn keine Frage mehr gestellt wird«, sagte er endlich und sah den Ankläger an, »dürfte dies wohl genügen.«
Der Ankläger zuckte nur die Achseln.
Als der Vorsitzende mit den Beisitzern nach einer halben Stunde wieder den Saal betrat, verkündete er das Urteil, daß der Angeklagte zufolge seiner Reue als ein »Mitläufer« erklärt werde, daß er die Kosten des Verfahrens zu tragen habe und daß er für die Dauer von zwei Jahren kein öffentliches Amt bekleiden dürfe. Daß aber seine Stellung bei dem Freiherrn von Liljecrona nicht als ein öffentliches Amt anzusehen sei.
Danach blickte der Vorsitzende für eine Weile auf das grüne Tuch des Tisches nieder, sah dann den Freiherrn Amadeus an und sagte mit leiser Stimme, daß das Gericht nicht unterlassen möchte, für diese Verhandlung oder für das, was in ihr vorgegangen sei, zu danken, so wie der letzte Zeuge dem Angeklagten gedankt habe. Es sei dies zwar nicht üblich, aber auch die Verhandlung sei nicht üblich gewesen. Und ihm wie seinen beiden Beisitzern sei zumute, als habe der letzte Zeuge auch vor ihnen eine Tür geöffnet, durch die sie ruhig gehen könnten, wenn auch der Angeklagte, zu seiner Ehre, nicht durch sie gegangen sei.
Sie fuhren alle in Kelleys Wagen bis zum Portal des Schlosses. Dann stieg der Freiherr Amadeus mit den Förstersleuten den schmalen Weg zum Schafstall hinauf. Während der Fahrt und während dieses Ganges wurde nicht gesprochen. Buschan und seine Frau gingen voraus. Sie hielten einander bei der Hand und blickten mit stillen Gesichtern auf die schon tief verschneiten Büsche zu beiden Seiten des Pfades.
Dann kam die »junge Frau«, die wie ein Kind leise vor sich hin sang und bei der auch das Lächeln um ihren Mund wie das eines Kindes war, das zu einer Weihnachtsbescherung durch den Winterwald geht, weit und lange, als ob es zu den »sieben Zwergen hinter den sieben Bergen« zu gehen habe. Wenn sie stehenblieb und sich umkehrte, um den Freiherrn und das Tal zu ihren Füßen anzusehen, konnte Amadeus aus ihrem Gesicht nicht ablesen, ob sie zu ihm und zu dem Tal lächle oder ob zu den Bildern und Stimmen des Saales, den sie verlassen hatten. Es war ein Gesicht, in dem es keine Zeit mehr gab außer vielleicht derjenigen, die zwischen diesem Augenblick und der Geburt des Kindes lag.
Die dünnen Nebel blieben unter ihnen, und auf dem Dach des Schafstalles und der Weite des Moores lag die Sonne so, daß sie die Augen schließen mußten.
Der Förster und seine Frau wollten etwas sagen, aber Amadeus schüttelte den Kopf und blieb stehen, und so gingen sie mit ihrer Tochter an dem Stall vorüber und in den schneeverhangenen Wald hinein, der vor der Försterei lag.
Die Tochter drehte sich noch einmal um und winkte, und dann war auch sie verschwunden.
Bevor Amadeus die Tür öffnete, blickte er noch einmal auf das Moor hinaus. Dort, abseits der Hütten stand eine Frauengestalt am Rande des Moores, unbeweglich, als lasse sie sich nur von der Sonne bescheinen. Ihr Schatten lag schwarz und scharf hinter ihr auf dem unberührten Schnee. Sie stand so still wie einer der Wacholderbüsche um sie herum. Es war die junge Frau des Donelaitis. Amadeus konnte es am hellen Haar erkennen, das in der Sonne leuchtete.
Er seufzte ein bißchen, aber dann ging er hinein, um das Feuer im Herd anzuzünden.
Es war nun das zweite Weihnachtsfest, das sie hier feierten, und im äußeren Bild gab es keine großen Veränderungen, außer daß sie im Raum noch etwas mehr beschränkt waren. Ägidius hatte seine Frau mitgebracht, und der Pfarrer und Buschan waren da, die vor einem Jahr noch nicht dagewesen waren.
Aber wenn sie zurückdachten, erkannten sie doch, wieviel geschehen war und wieviel sich verändert hatte. Und den meisten schien es auch, als wäre der Boden unter ihren Füßen fester geworden. Den meisten, nicht allen.
Jakob war dagewesen und hatte seine Päckchen gebracht und die ganze Zeit über den schimmernden Baum angesehen. Christoph war mit der Glocke ans Fenster gekommen. Seine Hände zitterten, aber sein Gesicht war still und heiter wie immer, und von Zeit zu Zeit blickte er die »junge Frau« an und nickte ihr zu.
Amadeus kam es vor, als glänzten die Augen der jungen Frauen, die ein Kind erwarteten, auf eine besondere Weise und als spiegelten sie das Licht der Kerzen wärmer und tiefer als alle anderen Augen. Aber während die Frau des Bruders still vor dem Herde saß, die Hände im Schoß gefaltet, so ruhig, als sei sie eingeschlossen in das Wunder der Geburt, das sie feierten, kniete die »junge Frau« vor den tief herabhängenden Zweigen des Baumes und schob das Körbchen, an dem sie im Herbst geflochten hatte, in die rötlich beglänzten Schatten. Es war nun mit Moos ausgelegt und mit kleinen silbernen Sternen geschmückt, und auf das Moos und die Sterne hatte sie kleine Kissen gebreitet, aus farbigen Stoffresten, die sie nun ordnete und hin und her schob, als könnte der Engel jeden Augenblick das Kind vor das Fenster bringen, wie er vorher die Glocke aus dem dunklen Winterhimmel gebracht hatte.
Und während der ganzen Zeit lag das stille, glückselige und etwas leere Lächeln um ihre Lippen und in ihren Augen, und alle sahen ihr schweigend zu, besonders die Kinder, ein bißchen mit Angst und ein bißchen mit Rührung und Erbarmen, bis sie aufstand, noch einmal auf die kleine Krippe niederblickte und sich dann neben dem Freiherrn Amadeus auf den Boden niederkauerte, die Wange an seine Knie gelegt.
Und das zweite Unerwartete war, daß Amadeus aufstand, als die Brüder ihre Geigen stimmten, und sich mit dem Cello zu ihnen setzte und still in die Kerzen blickte, während er seinen Bogen leise über die Saiten führte. So als ob er es jeden Abend getan hätte, seitdem sie einander wiedergefunden hatten. Und er lächelte nur, als sie wieder aufstanden und die Brüder ihn anblickten. Als sei es nichts Besonderes gewesen, so wie alles an diesem Abend und in dieser Kammer nichts Besonderes sei. Weder daß der Förster da war und seine Tochter, noch daß Ägidius eine Frau hatte. Noch daß sie einen Pfarrer hatten, der keine Weihnachtspredigt hatte halten wollen, noch daß sie einen der Sieger unter sich hatten, der auf dem Lehmboden saß, den Rücken an den Herd gelehnt, lächelnd wie ein Kind, und »Ihr Kinderlein, kommet …« vor sich hin sang.
Nichts Besonderes, weil nur die Zeit leise durch den Wald gegangen war, ein Jahr lang, die besondere Zeit, die »Urzeit« vielleicht, und sie angerührt und gewandelt hatte, ob sie nun einen Spaten in der Hand gehalten hatten oder eine Pistole oder nur ein paar der gelben, leuchtenden Blumen, die an den Grabenrändern des Moores wuchsen.
Und auch dieses war nichts Besonderes, daß nicht der Pfarrer das Evangelium vorlas, sondern der Freiherr Erasmus, als der Vater aller Bedrängten gleichsam, nur daß er es diesmal nicht von einem Blatt ablas, sondern von einer alten Bibel, die der Pfarrer ihm gebracht hatte.
Und daß sie bei den feierlichen und so einfachen Worten von den Windeln und der Krippe auf das Körbchen sahen, das unter den Zweigen stand.
Und schließlich auch nichts Besonderes, daß zwei unter ihnen waren, für die diese Worte besonders geschrieben waren, als für alle Mütter dieser dunklen Erde, weil die Zeit nicht nur den Tod an der Hand geführt hatte, sondern auch die Liebe und weil sie überall wie Geschwister sind, wenn sie eingewoben werden in das menschliche Kleid.
Der Frost spaltete die Bäume im Walde wie vor einem Jahr. Sie hoben den Kopf und lauschten, aber sie dachten nicht daran, was der Mensch das Schicksal nennt und was nun vielleicht schon wie eine dunkle Gestalt am Rande des Waldes stand, um auf das Haus und die schimmernde Fläche des Moores zu blicken. Und auch dieses war ja nur ein Menschenwerk, sich das alles unter einer dunklen, abgelösten Gestalt vorzustellen, was doch in ihren Herzen lebte und sich mit anderen Herzen verschlang, zu einem hellen oder dunklen, aber sicherlich zu einem unlöslichen Gewebe.
Denn wenn ihre Gedanken auch zurückgingen oder in die Zukunft und das gänzlich Unbekannte, so war ihr Dasein doch am tiefsten erfüllt von dem, was eben war. Vom Dach über dem Stern an der Spitze des Baumes, von dem Schein der Kerzen und den Flammen im Herde, von den Worten des Evangeliums und den Tönen, die aus den drei Instrumenten aufgestiegen waren. Daß das Eis sie noch trug, über das sie gingen. Und daß ein Morgen so sicher da war, wie das Gestern und das Heute gewesen waren.
Es war kein Zweifel, daß sie fröhlicher waren als vor einem Jahr, obwohl mehr Leid in dem Raum versammelt war als damals. Vielleicht auch, weil mehr Leid da war, und sie hatten es nicht ausgeschlossen aus diesem Raum, um »unter sich« zu sein, sondern hineingenommen, damit es weniger werde unter ihren fröhlichen Augen. Und selbst das nahmen sie nun hin, daß die »junge Frau« neben dem Freiherrn auf der Erde saß und ihre Wange an seine Knie legte und daß niemand etwas dazu sagte, weder der Pfarrer noch die Frau des älteren Bruders, noch der Freiherr Amadeus selbst. Es mochte sein, daß sie etwas wußten, aber auch ohnedem würden sie nicht gefragt haben. Seitdem sie den Freiherrn Amadeus auf der Bahre vom Moor getragen hatten, war wohl niemand unter ihnen, der sich das Recht genommen hätte, ihn etwas zu fragen, wenn er nicht von selbst sprach.
Aber das erkannten sie doch, daß dieses Gewebe noch nicht zu Ende gesponnen war, und das erfüllte sie ein bißchen mit Angst. Sie fühlten wohl, daß vor den lächelnden Augen der »jungen Frau« Gestalten standen, die sie selbst nicht sahen. Daß sie noch eine Schlafende war und niemand wußte, wie sie beim Erwachen sein würde. Der Ring des Jahres war nicht geschlossen durch diesen Abend, er griff hinüber in das nächste Jahr, und durch alle Fröhlichkeit lief doch das leise, unterirdische Beben, so wie es zu Hause gewesen war, bevor das Eis der großen Seen aufbrach.
Aber dies war nun wohl doch eine von keiner Angst verdunkelte Freude für sie, daß der Freiherr Amadeus anders anzusehen war als vor einem Jahr. Vor keinem der Brüder hatten sie soviel Scheu gehabt wie vor ihm, weil er allein dort gewesen war, wo die »Pforten der Hölle« aufgetan waren. Sie wußten auch jetzt nicht viel von dem, was dort geschehen war, aber sie wußten, daß Millionen es nicht überlebt hatten, und schon der Begriff einer Million war für sie etwas, das sie nicht begreifen konnten und das wie der Alp war, der manchmal nachts auf ihrem Herzen lag, ehe er die Mähnen der Pferde zusammenflocht.
Und von dort also war er zurückgekommen, mit schmalen Lippen und mit den Augen, die noch vor einem Jahr durch sie hindurchgeblickt hatten wie durch Glas. Aber dann hatte er die Erde um ihre Hütten umgegraben und Blumen gesät. Er hatte der »Goldenen« einen Verband um den Hals gemacht und mit ihnen den Torfschlitten gezogen. Er hatte im Heidekraut gelegen, und die Blüten waren von seinem Blut gerötet worden. Und er hatte den Förster nicht die Stufen des Gerichtes hinuntergestoßen, sondern ihn aufgehoben wie einen Verlorenen Sohn.
Und nun hatte er an diesem Abend den Bogen über sein Instrument geführt, während er vor einem Jahr nur den Kopf geschüttelt hatte. Und nun saß er vor seinem Feuer, das Haar des Mädchens an seinen Knien, und seine Augen gingen nicht mehr hindurch wie durch einen Spiegel, wenn er sie anblickte, sondern in sie hinein, mitten in ihre Herzen hinein, als ob sie sagen wollten: »Seid nun fröhlich, solange es uns noch gegeben ist, fröhlich zu sein.«
Die anderen hatten wieder, was sie vor einem Jahr noch nicht gehabt hatten, ein Schloß oder eine Herrschaft mit einer Frau, die ein Kind erwartete, aber dieser hatte gar nichts als den kleinen Raum unter dem Schilfdach, sein Brot, das er brach, seinen Herd, der ihn wärmte. Er hatte weniger als sie, aber er war es zufrieden. Er wollte bei ihnen bleiben und nicht mehr fortgehen. Er war der Herr, wie er es immer gewesen war, aber wenn einer von ihnen die Hand ausstrecken müßte nach einer Hilfe oder einem Trost, so würde er sie nach ihm ausstrecken als nach einem Licht in der Dunkelheit.
Die Kerzen brannten langsam herunter, und die kleinen silbernen Sterne in dem geflochtenen Körbchen schimmerten nun deutlicher aus dem dunklen Grün und den Schatten heraus. Und da faßte eine der Frauen sich ein Herz und sagte: »Wenn die Herren es erlauben, erzähle noch ein bißchen, Christoph.«
Christoph nahm die Pfeife aus dem Munde, sah die Brüder an und dann die »junge Frau« und sagte:
»Mein Großvater hat so erzählt. Als im Schloß der Herr lebte, den sie den ›Heiligen‹ nannten, und als der Großvater seines Vaters die Pferde fuhr, lebte auf dem Hof die Tochter einer Scharwerkerswitwe, die war lieblich anzusehen, auch wenn sie hoffärtigen Sinnes war und einen Prinzen zu ehelichen dachte. Die Leute verspotteten sie ein bißchen, auf ihre gutmütige Art, und als es einmal im Herbst zu merken war, daß sie gesegneten Leibes war, drangen sie in sie, den Namen des Vaters zu nennen, damit sie noch getraut werden könnten, ehe die Schande allen offenbar würde.
Aber das Mädchen weigerte sich. Sie war nun nicht mehr hoffärtig, und abends stand sie oft am Moor und sah über die traurige Fläche hinaus, als würde er nun von dort her kommen, mit der goldenen Krone in der Hand, und sie aufheben aus der Schande und dem Herzeleid.
Aber er kam nicht.
Sie hatte keine gute Zeit zu Hause, denn ihre Mutter war strengen und harten Sinnes, und wenn sie von dem Kinde sprach, nannte sie es nicht anders als ›das Verfluchte‹.
Als nun das Kind geboren wurde, vor der Weihnachtszeit, war es ein Kind wie andere Kinder auch, und es war von seinem kleinen, stillen Gesicht nicht abzulesen, ob der Vater ein Prinz oder ein Scharwerker war.
Die alte Frau aber, wenn sie es betrachtete, wurde nicht müde, jeden Tag etwas Neues an ihm zu finden und sich davor zu bekreuzigen. Und jeden Tag fragte sie die Tochter, ob sie es denn nicht sehe. Daß es blind sei auf dem linken Auge oder daß es eine gespaltene Lippe habe oder daß es ein Mal auf der Stirn trage. Und obwohl die Tochter nichts dergleichen sah und erblickte, blieb ihr doch jedesmal das Herz stehen vor Angst und Grauen, und oft stand sie auf in der Nacht, hielt die kleine Öllampe über das schlafende Gesicht und beugte sich nieder, um die Wahrheit zu erkennen.
Am Weihnachtsabend aber, noch vor der Dämmerung, hüllte sie das Kind in ein dunkles Tuch, schlich sich vom Hof und eilte zu den tiefen Kiesgruben, die inmitten des großen Waldes lagen. Es schneite leise, und die Fichtenäste hingen schwer über ihren schmalen Pfad. Die junge Mutter weinte leise vor sich hin, aber sie blieb erst stehen, als vor ihren Füßen der Abhang sich auftat, dessen Grund schon im Schatten lag. Sie ließ sich auf ihre Knie nieder, schob das Tuch zur Seite und blickte in das Gesicht des Kindes nieder, das in tiefem Schlafe lag. Sie glaubte es nun alles zu sehen, was die alte Frau gesehen hatte: die entstellte Lippe und das Mal, und wenn das Kind die Augen aufschlagen würde, dann würde sie auch seine Blindheit sehen.
Da sagte sie leise: »Erbarme dich unser!« und beugte sich über den Rand des Abgrundes.
Aber wie sie sich vorbeugte, stand zwischen ihr und dem Abgrund ein Kind. Der Raum war so schmal, daß er nur für eines Vogels Tritt Platz gehabt hätte, aber das Kind stand so sicher da wie in einem Garten. Es war nicht mehr als drei oder vier Jahre alt. Es war in einen alten Rock gekleidet, der viel zu groß war und ihm bis auf die nackten Füße reichte, aber es lächelte auf eine holdselige Weise und hob seine rechte Hand. ›Wolltest du das tun?‹ fragte es, ›und weißt doch nicht, wie tief es ist?‹
Da weinte die Mutter und erzählte ihm von ihrem Kummer.
›Ein Mal?‹ fragte das Kind verwundert und legte seine Hand auf die Stirn des Kindes. Und die Mutter hat später erzählt, daß die kleine Hand leuchtete, als sei ein Strahl der längst untergegangenen Sonne durch die Wolken gedrungen.
Und als es die Hand fortzog, war dort kein Mal zu erblicken, sooft die Mutter auch hinsah, sondern nur etwas wie der silberne Abglanz einer Blume, die man die Christrose nennt, und auch dieser Abglanz verblaßte langsam auf der reinen Haut.
Und als die Mutter aufblickte und sich bedanken wollte, da war das Kind verschwunden, so als wäre es über den Abgrund davongeflogen, und sie hat erzählt, daß das letzte, was von ihm zu sehen gewesen war, das Lächeln gewesen sei. Das Kind war nicht mehr zu sehen gewesen, aber das Lächeln war noch da, als ob die Schneewolken lächelten, die tief herunterhingen.
Da stand die Mutter auf, wickelte ihr Kind wieder in das Tuch und ging durch den Wald zurück.
Aber als sie aus dem Schatten der letzten Bäume hinaustrat, blieb ihr das Herz stehen, denn sie dachte daran, daß ihr Kind ja noch andere Gebrechen hatte als das Mal auf der Stirn. Sie schlug das Tuch schnell auseinander und blickte in das kleine Antlitz nieder. Zwar schimmerte die Stirn so ohne Makel wie an der Kiesgrube, aber die gespaltene Lippe war vor ihren verweinten Augen zu sehen, so als ob ihre Mutter neben ihr stände und sie ihr zeigte mit ihrer alten, verkrümmten Hand.
Da sah die Frau sich um in der verhängten Welt, in der es nur schneite, nur schneite, und dann lief sie auf das Moor hinaus, bis eine der Gruben sich vor ihr auftat, in der das Wasser dunkel und ohne Bewegung stand.
Aber als sie niederkniete am Rande der Grube und sich vorbeugte und ›Erbarme dich unser!‹ flüsterte, stand das Kind wieder zwischen ihr und der Tiefe, auf dem schmalen Raum, der nicht mehr Platz hatte als für eines Vogels Tritt, und lächelte auf eine holdselige Weise und hob seine rechte Hand. ›Wolltest du das tun?‹ fragte es, ›und weißt doch nicht, wie tief es ist?‹
Da weinte die Mutter und erzählte dem Kind von ihrem Kummer.
›Eine gespaltene Lippe?‹ fragte das Kind verwundert und legte seine Hand auf den im Schlafe leise geöffneten Mund des Kindes.
Und als es die Hand fortzog, war dort keine gespaltene Lippe zu erblicken, sooft die Mutter auch hinsah, aber statt dessen begann das schlafende Kind zu lächeln, auf eine so holdselige Weise, daß seine Lippen wie zwei Blütenblätter aussahen, die sich in der Sonne auseinandertaten, um den goldenen Kelch zu enthüllen.
›Siehst du nun seine Lippen?‹ fragte das Kind und richtete sich auf. ›Aber wenn du noch etwas Verborgenes an ihm weißt, so sage es mir jetzt, weil noch viele Mütter auf mich warten in dieser Nacht.‹
Da erzählte die Mutter ihm von dem linke Auge, auf dem es blind sei.
Das Kind aber lächelte nur, glitt einmal mit seiner Hand über die Augen des schlafenden Kindes, und die Augen taten sich auf. Und so wie um seine Lippen ein liebliches Lächeln war, so strahlten nun auch seine blauen Augen, und die Mutter, die sich vorbeugte, sah, daß es beide Augen waren, die den Bewegungen der Hand folgten, mit der das fremde Kind Kreise und Zeichen in die dunkelnde Luft schrieb.
›Und wenn jemand nun noch ein Mal an ihm erfinden will‹, sagte das Kind, ›so sage nur, daß du es zu mir tragen wirst, weil bei mir alle Mäler der Menschen zu einem Mal der Liebe werden. Willst du das behalten?‹ Da verneigte sich die Mutter tief vor dem Kinde, und als sie wieder aufblickte, war es verschwunden und nur das Moor leuchtete noch einmal auf wie in einer verspäteten Abendsonne.
Da ging die Frau heim, und als sie auf den Hof kam, konnte sie schon hinter den hohen Fenstern des Schlosses die Kerzen sehen, und sie ging schnell die Stufen hinauf, um nicht zu spät zu kommen. Und als sie die große Tür des Saales öffnete, standen alle Leute des Gutes schweigend an der Wand, und ihre Mutter stand in der vordersten Reihe. Und sie sah, daß alle mit Verwunderung auf sie blickten, ja mit Erschrecken, und der Herr, den sie den ›Heiligen‹ nannten, trat auf sie zu und verneigte sich und sagte: ›Ich danke dir, daß du noch gekommen bist und daß du dich so schön gemacht hast zu diesem Abend.‹
Da blickte sie verwundert an sich herab, und da sah sie, daß das ganze Tuch, in das sie das Kind gewickelt hatte, voller Christrosen war, also daß das lächelnde Gesicht des Kindes wie in einem blühenden Garten lag, und niemand konnte die Augen von dem Kinde wenden. Auch die alte Frau nicht, die es das ›verfluchte‹ genannt hatte …
Ja«, sagte Christoph und hob die kurze Pfeife wieder vom Herdrand auf, »das war in den Zeiten, als das Jesuskind noch unterwegs war am Heiligen Abend, um sich zu erbarmen …«
Die »junge Frau« hatte ihre Augen nicht von Christophs Lippen gewendet, die ganze Zeit nicht, aber ihr Gesicht war unverändert still und fröhlich gewesen. Nur der Freiherr Amadeus merkte, daß ein ganz leiser Schauer über ihre Schultern lief, wie der Wind über einen jungen Wald läuft, und deshalb legte er leise seine rechte Hand auf ihr Haar und ließ sie dort.
Die Brüder sprachen nicht mehr viel, als die andern gegangen und sie mit Christoph allein geblieben waren. Sie sprachen vor allen Dingen nicht von der Försterstochter. Und erst beim Abschied sagte Ägidius' Frau zu Christoph: »Und wird es dann auch an einem anderen Abend so sein, auch wenn es nicht der Weihnachtsabend ist?«
Christoph nahm die Pfeife aus dem Munde und lächelte, wie man zu der Frage eines Kindes lächelt. »Für eine Mutter ist es immer Weihnachtsabend, Frau Baronin«, erwiderte er, »für jede Mutter …«
Die Gutsleute mit ihren Kindern waren schon um die Mittagszeit aufgebrochen, weil sie zum Gottesdienst in die Kreisstadt wollten. Nur die junge Frau Donelaitis wollte nicht gehen. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und ihnen dann von der Schwelle aus nachgesehen.
Es war noch vor der Dämmerung, als die junge Frau Erdmuthe an die Tür des Schafstalles klopfte. Sie hatte ein Tuch über ihr helles Haar gebunden und trug ein kleines Bündel in der Hand, wie die Frauen ihrer Heimat, wenn sie über Land zu gehen hatten.
Der Freiherr Amadeus sah sie eine Weile an und ließ sie dann beim Feuer niedersitzen. »Willst du ihnen entgegengehen?« fragte er.
Aber sie schüttelte den Kopf. Sie machte den Knoten ihres Tuches auf, daß es von ihrem Haar in den Nacken glitt, und blickte still in die Flammen. Die Hände hielt sie im Schoß gefaltet, als trüge sie ein Gesangbuch zwischen ihnen. Ihr Gesicht war nicht unglücklich oder verstört. Es war wie sonst, nur daß es aussah, als sei es schon weit fort.
»Ich bin gekommen, Herr«, sagte sie leise, »damit die andern nicht denken, daß ich ins Moor gegangen bin.«
»Und wohin gehst du?« fragte Amadeus.
»Fort«, sagte sie, »nach Hause.«
Amadeus erschrak. Er wußte, daß er sie nicht würde aufhalten können, auch wenn er nicht wußte, weshalb sie ging.
»Du warst nie zu Hause hier?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Auch nicht bei deinem Mann?«
Sie wiederholte die Bewegung.
»Ist etwas geschehen?« fragte er leise.
»Nein, Herr«, sagte sie, »es ist nichts geschehen. Er wird denken, daß mit den Amerikanern etwas geschehen ist, aber es ist nicht wahr. Sagen Sie ihm, daß es nicht wahr ist. Im Sommer habe ich manchmal gedacht, daß etwas geschehen sollte mit ihnen, nur damit etwas geschieht. Aber es war nicht das Richtige. Für mich war es nicht das Richtige. Sie waren von einem andern Erdteil, auch darin. Es würde mir nicht geholfen haben.«
»Und worin sollte es helfen, Erdmuthe?«
Sie sah ihn zum ersten Male an, und zum ersten Male sah Amadeus, daß sie in dieser Stunde der Entscheidung die Augen eines Kindes hatte. Eines ganz für sich lebenden, ganz einsamen und ganz in sich versunkenen Kindes.
»Sie waren ein guter Herr«, sagte sie. »Immer. Sie waren sogar zu dem Mädchen gut, das Sie umbringen wollte. Keiner war hier, zu dem man sprechen konnte, nur Sie. Und deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen.«
»Bist du nicht zu spät gekommen, Erdmuthe?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Auch er ist gut«, sagte sie, »aber zu ihm kann man nicht sprechen. Man kann das Mittagessen für ihn kochen und in der Nacht bei ihm sein, wenn er es will. Aber man kann nicht sprechen zu ihm. Man weiß nicht, was in ihm ist. Er kann ein Eisen aufstellen und Menschen fangen, und wenn ich mich vergessen hätte mit einem der Soldaten, würde er auch für mich ein Eisen aufgestellt haben. Aber ich kann meine Hände nicht an ihm wärmen, wenn meine Hände kalt sind.«
»Aber er war gut zu dir?« sagte Amadeus.
»Er war so gut, wie die Männer dort zu den Frauen sind. Und die Frauen sind es zufrieden. Aber ich bin es nicht zufrieden. Ihr wißt nichts von uns, Herr, auch die Klügsten nicht. Manchmal spannt ihr uns vor den Pflug wie in alten Zeiten. Und manchmal sind wir ein Spielzeug für euch. Ihr wißt nicht, wie wir uns verschenken. Ihr wißt nichts von unserer Demut und auch nichts von unserem Stolz. Und ihr wißt nicht, wie allein wir sind, wenn wir uns verschenkt haben und wenn ihr zu denken anfangt, daß es euer Recht ist. Eure Gewohnheit und euer Recht.«
»Und wißt ihr mehr von uns?« fragte Amadeus.
»Viel mehr, Herr, viel mehr. Noch die jüngste von uns weiß viel mehr. Auch unter den einfachen Leuten.«
»Und nun?«
»Ich habe Heimweh, Herr. Ich habe gedacht, daß er es mitnehmen wird für mich, alles, die ganze Heimat. Aber er hat nur sich mitgenommen. Das andere ist dageblieben, alles. Wenn ich ein Kind hätte, würde ich bleiben. Mit einem Kind braucht man keine Heimat. Aber ich werde keine Kinder haben. Ich weiß nicht weshalb, aber ich werde keines haben.«
»Und was wirst du dort haben?«
»Ach, Herr«, sagte sie leise und schloß die Hände fester im Schoß zusammen. »Mußt du das fragen, Herr? Weißt du nicht, was Heimat ist?«
»Ich glaube, daß ich es weiß.«
»Sieh die andern an, Herr. Sie leben wie die Schatten. Sie haben ihre Arbeit und ihr Brot, sie haben ein Dach und einen Herd. Du hast Blumen gesät für sie, und vielleicht denkst du manchmal, daß sie fröhlich sind. Aber im Schlaf sind sie nicht fröhlich, Herr. Im Schlaf weinen sie, und wenn die Frauen am Morgen auf der Schwelle stehen und auf das Moor sehen, kannst du noch die Tränen in ihren Augen sehen, wenn du im Schatten stehst und sie dich nicht bemerken. Aber sie haben ihre Kinder, und wenn die Kinder aufgewacht sind, ist es ihnen leichter.«
»Es ist dort nun alles anders, wo du hingehen willst«, sagte Amadeus. »Du darfst nicht wie in ein Märchen hineingehen. Dort gibt es keine Märchen mehr.«
»Ich will kein Märchen, Herr. Ich will noch einmal über dem Strom sitzen, an dem die Nachtigallen schlagen. Ich will noch einmal den Elch auf dem Moor sehen. Ich will noch einmal den Leuchtturm in der Nacht sehen. Ich will noch einmal die bunten Kreuze auf dem Friedhof sehen. Ich will noch einmal die Wiesen riechen, Herr, wenn sie gemäht werden. Ich will noch einmal auf einer Schwelle sitzen, Herr, und unter dem Abendrot singen. Dort bin ich aufgewachsen, Herr, dort habe ich gespielt, dort habe ich zu Ostern die Stuben mit Kalmus ausgestreut.«
»Du wirst sie nicht mehr ausstreuen«, sagte Amadeus finster. »Sie werden dich in einen Kerker tun oder erschlagen. Unterwegs schon werden sie dich erschlagen.«
»Nicht unterwegs, Herr, nicht unterwegs. Ich werde bezahlen, das weiß ich. Dafür daß sie mich durchlassen. Aber dann werde ich da sein. Und wenn ich nur für einen Tag da bin, Herr, ja, wenn ich nur für eine Stunde da bin. Nur so lange, daß ich in den weißen Sand greifen kann und den Sand ausrinnen lassen kann aus meiner Hand. Nur so lange, Herr.«
Das Feuer knisterte im Herde, und die blauen Flammen glitten an dem letzten Holzstück entlang. Ein leise singender Ton stand über der Glut. Grita hatte gesagt, daß der Feuermann singe.
Amadeus beugte sich vor, die Hände zwischen den Knien, und blickte hinein. Er wußte, daß er sie nicht halten konnte. Nicht mit den Bildern des Lebens und nicht mit denen des Todes. Er hatte ihre Hand nicht ergriffen, wie Christoph ihm geraten hatte. Es waren zuviel Hände gewesen, oder er war zu müde gewesen. Und das Land war stärker als seine Hand. Der Strom, das Moor, die Lieder. Es gab keinen Widerstand dagegen. Auch wenn man wußte, daß es nicht mehr da war, daß es verändert oder ausgelöscht war, gab es keinen Widerstand. Die Dünen würden sie nicht abgetragen haben, nicht einmal die Sieger konnten das. Eine Handvoll Sand würde immer übriggeblieben sein, den man fassen und zwischen den Fingern verrinnen lassen konnte. Und das war alles, was man brauchte, wenn man Heimweh hatte, das wahre und große Heimweh, das verzehrende, das nicht auszulöschende, das nicht einmal mit einem Mann zu stillende Heimweh. Nur ein Kind konnte es stillen, und sie würde kein Kind haben. Weder ein helles noch ein dunkles.
Die junge Frau band das Tuch wieder um ihr Haar und nahm das Bündel in die Hand, das sie auf den Boden gestellt hatte. »Gräme dich nicht, Herr«, sagte sie leise und stand auf. »Mit dir ist es anders. Du warst dort, wo keiner von uns war, und du hast für viele zu sorgen. Auf dich sehen sie, wie die Fischer auf den Leuchtturm sehen dort oben. Auch das Mädchen und das Kind werden so auf dich sehen. Bete für mich, Herr, daß ich eine Handvoll Sand bekomme. Nicht mehr, nur eine Handvoll Sand.«
Er glitt mit der Hand über ihr Haar und brachte sie zur Schwelle. »Wenn ich dich bände«, sagte er, »mit Gewalt, dann müßtest du bleiben, aber es würde nur für eine Stunde sein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das tust du nicht, Herr«, sagte sie. »Wer einmal gebunden worden ist, bindet keinen andern. Das habe ich gewußt, als ich zu dir kam.«
Der Schnee fiel dicht, als sie an der Schwelle standen. Es dämmerte schon. Der schweigende Horizont stand dicht um das Haus. Hinter ihm gab es keine Erde mehr.
In diese Dämmerung ging sie hinein, das Bündel in der Hand, für immer und ohne Wiederkehr.
Amadeus stand und sah ihr nach. So lange bis ihre Spuren vor der Schwelle mit Schnee gefüllt waren. Es war, als sei sie niemals dagewesen, nachdem ihre Spuren erloschen waren.
Auch auf sein bloßes Haar fiel der Schnee, ohne daß er es merkte. Bis es ganz weiß geworden war.