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Die Zeit geht«, sagen die Menschen. Und manche sagen, daß sie laufe oder eile. Aber für Amadeus geht sie nicht, sie ist nur da, und er ist in der Zeit. Manchmal ist es ihm, als ständen sie beide still, und manchmal, als fielen sie durch den Raum bis in die Tiefe, wo kein Raum und keine Zeit mehr ist. Sie sind nicht zweierlei, er und die Zeit. Sie sind eingeschlossen ineinander, und keines ist ohne das andere.
Es ist anders als hinter dem Stacheldraht. Dort war die Zeit, wie die Henker waren oder die Bluthunde. Nicht nur die Zeit, die von der Uhr am Wachtturm angezeigt wurde, die Zeit der Arbeit oder des Schlafes, die lebendige Zeit. Sondern hinter ihr die große, allgemeine und gleichsam tödliche Zeit. Etwas, was sie nicht in der Hand hielten, sondern was ihnen zugemessen wurde. Weil den Leuten in der Uniform alles gehörte, die Arbeit, das Essen, der Schlaf, der Tod. Und auch die Zeit. Wer sechs Jahre dort gewesen war, galt ihnen soviel wie derjenige, der am Vortage angekommen war. Die Opfer waren zeitlose und namenlose Schatten. Nur die anderen hatten Namen und Zeit.
Nun aber ist es anders. Wenn der Kuckuck am Morgen ruft, ist es nicht, als ob er heute rufe, weil es gestern so war und morgen so sein wird und in tausend Jahren ebenso. Und so ist es mit den Sternen oder mit dem Nebel am Abend oder mit dem warmen Regen, der mitunter wie eine graue Wand über das Moor geht. Der Mensch Amadeus empfängt dieses alles wie ein Stein, der im Moose liegt. Er braucht sich nicht zu rühren und ist auch nicht imstande dazu. Er hält nur still, wenn das andere über ihn hinweggeht, der Vogelruf, der Nebel, der Regen und die Sterne. Er ist nur eine Kreatur wie die anderen Kreaturen auch. Seine Gedanken sind unwichtig und auch, ob er fröhlich oder traurig ist.
Er weiß oft nicht, welches von beiden er ist. Er weiß nur, daß er da ist. Und, was noch schwerer wiegt: daß die anderen nicht da sind. Wenn er in der rötlichen Frühe erwacht und das Licht fällt in seinen kleinen Raum, richtet er sich von seinem Lager auf, schnell, mit einer jähen, wilden atemlosen Bewegung, und lauscht, ob jemand da ist. Wie ein Tier, das nach dem Jagdlaut der Hunde lauscht. Sein Herz schlägt so, daß es die ganze Kammer erfüllt, seine Hand liegt um den Griff der Pistole geschlossen, und langsam, ganz langsam zerfallen die dunklen Traumbilder, die über seinem Schlaf gelegen haben. Ein dunkler geschlossener Wagen, dessen Tür sich lautlos öffnet, um ihn aufzunehmen, und er weiß, daß hinter den dunklen Wänden das Grauen sein wird, das letzte, furchtbare Grauen, das nur der Mensch dem Menschen bereiten kann.
Oder die Frau ist da, die junge, freundliche, die ihm über das Haar gestrichen hat in der Nacht seiner Flucht. Sie steht über ihn gebeugt, so dicht, daß er die Ader an ihrem Halse leise klopfen sieht, und lächelt zu ihm nieder wie zu einem erwachenden Kind. Aber das Lächeln verwandelt sich, lautlos, langsam und furchtbar, und unter ihrem Halstuch bewegt sich etwas, das er nicht sieht und nicht kennt, ein Tier wahrscheinlich, hundertgliedrig, mit eisigen Augen, wie die letzte Tiefe der Ozeane sie vielleicht birgt.
Vieles ist da, was in der Nacht an seinem Herzen trinkt; und was es trinkt, ist immer Blut. Und ob es tausend Formen annimmt, unerschöpflich, wie nur der Traum unerschöpflich sein kann: hinter allen tausend Formen steht der Mensch. Dasjenige, was vier Jahre über ihm gestanden hat, um an seinem Herzen zu trinken, lächelnd, bewegungslos, und nur von Zeit zu Zeit hebt es die Hand, um den Becher an die eisigen Lippen zu heben. Und in dem Becher ist sein Blut. Seine Angst, sein Grauen, sein Leben, sein Raum und seine Zeit.
Dann läßt er sich zurücksinken auf sein Lager, schwer atmend und zitternd bis in seine Füße hinein, und dann kommt langsam die Zeit, die er verloren hat im Schlaf, und hüllt ihn ein. Der Kuckuck ruft, und die Maus wandert langsam in dem Schilfdach hin und her. Er ist so wach, daß er meint, den Tau auf die Gräser fallen zu hören oder den lautlosen Gang der Morgenwolke über das rötliche Moor. Er schmiegt sich wieder ein in den großen Kreis der Kreatur. Das Licht segnet ihn, der Vogelruf, die Heiligkeit der Frühe.
Er sitzt auf der Schwelle und bricht langsam sein Brot. Er könnte auch der erste Mensch dieser Landschaft sein, der erste und der letzte. Für ihn gibt es keine Zeit. Solange die anderen nicht da sind, ist auch keine Zeit. Er braucht nicht hinunterzugehen zu den Behörden und zu allen Schaltern, hinter denen man fragt. Ägidius tut dies alles für ihn. Und wenn sie Schwierigkeiten machen, ist der Oberleutnant Kelley da, und er ordnet alles mit seiner stillen Hand.
Amadeus aber kann den Tag verschwenden oder erfüllen oder leer lassen, ganz wie er es will. Der Tag schreibt ihm nichts vor, er nimmt ihn nur willig auf.
Meistens geht er in der Frühe fort und kommt am Nachmittag oder Abend zurück. Er hat Freundschaften geschlossen auf dem Moor, ganz stille Freundschaften, die keines Wortes bedürfen. Mit dem roten Milan, der über den Felsen horstet. Mit den Eidechsen an den Torfhaufen. Mit dem schwankenden Grund zwischen den Wassertümpeln, auf dem die Kraniche brüten. Und darüber hinaus mit dem Sonnentau in den Torfgräben, mit dem Aronstab und dem Frauenschuh und mit den gelblichen Waldorchideen, die wie Kerzen im Grase stehen und von denen er einen Strauß pflückt, der den Raum vor dem Herde mit seinem seltsamen, berauschenden Duft erfüllt.
Er liest nicht viel, er denkt nicht viel, er ist nur da. Aus der großen Bibliothek des heimatlichen Hauses haben die Brüder nichts gerettet als den »ganzen Propheten Jeremias «, und den schlägt er manchmal am Abend auf, vor dem kleinen Feuer, und läßt seine Augen über die großen und altertümlichen Buchstaben wandern und lauscht dem Klang der großen und beschwörenden Worte, die wie die Urklage der Menschen sind, der zum Leiden Geschaffenen, der vom Weibe Geborenen, der zur Ewigkeit Ausersehenen.
»Der Blasbalck ist verbrandt / das Bley verschwindet / das Schmeltzen ist umbsonst.«
Oder: »So spricht der HERR HERR / du mußt den Kelch deiner Schwester trincken / so tieff und weit er ist.«
Oder das Wort, mit dem der Vater sich hatte »überreden« lassen, ehe er in das Unbekannte ging.
Er liest die Worte nicht wie eine Weisheit oder gar wie eine Offenbarung. Er horcht ihnen nur nach wie den Stimmen des Moores, die »über der Tiefe« sind, am Abend, unter den ersten Sternen. Den uralten Stimmen der Erde, die vom künftigen Leide zittert, und es war gleich, ob die Melodie dieses Leides in einen Menschenmund gelegt war oder in den eines Tieres.
Und manchmal schlägt er die Notenblätter auf, die die Brüder mit den Instrumenten gerettet haben, und folgt dem Gang der schwarzen Zeichen und hört die Töne, die einmal gewesen sind, als er selbst noch war. Dieses große Rätsel des Daseins, daß ein schwarzes Zeichen einen Ton bedeutet und der Ton in seiner Verknüpfung mit andern Tönen einen Zustand des Herzens bedeutet, eine Traurigkeit oder einen Glanz der Augen oder den Tanz eines jungen Knaben, »wenn auch traurig«. Das große Rätsel, daß die Schwingung einer Saite auch die Schwingung des Herzens ist, und das Zittern der Saite ist doch nichts anderes als ein Gesetz der Zahl, mit einer Formel auszudrücken, indes die Schwingung des Herzens durch nichts auszudrücken ist als durch ein Lächeln der Lippen oder durch eine Träne an der Wimper.
Aber auch dabei, auch unter den Melodien ist er allein. Es ist alles wie am ersten Tag für ihn. Er erinnert sich des Vergangenen, aber nur wie im Traum. Aber das Moor ist neu für ihn, die Gräser, der Himmel, das Feuer, alles. Er muß die Welt noch einmal erobern, wie die Kinder sie erobern. Und er tut es mit unendlicher Vorsicht. Er ist in eine Grube gefallen, und nun geht er, als ob gleich hinter der Schwelle die erste läge. Er hat als Kind den Kummer gekannt und die Schwermut wie alle Kinder. Aber er hat nichts vom Grauen gewußt, und nun, hinter dem Grauen, ist er wie ein Gezeichneter. Was ihn am tiefsten beglückt, ist, daß er die Hände in das Moos legen und die Finger in der Sonne öffnen und schließen kann. Für ihn ist dies die Gebärde der Freiheit, der Rettung, ja der Erlösung.
Da er den Tag über fort ist, kommen die Brüder am Abend. Sie sitzen dann mit ihm auf der Schwelle oder auf dem warmen Erlenstamm. Sie haben von der Anzeige des Försters nichts gewußt, aber die Frau hat es ihnen nun erzählt. Sie hat geweint, und sie haben sie getröstet. Sie sagen nichts zu Amadeus darüber, aber in der Dämmerung suchen sie doch in seinem zugeschlossenen Gesicht, ob die Toten dort immer noch wohnen. Aber sie sind noch nicht fortgegangen. Sie haben sich dort eingerichtet, und wenn es nicht Tote wären, würde man sagen können, daß sie es auf Lebenszeit getan haben.
Aber auch Amadeus sieht die Brüder an. Wenn sie aufstehen, sieht Ägidius immer noch so aus, als gehörte das alles ihm und er würde über das Moor gehen, wie er früher über die Felder gegangen ist. Aber Erasmus steht wie ein leise gebeugter Baum am Rand einer Wüste oder auf dem Kamm einer Düne, an der man nichts als Sand sieht. Er ist der einzige, in dessen Gesicht wieder ein Hauch der Kinderzeit erscheint, das Hilflose, Ratlose und Verwirrte jener frühen Jahre.
An ihn denkt Amadeus am meisten, wenn sie wieder gegangen sind. Er ist der einzige Mensch, dem er helfen möchte, der einzige, über dem er für eine Weile sich selbst vergessen kann.
Wenn Jakob kommt, ist er schon am Morgen da. Er kehrt nur ein bißchen ein bei ihm auf dem Weg zur Försterei. Er kommt nicht, um zu tauschen, »von der rechten Hand in die linke Hand«. Er weiß schon, daß der Freiherr nicht tauschen will, ja daß er so arm ist, daß er gar nichts zu tauschen hat, weder an Dingen des Leibes noch der Seele. Und wegen dieser Armut kommt Jakob, besonders wegen der Armut der Seele.
Er selbst, Jakob, hat es alles so überstanden, daß der Handel ihn wieder freut, der Tausch, das Abenteuer. Sogar die Morgenfrühe freut ihn, und wenn er am Rande des Moores stehenbleibt und die Kiebitze klagen aus der Ferne, kann es sogar sein, daß er an seine Heimat denkt, die verlorene, an das kleine Dorf mit den Strohdächern, in dem sie seine Eltern erschlagen haben, vor mehr als dreißig Jahren, bei einem Pogrom.
Sein Volk als Ganzes hat so viel überstanden in zweitausend Jahren, daß es in das Blut der Nachgeborenen übergegangen ist. Einmal sind die Sichelwagen über sie dahingegangen, die Kreuzigungen, der Flammentod. Sie sind gewandert und haben gesungen. Nun sind die Raupenketten der Tanks über sie hingegangen, die Folterungen, die feurigen Öfen. Und sie wandern wieder und singen wieder. Sie singen und handeln, und manchmal denken sie an das Gelobte Land. Einmal saßen sie an den Ufern Babylons, als die Assyrer über ihnen waren, und nun sitzen sie in den Lagern der Sieger und warten, was die Sieger beschließen werden. Sie haben die große Furchtlosigkeit gelernt und die große Geduld. Niemand auf dieser Erde hat größere Geduld als sie.
Manche sind müde, und manche sind böse, und manche sind so von Haß erfüllt, wie ihre Peiniger es waren. Aber es sind nicht viele, und Jakob gehört nicht zu ihnen. Die Natur hat ihn ohne Haß geschaffen, und er ist so fromm geblieben, daß der Haß keinen Platz in seiner Kammer hat. Ja, er ist noch frommer geworden, als er es in der Heimat gewesen ist.
»Gott der Gerechte wandert wieder«, sagt er zu Amadeus und faltet die Hände um seine schmalen Knie. »Er wandert und sucht eine Stätte, wo er kann ausruhen. Er sieht in die Gesichter der Menschen und geht vorüber. Das Gesicht von dem Herrn Grafen ist noch keine Stätte, wo er kann ausruhen. Das Gesicht von dem Herrn Grafen ist noch besetzt von den Toten und von sich selbst. Man muß legen zur Seite, was man hat von sich selbst, damit Gott der Gerechte hat eine Stätte zum Ausruhen.«
»Und Sie selbst, Jakob?« fragt Amadeus nach einer Weile.
»Ich habe gelegt zur Seite alles, Herr Graf«, antwortet Jakob und blickt mit seinen traurigen Augen über das Moor. »Ich habe gelegt zur Seite Vater und Mutter und habe gelegt zur Seite ein junges Weib und zwei Kinder, die man hat verbrannt in den Öfen von Feuer. Ich habe gemacht Platz in meinem Gesicht, und wenn Gott der Gerechte will einkehren, so kann er einkehren oder nicht einkehren, so wie er will.«
»Und wie haben Sie das gemacht, Jakob?«
»Ich habe gemacht nichts, Herr Graf. Ich habe gedacht an das junge Weib und die beiden Kinder im Feuerofen und habe gedacht, daß sie haben gesungen. Und wie sollte ich jammern oder schreien, wenn sie haben gesungen? Meine Not war klein, Herr Graf, und auch die Not vom Herrn Grafen war klein. Solange andere Not ist auf der Welt, ist unsere Not klein, Herr Graf.«
»Ich habe sie gesehen«, sagte Amadeus nach einer Weile vor sich hin. »Ihre Not war nicht klein, Jakob.«
»Wie heißt klein, wie heißt groß, Herr Graf? Man soll nicht blicken auf sich selbst mit einem Vergrößerungsglas, Herr Graf. Man soll blicken auf sich selbst wie mit einem Glas der Soldaten, das man hält verkehrt in der Hand. Daß man sich sieht so klein wie dort hinter dem Moor. Daß man sich sieht, wie Gott der Gerechte uns sieht: so klein, so klein, Herr Graf.« Und er nahm ein trockenes Gras vom Boden, zerpflückte es mit den Fingernägeln, legte das kleinste Stück auf seine Hand und blies es wie ein Staubkorn in die Luft.
»Der Herr Graf soll nicht denken so viel an sich«, sagte Jakob und steht auf. »Und nicht, daß er tragen muß die Toten auf seinen Schultern. Da ist Gott der Gerechte, der die Toten trägt, und er hat nicht aufgefordert den Herrn Grafen oder mich, ihm zu helfen.«
Er nimmt seine Kappe auf und verneigt sich. »Der Herr Graf wird verzeihen«, sagte er höflich, »daß ich mit ihm rede wie mit meinesgleichen.«
Amadeus sieht ihm lange nach, wie er um den Schafstall herum in den Wald geht, in dem das Forsthaus liegt, ein bißchen schief, ein bißchen gebeugt, den Sack über seiner Schulter, wie sie vor tausend Jahren gegangen sind, von Dorf zu Dorf, von Land zu Land, verhöhnt, bespien und gehaßt, und wie sie doch nicht verlernt haben, »Platz zu machen« in ihrem Gesicht für den Gott, der ein strenger und eifriger Gott für sie gewesen war, ihr Leben lang.
Aber wenn die schmale, gebeugte Gestalt hinter den taufunkelnden Kiefern verschwunden ist, schließt das Gesicht des Freiherrn sich wieder zu. Es hat noch nicht Platz. Es ist noch nicht für die andern da. Weder für Gott noch für die Menschen …
»Die Zeit geht«, sagen die Menschen, aber der Freiherr Erasmus weiß nicht, ob das so richtig ist. Wenn er im warmen Moos sitzt, in der Mittagszeit, den Rücken an einen Felsen gelehnt, und durch den Rauch seiner Zigarette hinaussieht auf das flimmernde Moor, sieht er wie jemand aus, der eigentlich unter dem Felsen wohnt und der ein bißchen heraufgestiegen ist, um eine fremde Erde zu betrachten. Er hat die traurigsten Augen unter den Brüdern, obwohl er viele Jahre vor den Lanzenreitern einhergeritten ist, zuerst vor einer Schwadron und dann vor einem Regiment und zuletzt vor einer Brigade. Und obwohl er seine Leute und seine Pferde geliebt hat, mit der etwas kühlen, aber zuverlässigen und unerschütterlichen Liebe eines Edelmannes.
Aber es hatte nicht in seinem Blut gelegen, das Reiterleben. Sein Blut war voller Träume gewesen von Kindheit an, voller stillen Träume, in denen er mit vollen Händen Gutes tun konnte wie die alten, etwas müden Zauberer im Märchen, die ihren Überfluß in bedürftige Hände legen. Und er war immer etwas unsicher gewesen, ein bißchen von Angst bedrückt, wenn er fern von seinen Brüdern war. Er war wie ein Stein, den man aus einem Ring gebrochen hatte. Er brauchte jemanden, der rechts und links von ihm ging, damit er ganz war. Nicht irgendeinen Beliebigen oder Strahlenden oder Mächtigen, sondern eben seine Brüder. Es war dann nichts Auffälliges mehr an ihm, nichts Besonderes. Er war dann nichts als ein Tafelbild, und wenn er nicht mehr angesehen oder angesprochen werden wollte, schlossen die Tafeln der Brüder sich über ihm zu, und er war im Verborgenen.
Er hat gedacht, daß er auf eine stille und schöne Weise alt werden würde, nichts anderes als dieses. Daß er mit der Zeit in den alten Gutshäusern der Landschaft heimisch werden würde, als ein Gast, der ab und zu erschien, um den Frauen etwas vorzulesen und den Kindern Märchen zu erzählen. Ein etwas sonderbarer Gast, aber doch ein geliebter, ein Nachklang aus einer verschollenen Zeit, in der den Frauen Verehrung und selbst Anbetung gebührte. Er würde nichts Besonderes geleistet haben im Leben. Er würde keine Schlacht gewonnen und kein Buch geschrieben haben. Er würde weder die Pole der Erde noch einen neuen Stern entdeckt haben. Aber wenn jemand in Not gewesen wäre unter den alten Dächern seiner Heimat, würde man sich seiner erinnert haben, seiner schmalen Hände, die den Geigenbogen so bescheiden führten, seiner gütigen Augen, deren Traurigkeit noch so war, daß ein Glanz aus ihnen auf alles Dunkel fiel. Wo es um eine Sache der Ehre ging, des Zwistes, der Schmerzen, der unlöslichen Verwirrungen, würde man ihn gerufen haben als den großen und ganz stillen Friedensrichter der Herzen.
So hat er gedacht, als er seinen Abschied genommen hat, und nun sitzt er im warmen Moos, den Rücken an den Stein gelehnt, und hört dem Schwarzspecht hinter dem Moor zu. Man hat ihn gerufen, wenn auch anders, als er sich gedacht hatte, und er hat nicht gehört. Man hat ihn nicht als einen stillen Friedensrichter gerufen, sondern in der tiefsten Todesnot als einen Retter und Erbarmer, und er hat nicht gehört. Er ist über ein verschneites Feld gelaufen, in einer unwürdigen Hast, einem dunklen, rettenden Walde zu, und hinter ihm ist das Schreien verklungen, das der Menschen und das der Pferde, das entsetzliche Schreien der Verlassenen und Verlorenen. »Herr Baron«, hat es gerufen, »Herr Baron …«, und dann hat es nur »Herr …« gerufen, wie die Gutsleute nur in tiefster Not zu rufen pflegten. »Herr …, Herr …«
Aber er war schon weit fort gewesen, unter den dunklen Bäumen, aus denen der Schnee auf seine Stirne fiel, ein Gejagter und Entkommener, und später, als die Scham ihn zu brennen begann, hatte er die Straße nicht wieder gefunden, die rote Straße, wo das Blut den Schnee färbte und wo der Schnee in die offenen und gebrochenen Augen der Kinder fiel.
»Die Zeit geht«, sagen die Menschen, aber für den Freiherrn Erasmus ist die Zeit stillgestanden. Eine erfrorene Zeit, und sie ist dort auf jener Straße erfroren, unter den verkrümmten Weiden, die wie Gespenster am Rande gestanden haben. Die Zeit ist mit den Toten erfroren, die Toten haben sie in ihre verkrümmten Hände genommen und geben sie nicht wieder her. Der Freiherr Erasmus hat die Stunde versäumt, die das Schicksal ihm gereicht hat. Er hat die Zeit versäumt, und nun hat die Zeit ihn ausgestoßen aus ihrem ruhigen, immer fortschreitenden Gang, und er sitzt da, an den Felsen gelehnt, und sieht zu, wie die Sonne wandert, wie die Wolken gehen, aber über ihn hinweg, außer ihm, jenseits von ihm, und er ist zurückgeblieben, wie die Erfrorenen zurückgeblieben sind, obwohl er gelaufen ist, ja, gerade weil er gelaufen ist.
Sein Haar ist nun fast weiß geworden, und manchmal, wenn er am Morgen in den kleinen Spiegel blickt, der einen Sprung hat, kommt es ihm vor, als habe er mit seinem Haar bezahlt. Aber er weiß, daß man mit seinem Herzen bezahlt und nicht mit seinem Haupthaar.
Er hat diese Stelle im Walde gewählt, weil man von hier aus ein Stück der Straße im Tal übersehen kann. Es ist die einzige Straße, die zum Schloß führt, und wer zu ihnen heraufkommen will, muß diese Straße entlanggehen. Er sieht, wie die Lastwagen der Sieger den weißen Staub hinter sich lassen, oder einen Radfahrer oder ab und zu einen einzelnen Wanderer, der etwas auf dem Rücken trägt. Aber kein Wagen kommt, mit Hausrat beladen, keine Kinder, die neben den Rädern einherlaufen, und er bildet sich ein, daß sie nur so kommen können, die der Tod und der Frost verschont haben, so wie sie in der Heimat von einem Gut zum anderen gezogen sind, wenn sie einmal ihre Stelle gewechselt haben.
Er bleibt dort sitzen, bis die Dämmerung fällt. Das Moor verdunkelt sich, der Wald, die Straße. Wildenten ziehen unter dem glühenden Abendhimmel über das Moor, und die Rohrdommel beginnt zu rufen. Über den Schilfwäldern erscheint der erste weiße Nebelstreif, der Tag verhüllt sich, der Abendstern geht auf.
Dann steht er seufzend auf, ein großer, schmaler, gebeugter Mann, und kehrt zu seiner Kammer im Forsthaus zurück, wo der Bruder auf ihn wartet, damit sie noch für eine Weile zum Schafstall gehen, wo der andere lebt, der dritte und jüngste, von dem in dem Lied der Kinderzeit gesagt worden ist:
Aber dieser dritte, aber dieser jüngste, hat sich tief, ja tief betrübt.
Aber Erasmus, wenn er sich dieser Verse erinnert, schüttelt leise den Kopf. Denn dieser dritte, dieser jüngste, hat es auf sich genommen. Er hat die Stunde nicht versäumt. Er ist nicht über das Feld gelaufen. Und wenn sie auf der Schwelle des Stalles sitzen oder auf dem Erlenstamm, blickt Erasmus diesen jüngsten verstohlen von der Seite an und fragt sich, weshalb dieses Gesicht finster und verschlossen ist, anstatt von Glück zu leuchten, von dem Glück desjenigen, der gerufen hat: »Adsum! Hier bin ich!«
»Die Zeit geht«, sagen die Menschen, und Ägidius ist der einzige, der es jeden Morgen und jeden Abend weiß. Er kann vom Moor aus keine Felder sehen, aber er fühlt es, daß die Wiesen nun gemäht werden und daß das Korn reift. Er hört nicht den wirklichen Vogelruf der Tage und Nächte, nicht den der Kiebitze und nicht den der Eulen. Er hört im Wachen und im Schlaf nur die Stimme des Wachtelkönigs, die die Erntenächte der Heimat erfüllt hat. Jenen unermüdlichen, mahnenden Ruf, Gott zu loben, das Korn und die Arbeit. Der Ruf, zu dem die Sensen gedengelt wurden, in der roten Frühe, wenn der Tau noch auf der schlafenden Welt lag.
Er trauert nicht um die Menschen, sondern nur um die Erde, um die verlorenen Felder, auf denen die Disteln nun wachsen werden. Um das Korn, das aus den Halmen fallen wird. Und um seine Hände, in die nun keine Arbeit gelegt ist, weder Samen noch Ernte. Leere Hände, die sich müßig um einen Kiefernast legen, wenn er am Rand des Waldes steht und in die verschleierte Ferne blickt, nach Süden oder Südwesten, wohin das Land abfällt und wo die Felder Frankens oder der gesegneten Wetterau in der Sonne reifen.
Er ist auch der einzige von ihnen, der das Moor für einen Tag und dann mitunter für ein paar Tage verläßt. Jakob hat ihm ein Fahrrad besorgt, gegen »Karate«, ein abgenutztes und in allen Speichen klapperndes Gefährt, aber für Ägidius ist es gerade soviel wie ein Viererzug, und mit ihm durchstreift er nun die Ebenen unterhalb des Gebirges, überall wo sie an der Heuernte sind. Es gibt wenige große Güter, Schloßherrschaften meistens, und dort sitzt er nun unter einem der Apfelbäume, die die Straße säumen, oder über einem Grabenrand am Gebüsch, die Hände um die Knie gefaltet, und sieht zu, wie die Maschine durch das taufeuchte Gras geht oder die Sensen hintereinander die Halme umlegen.
Es ist nicht die Fröhlichkeit seiner Heimat auf diesen Feldern, wo die Ernte noch wie ein halb heidnischer Gottesdienst war. Die meisten der jungen Leute, die er sieht, tragen eine zerschlissene und schmutzige Uniform, ohne Abzeichen, und die meisten blicken mißtrauisch zu ihm herüber, wenn er Stunde für Stunde am Grabenrand sitzt und ihnen zusieht. Das Land ist von Plünderern erfüllt, Leuten, die ohne Arbeit in den Lagern sitzen, aus allen Nationen, und für die fremdes Eigentum und fremdes Leben so wenig bedeuten, wie sie es für die gestürzten Fronvögte bedeutet haben.
Ägidius kümmert sich nicht darum, wem dieses Land gehört, und noch weniger darum, daß es nicht ihm gehört. Ihn kümmert nur die Arbeit, daß er jemandem zusehen kann, der eine Mähmaschine oder die Sense führt, und wenn er nicht scheu wäre, würde er bitten, daß man ihm eine Sense überließe.
Aber am Rande eines der großen Güter, auf dem sie nun schon seit Tagen das Gras mähen, kann er doch einmal aufstehen von seinem Grabenrand und etwas tun. Mit der Maschine zu seinen Füßen ist etwas nicht in Ordnung, und der Verwalter, ein kleiner, schneller, immer laut scheltender Mann, schickt einen Hagel von Flüchen auf den Fahrer nieder, der sich über die blitzenden Messer beugt.
»Lassen Sie mich einmal sehen«, sagt Ägidius höflich und geht um die Maschine herum. Er überhört die unfreundliche Frage, wer er sei, und bittet nach einer Weile um einen Schraubenschlüssel. Es ist ihm nicht schwer, den Schaden zu finden, und während er eine neue Mutter aufschraubt, sagt er dem Verwalter, daß er darauf achten müsse, daß sie fest angezogen sei, weil sie die Hauptlast des Ganzen zu tragen habe.
Er hört nicht genau, was der Verwalter erwidert, es fällt ihm nur auf, daß er es mit Höflichkeit tut, und als er sich aufrichtet und mit dem Ärmel seines Rockes den Schweiß von seiner Stirne wischt, steht neben der Maschine eine Frau in einem ländlichen Kleid, mit einem großen Strohhut über dem braunen Gesicht, und sieht ihn freundlich an. »Ich danke Ihnen«, sagt sie und nickt ihm zu.
Die Pferde ziehen wieder an, die Halme neigen sich wieder, und Ägidius sieht der Maschine nach, wie sie ruhig und gleichmäßig am Rande des hohen Grases entlangzieht. »Maschinen lassen sich nicht mit Schelten in Ordnung bringen«, sagt er und wendet sich wieder der Frau zu.
Nun erst sieht er sie an, und er erschrickt ein bißchen vor ihrer Erscheinung, wie sie nun hier in der Wiese steht und etwas Gewaltiges an sich hat. Er sucht nach einem leiseren Ausdruck, aber er findet keinen andern. Sie ist ebenso groß wie er, aber breiter und mächtiger, und nur ihre großen blauen Augen unter dem breiten Hut sind freundlich und mildern die Maße ihres Körpers.
Er geht mit ihr zur Straße zurück, wo ihr Einspänner auf sie wartet, und sie kommen in ein freundliches, etwas zurückhaltendes Gespräch. Sie ist die Herrin dieser Felder und Wiesen, seitdem ihr Mann in Rußland gefallen ist, und sie hat viel Mühe mit dem Verwalter wie mit den Leuten. Es hat sich alles verändert, nicht nur die Zeit, sondern mit der Zeit auch die Menschen und Verhältnisse.
Ja, er sehe nur zu, erwidert Ägidius auf eine vorsichtige Frage. Er habe fast siebzig Kilometer mit dem Rad zu fahren, um zusehen zu können, aber es reue ihn nicht. Er könne nicht den ganzen Tag oben am Moor sitzen und die Hände falten.
Wo das sei, oben am Moor?
Er erzählt es ihr, und als sie nach seinem Namen fragt, sagt er ihr auch diesen. Sie hat seinen Vetter gekannt und das Schloß, und sie sieht ihn von der Seite an. Ob er mit ihr kommen und eine Tasse Kaffee bei ihr trinken wolle? Er dankt höflich, aber er müsse sich nun auf den Heimweg machen. Seine Brüder warteten auf ihn, und auch von ihnen spricht er nun mit einigen Worten.
Sie blickt zu Boden und malt mit dem Stock, den sie trägt, Figuren in den Sand der Straße. »Es tut mir leid«, sagt sie leise, und ihre Stimme ist merkwürdig sanft für ihren großen, schweren Körper.
Er lächelt flüchtig und blickt auf die Wiesen zurück, wo die ferne Maschine nun wie ein großer, ungeschickter Käfer durch die hohen Halme kriecht. »Mitleid muß man nur geben und nicht empfangen«, erwidert er und hilft ihr höflich in den kleinen Wagen, der sich unter der Bewegung des Aufsteigens zur Seite neigt. Dann nimmt er sein Rad aus dem Gras und macht sich auf den Rückweg. Ihren Namen hat er nicht erfahren.
Am Abend ist er es, der vor dem Schafstall große Dinge zu erzählen hat, und sie hören ihm beide zu und blicken ihn verstohlen von der Seite an, und selbst Amadeus' Lippen lächeln auf eine schmerzliche Weise. »Sie sind zu spät dran«, sagt Ägidius in Gedanken verloren und hebt den grünen Halm, den er mitgebracht hat, an sein Gesicht. »Und der Verwalter taugt nichts. Es war eine ganz einfache Sache, aber er konnte nur fluchen, nichts mehr. Bei der Ernte soll nicht geflucht werden.«
Aber er vermeidet nun doch, dieselbe Straße noch einmal zu fahren. Es ist ihm nicht recht, daß er seinen Namen genannt hat, und er mag doch nicht sehr, so vom Grabenrand aus zum Kaffee eingeladen zu werden. Er merkt, daß er noch einiges zu lernen und zu verlernen hat, aber er will es nicht gerade dort tun.
Die Zeit geht, die jungen Raubvögel klagen schon am Moorrand, und der Kuckuck ruft nicht mehr so lange, daß man hundert Jahre alt werden kann.
Die Zeit geht über das Moor und den Schafstall und die drei Brüder, von denen der eine die Stimmen vergessen will und der andere den Duft der Wiesen, die gemäht werden, und der dritte die Angst vor den Menschen und ihrem Lächeln. Die Zeit nimmt vieles fort, die gelben Orchideen im feuchten Wald und die Waldblumen, nach denen Amadeus sich bückt und die er lange in der Hand hält, indes seine Augen sich tief in die kleinen weißen Glocken versenken. Aber sie nimmt die Dinge nicht fort, die die Brüder vergessen wollen. Sie hat sie genommen und aufbewahrt, und sobald ein Gedanke sie berührt, schlagen die Dinge die Augen auf und blicken den Grübelnden an. Sie sind da, und man kann ihnen nicht entgehen.
Es geschieht nichts hier oben bis zur Sonnenwende. Der Förster ist noch nicht zurück, und die Frau geht mit ihrem stillen Gesicht umher und sorgt für die Brüder, als ob es zwei Prinzen wären, die das Moor verzaubert hielte. Das Mädchen sitzt viele Stunden an dem Rand der Felsen und blickt wie Erasmus zur Straße hinunter. Ihr Gesicht ist finster und alt vor der Zeit, und wenn sie allein ist, wird es ein vergrämtes und ganz und gar hoffnungsloses Gesicht. Sie wartet, aber wahrscheinlich nicht auf den Vater, sondern auf die verborgenen Heere, die einmal aufstehen werden, in den Alpen vielleicht, und heraufziehen, um die vermeintlichen Sieger und ihr Lachen und ihren Lärm unter ihren Panzern zu begraben.
Jakob kommt und Kelley, aber sie gehen wieder, und es ist, als liege diese Bergkuppe über der irdischen Welt und die fremden Füße hinterließen keine Spur auf ihr.
Und erst zur Sonnenwende geschieht etwas. Um die Abendzeit bekommt Amadeus Besuch. Er hört einen fremden Schritt vor der Türe, einen langsamen und zögernden, und wie ein Wolf aus dem Lager ist er an der Schwelle. Aber es ist nur eine fremde Frau, groß und schwer, mit einem Strohhut über dem Arm und einem Stock in der Hand. Sie sieht wie eine der Riesentöchter aus, deren Väter hier einmal mit den Felsen gespielt haben, als noch das Feuer aus der Erde brach, und Amadeus starrt sie schweigend an.
Es ist gut, daß sie nicht lächelt. Sie betrachtet ihn nur forschend, wobei ihre Augenbrauen sich etwas zusammenziehen, so als ob sie ihn für eine Arbeit mieten wollte, und dann fragt sie mit ihrer sanften, leisen Stimme, ob der Freiherr von Liljecrona hier wohne. Sie habe etwas zu besprechen mit ihm, und da es noch keine Post und keinen Fernsprecher gebe, so sei sie selbst gekommen.
Er weiß nun aus der Erzählung von Ägidius, wer sie ist, und erbietet sich mit etwas mühsamer Höflichkeit, ihr den Weg zur Försterei zu zeigen.
Sie bedankt sich, aber sie bittet, hier noch ein bißchen ausruhen zu dürfen. Für sie sei der Weg hinauf etwas mühsam. Sie setzt sich auf den Erlenstamm, und da Amadeus das nicht verhindern kann, bleibt er an der Tür des Schafstalles stehen, den Rücken an den Pfosten gelehnt, die Arme über der Brust verschränkt. Sein Gesicht ist so, als trage er sieben Schlösser davor, und es wird nicht besser davon, daß er merkt, wie die Frau ihn betrachtet, ohne Neugier, nur mit einer stillen, freundlichen Aufmerksamkeit.
»Es tut mir leid«, sagt sie endlich leise, wie sie es schon einmal gesagt hat.
Auch ihm fällt es auf, wie sanft ihre Stimme ist, aber er zuckt nur die Achseln und fährt fort, über das Moor zu blicken, auf dem die Schatten sich vertiefen.
»Ich bin gekommen«, sagt sie nach einer Weile, »um Ihren Bruder zu bitten, mir zu helfen. Der Verwalter ist durchgegangen, mit einer Menge Geld, und in einer Woche soll der Roggen gemäht werden. Ich kann das allein nicht mehr bewältigen.«
Wer sollte es können, wenn nicht du? denkt Amadeus.
»Glauben Sie, daß er kommen wird?« fragt sie, und ihre Stimme ist fast schüchtern geworden.
Er zuckt noch einmal die Achseln. »Ich weiß es nicht«, erwidert er, »aber ich denke, daß er zu jeder Ernte gehen würde, auch auf den Mond.«
»Danke«, sagt die Frau und lächelt.
Aber dann wird ihr Gesicht gleich wieder ernst, und sie blickt nun wie Amadeus auf das Moor hinaus. »Wenn ich Ihnen einmal helfen könnte«, sagt sie nach einer Weile, »würde ich es gerne tun. Die Winter sind sehr rauh hier oben, und sie tun dem Herzen nicht gut. In meinem Hause wird immer Platz für Sie sein.«
Danke, erwidert Amadeus, aber er habe Platz genug hier.
»Es ist vielleicht nicht gut«, sagt die Frau bescheiden, »jedermann verantwortlich zu machen. Jedermann ist ein dichterischer Begriff, aber kein Begriff des Lebens. Es ist auch kein gütiger Begriff …«
Weder die Dichtung noch das Leben hätten ihn zur Güte verpflichtet, erwidert Amadeus.
»Zur Güte verpflichtet man nur sich selbst«, sagt die Frau leise. »Wenn man so aussieht wie ich, weiß man etwas davon.«
Die erste Dämmerung fällt über die Erde. Über dem westlichen Teil des Moores brennt der Himmel in einem großen Abendrot. Es sieht aus, als brenne es weit hinter der Erde.
»Ich habe keine Kinder«, sagt die Frau leise, »und manchmal bin ich glücklich darüber …«
Als die Frau aufstehen will, kommen Erasmus und Ägidius aus dem Wald auf den Schafstall zu.
Erasmus ist so verwirrt, daß die Frau ein bißchen lächeln muß, und ehe sie ihre Bitte vorbringt, sieht sie die drei Brüder eine Weile an, ein Gesicht nach dem anderen. Sie stehen nun nebeneinander an der Wand des Schafstalles. Das Licht des Abendrotes fällt in ihre Augen, beleuchtet die fast rührende Ähnlichkeit ihrer Züge und legt eine bedrückende, fast schmerzliche Einsamkeit über ihre Gestalten.
Und die Frau fühlte mit einer leisen Angst, daß keiner der drei vielleicht imstande sein würde, dieses Leben allein und für sich zu bestehen. Daß sie alle drei zu sich nehmen müßte, wenn sie einen zu sich nähme. Aber sie wurde gleich wieder unsicher, wenn ihre Blicke zu Amadeus zurückkehrten. Er hatte es für sich allein bestanden, und er hatte ihr mehr als deutlich zu verstehen gegeben, daß er ihre Hand nicht zu ergreifen wünschte.
Sie seufzt und bringt dann ihr Anliegen vor.
Ägidius zögert keinen Augenblick. Er dankt ihr sogar, daß sie an ihn gedacht hat.
»An wen hätte ich sonst denken sollen?« fragt sie mit ihrem freundlichen Lächeln.
Er würde morgen früh kommen, ganz früh, und er würde sie nun zu ihrem Wagen hinunter begleiten. Es ist nicht übermäßig sicher für eine Frau, um diese Zeit allein unterwegs zu sein.
Sie reicht den beiden andern die Hand, und Erasmus küßt die Hand nach alter Sitte. Sie errötet ein bißchen, aber sie sieht Amadeus an. »Den Frieden machen nicht immer die Sieger«, sagt sie zum Abschied.
Er verneigt sich nur stumm.
Sie bleiben vor der Tür des Stalles sitzen und warten auf Ägidius.
»Es ist mir, als ob er zur Königin Semiramis ginge«, sagt Erasmus nach einer Weile und sieht dem Rauch seiner Zigarette nach.
»Er wird auf ihre Felder gehen«, erwidert Amadeus, »und nicht in ihre hängenden Gärten.«
»Eine mächtige Frau …«, sagt Erasmus, in Gedanken verloren.
Als Ägidius wiederkommt und sich zu ihnen setzt, können sie einer der andern Gesichter nicht mehr erkennen. Die Sterne scheinen nun mit all ihrem Glanz, und die Eulen rufen schon über dem Moor.
»Ich war sehr froh«, sagt Ägidius endlich, »aber nun ist es mir schwer, euch allein zu lassen. Es wird nur über die Ernte dauern.«
»Es wird viel länger dauern«, erwidert Amadeus ohne einen Vorwurf.
Ägidius denkt eine Weile nach. »Ich weiß es nicht«, sagt er. »Vielleicht gewöhnt man sich auch an ihre …, an ihre Übermenschlichkeit.«
»Die alten Griechen würden sie wahrscheinlich die ›Kuhäugige‹ genannt haben«, sagt Erasmus lächelnd. »Aber es war immerhin eine Göttin, die sie so nannten.«
»Ich werde nach euch sehen kommen, sooft ich es einrichten kann«, fährt Ägidius fort. »Sie hat einen Wagen, und dazu werde ich ihn wohl bekommen können. Sie hat euch sehr gern.«
»Du mußt nicht an uns denken, Bruder«, sagt Amadeus. »Es ist nun gut, daß einer von uns etwas zu tun bekommt, und es war mir kein Zweifel, daß du der erste dazu sein würdest. Wahrscheinlich wirst du auch der einzige sein.«
Er sagt es ohne Bitterkeit, aber Erasmus beugt sich doch vor und drückt mit besonderer Sorgfalt den Rest seiner Zigarette aus. »Wir werden schon durchkommen, lieber Bruder«, sagt er, »wenn das Mädchen im Forsthaus mich nicht umbringt.«
»Ich glaube nicht, daß sie gerade dir nach dem Leben trachtet«, erwiderte Ägidius lächelnd. »Für sie bist du nur eine Erscheinung der ›Verfallszeit‹ wie wir alle. Aber du wahrscheinlich am meisten, weil du am freundlichsten zu ihr bist.«
»Freundlichkeit ist das Gold der Besitzlosen«, sagt Erasmus heiter.
Aber er war nun doch sehr allein, als Ägidius fortgegangen war. Er hatte nun beide Zimmer oben, hatte die Zwischentür geöffnet und ging stundenlang von einem Raum zum anderen und wieder zurück, wobei er die Schwelle vermied, die bei jedem Schritt knarrte. Oder er stand lange Zeit an einem der niedrigen Fenster, die Stirn an die Scheiben gelehnt, und blickte über den niedrigen Wald in die Ferne hinaus, die immer leer für seine Augen blieb.
Um die Dämmerung sah er ein paarmal Fremde unter den Büschen des Waldrandes, junge Leute mit offenen Hemdkragen, und sah auch das Mädchen mit ihnen sprechen, wobei es über die Schulter nach dem Hause zurücksah. Aber er achtete nicht darauf.
Erst als an einem Morgen drei amerikanische Soldaten das Haus betraten und er nach einer Weile in die Küche geholt und gefragt wurde, ob er etwas von einem Verkehr junger Leute mit dem Hause bemerkt hätte, erinnerte er sich und sah das Mädchen an, das kalt und stolz an der Wand lehnte, als wäre sie die heilige Johanna und sollte zum Scheiterhaufen geführt werden.
»Ich habe nicht darauf geachtet«, sagte er höflich, »und ich bin fast den ganzen Tag außer dem Hause.«
Der Sergeant sah ihn nachdenklich an. »Sie sind ein Flüchtling?« fragte er dann.
»So kann man wohl sagen«, erwiderte der Freiherr.
»Und Sie waren ein General?«
Das sei richtig, sagte der Freiherr lächelnd. Aber er habe vor zwölf Jahren den Abschied genommen.
Der Sergeant blätterte in seinem Notizbuch und zuckte dann die Achseln.
»Sie sollten sich ein bißchen vorsehen«, sagte er dann zu dem Mädchen und stand auf. »Immerhin sind wir die Sieger.«
»Kindermörder sind keine Sieger«, erwiderte das Mädchen und sah an ihm vorbei, als ob ein Mülleimer an seiner Stelle gestanden hätte.
Er zog die Augenbrauen zusammen, aber die beiden andern lachten, und der jüngste von ihnen hob die Hand, um im Scherz die Wange des Mädchens zu streicheln.
Das Mädchen schlug so hart zu, daß er zurücktrat und verblüfft auf seine Hand blickte.
»Look here!« sagte er erstaunt.
Dann gingen sie.
»Seien sie vorsichtig«, sagte Erasmus, bevor er sich zum Gehen wandte. »Auch wenn ich nicht darauf achte, sehe ich manches. Und ein Mädchen sollte nicht mit dem Kopf durch die Wand gehen. Wenn die Wand nicht zu schade dazu ist, so ist doch das Mädchen zu schade dazu.«
Das Mädchen sah ihn mit einem forschenden Blick an und verließ dann die Küche.
Die Soldaten erzählen wohl von ihrem Besuch, und wenn auch die meisten Zuhörer lachen, so nimmt der Gerichtsoffizier es doch ernster. Denn eines Morgens, als Amadeus die Tür des Schafstalles schließt, um über das Moor zu gehen, sieht er das Mädchen und drei Soldaten aus dem Wald vor der Försterei treten. Sie haben es in die Mitte genommen und kommen langsam durch das taufeuchte Gras an Amadeus vorüber.
Die Soldaten sind fröhlich und unbekümmert, und das Mädchen geht zwischen ihnen, als ob es Kannibalen wären. Es sieht Amadeus dastehen und den Zug schweigend betrachten, aber es sieht ihn mit eisiger Verachtung an.
Am Abend erzählt Kelley auf seine lächelnde Art, daß es eine bemerkenswerte Verhandlung gewesen sei. Wenn sie eine Wildkatze gefangen hätten, würde es ebenso gewesen sein. Er hätte immer gedacht, daß das Mädchen im nächsten Augenblick über den Tisch springen und den Oberleutnant erwürgen würde. »Schade«, habe er schließlich gesagt, »so gut anzusehen und so erzdumm. Thoroughly stupid.«
Sie habe einen Monat Gefängnis bekommen wegen Verächtlichmachung der amerikanischen Soldatenehre. Er selbst, Kelley, könne sich nicht denken, was ein siebzehnjähriges Mädchen mit der Ehre eines Millionenheeres zu tun habe.
Nach vier Wochen kommt sie zurück, und es wird erzählt, daß der Gefängniswärter, ein frommer Mann, eine große Wachskerze für die Kirche der kleinen Stadt gelobt habe, wenn er nach diesen vier Wochen noch im Amt oder am Leben sei.
Um diese Zeit, da Ägidius schon an der Weizenernte ist, fährt auf der schmalen, gewundenen Straße, die das Gebirge hinansteigt, ein beladener Leiterwagen mit vier ganz ermatteten Pferden langsam und mit vielen Pausen dem dunklen Bergstock zu, der, wenn man die Leute fragt, die Wasserkuppe heißt. Der Wagen ist mit altem und vielfach zerbrochenem Hausrat beladen. In seinem Stroh sitzen die Frauen in dunklen Umschlagtüchern, die bis über die Stirn reichen. Sie sitzen still und gebeugt da, und die Leute der Landschaft sehen ihnen lange nach, als ob es die alten Schicksalsfrauen aus der Sage wären, die nun auf der Wanderung sind, nachdem die Wurzeln der Weltesche abgesägt worden sind.
Neben den knarrenden und klappernden Rädern gehen ein paar Kinder im Staube her, jedes einen Stock in der Hand, und die Leute auf den Feldern müssen genau hinsehen, um zu erkennen, daß es auch wirklich Kinder sind und nicht Zwerge aus dem Kyffhäuser oder dem Riesengebirge. So alt und still sehen sie aus.
Vorn auf dem Leiterwagen aber, auf einem schmalen Brett, über das ein Sack gelegt ist, sitzt ein großer, alter Mann, mit sauber ausrasiertem Kinn und einem weißen Bart, dessen Schnitt man hier nicht kennt, und hält die Leinen der vier Pferde in seiner linken Hand. Er sitzt so aufrecht und gerade, als wäre er aus Holz geschnitzt, und seine hellblauen Augen sind die einzigen, die in die Ferne gerichtet sind statt in den Staub der Straße wie die Augen der übrigen.