Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Amadeus lag nun ganz still. Nachdem die Schritte des Mädchens verklungen waren, kehrte das große Schweigen wieder zurück. Auch das purpurne Licht vor seinen Augen war vergangen, und er konnte nun wieder das große Abendrot sehen. Es schien ihm, als habe er nun doch erst heute »den Abend gefunden«, wie Wittkopp es genannt hatte. Einen ganz anderen Abend als bisher. Das Letzte an Zeit, das man finden konnte, so feierlich, wie noch nichts gewesen war.
Vielleicht lag es daran, daß er lag und nicht stand oder ging. Daß die Erde unter einem anderen Winkel erschien. Und auch daran, daß er nicht einfach aufstehen und davongehen konnte.
Die Dämmerung fiel, und eine Nachtschwalbe zog ihre spielerischen Kreise immer enger um ihn. Er sah ihr zu, aber so, daß das große Abendrot immer dahinterstand. Er verlor es nicht aus den Augen. Es war immer da, wie die eigentliche Frucht des Abends. Er dachte nicht viel. Die linke Seite schmerzte ihn so, daß er die Bruchstücke der Gedanken nicht verbinden konnte. Er dachte auch nicht am meisten an das Mädchen. Er sah es nur dasitzen, als sei es noch gar nicht fortgegangen, aber er dachte nicht daran, wie es nun dahingekommen war. Er hatte es nun wohl doch nicht »bei der Hand genommen«, wie Wittkopp ihn ermahnt hatte. Er hatte keinen Zugang zu dem vermauerten Herzen gefunden. Aber es war nun doch gegangen, um die anderen zu holen, die Pistole unter der Schürze.
Am meisten dachte er daran, wie er auf die drei fliehenden Gestalten geschossen hatte. Dies allein war das Rätsel des Abends. Seine Hand war ganz ruhig gewesen, sein Auge ganz sicher. Und doch erinnerte er sich, daß er, bevor er abgedrückt hatte, das Korn der Pistole um eine Handbreit zur Seite gerückt hatte. Bei allen Schüssen.
Und er grübelte unablässig darüber nach, weshalb er es getan hatte. Er hatte es ohne Gedanken oder doch ohne Überlegung getan. Die Hand hatte es getan, und er wußte nicht mehr, wer oder was die Hand gelenkt hatte. Es würde natürlich gewesen sein, daß sie das Ziel gesucht und festgehalten hätte. Sie hatte es auch gesucht, aber sie hatte es nicht festgehalten. Nicht aus Schwäche oder Unsicherheit, sondern sie hatte es nicht festhalten wollen. Etwas war vorgegangen in ihm, woran er sich nicht mehr erinnerte. Und darüber dachte er lange nach.
Aber er fand es nicht.
Er hatte noch drei Zigaretten, und das würde ausreichen. Wenn das Mädchen wirklich zu Christoph gegangen war. Es fröstelte ihn plötzlich, weil ihm in den Sinn kam, daß sie das gar nicht zu tun brauchte. Er hatte es gar nicht bedacht bis jetzt. Sie hätte ja auch gehen können, um ihn der Nacht und dem Schweigen zu überlassen. Sie hätte meinen können, sie habe genug von seinem Sterben gesehen, und das andere würde der Tau besorgen oder der Nebel oder die Kühle der Erde.
Aber dann entließ er den Gedanken wieder. Etwas in ihrem Gesicht war dagewesen, was dem widersprach. Es war, als sei an die Stelle des Hasses die Angst getreten, die große, unermeßliche Angst eines Kindes vor dem Letzten. Hinter ihr war nicht die blutige Spur, wie hinter den Füßen des »Dunklen«. Vielleicht war ihre Gedankenspur blutig gewesen, aber nicht die der Taten. Und zwischen beiden stand die große Mauer, die zu übersteigen war, ehe man tat, was man gedacht oder gewollt hatte. Das Böse war etwas anderes als die Idee des Bösen. Den Abzug einer Pistole zu berühren war etwas anderes, als es sich auszumalen. Es war wie der Schritt von einer Turmzinne in den Abgrund. Es war eine allerletzte Entscheidung, und aus ihr gab es keine Rückkehr mehr.
Es fror ihn nun, und das Heidekraut, das er mit der rechten Hand berührte, war schon kühl und feucht. Der Abendstern war aufgegangen, und die ersten Eulen riefen. So wunderbar war die Welt, bevor die Nacht über sie fiel. Das heimliche Leben erwachte im Wald und rings in der Runde. Die leisen Füße der Käfer und der Mäuse glitten über das Moos. Der einsame Hund begann wieder in der Ferne zu bellen.
Der Freiherr schloß die Augen und lauschte. Er dachte nicht daran, ob er die Schritte der Männer hören würde, die mit einer Bahre über das Moor kamen. Er dachte nur daran, daß er nun doch nicht »fertig geworden« war, und es erfüllte ihn mit einer sanften Traurigkeit. Er hatte den Cellobogen nicht wieder in der Hand gehalten. Er hatte der Frau des Bruders den schweren Weg nicht leicht genug gemacht. Er hätte der »Goldenen«, die krank war, einen besseren Umschlag machen können. Und er hätte Jakob sagen sollen, daß der Esel seine Last nicht verloren habe. Daß er sie nur abgesetzt habe, im Schatten einer Oase. Und daß er wieder dasein werde, wenn die Zeit gekommen wäre, sie wieder aufzunehmen.
Nein, er war nicht schnell genug verwandelt worden. Es hatte eines Anstoßes von draußen bedurft, dieser Schüsse zum Beispiel, von denen zwei ihn getroffen hatten. Und es hätte doch genügen sollen, daß er von innen angestoßen worden wäre. Vom Herzen aus, nicht aus den Büschen dieses Waldes, wo die Handlanger standen und sich davonmachten, sobald sie das Ihrige getan zu haben meinten.
Aber nun war doch alles wieder gut. Besonders als er den Lauf der Pistole zur Seite gelenkt hatte vor dem Abdrücken. Er wußte noch immer nicht, weshalb er es getan hatte, aber er fühlte, daß es gut gewesen war, auf eine tiefe, geheimnisvolle und unerklärliche Weise gut.
Und nun lächelte er leise und schlug wieder die Augen auf. Es fiel ihm schwer, weil die Lider müde waren. Aber nun waren die Sterne da, alle Sterne, die es nur geben konnte. So wie in der Nacht seiner Heimkehr, als er sich über ihre Zahl verwundert hatte. Ein schimmerndes Gewölbe, unter dem er lag, um den Glanz in seine Augen fallen zu lassen.
Und daß er keine Angst mehr hatte, das war so tröstlich und so wunderbar. Er fühlte es ganz plötzlich, ohne Vorbereitung. Es nahm das Fieber fort und die Gedanken. Es umhüllte ihn wie ein warmer Mantel. Es war wie ein Wunder, das sich bei ihm niedergelassen hatte, auf den Knien, dicht an seinem Herzen. Das, wonach er gestrebt hatte, so lange, lange Zeit. Und nun war es da, ohne sein Zutun. Die große Geborgenheit, und er hatte ihre leisen Schritte nicht gehört.
Es tat nichts, ob das Mädchen die Männer geholt hatte oder nicht. Auch wenn er hier liegen müßte, die ganze, lange Nacht, unter den steigenden und wieder sinkenden Sternen: die Geborgenheit würde bleiben. Sie würde nicht steigen und sinken. Sie kam aus Quellen, die er nicht kannte, aber er fühlte, daß sie nicht fortgehen würde. Gleichviel, ob er leben blieb oder starb. Sie war nicht an den Körper gebunden, nicht an den Schlag des Herzens. Sie war da, wie das Himmelsgewölbe da war. Keine Menschenhand konnte sie erreichen und berühren, so wie man die Sterne nicht erreichen und berühren konnte. Sie war zu ihm gekommen, als ob sie Raum in seinem Gesicht gefunden hätte. Den Raum, von dem Jakob gesagt hatte, daß Gott dort wohnen wolle.
Er lächelte wieder, und es war ihm, als ob dieser Raum in seinem Gesicht größer würde beim Lächeln. Als ob das Lächeln ohne Angst der einzige Weg wäre, den Raum zu schaffen, in dem nicht mehr er selbst wohnte und auch nicht die Toten, sondern das andere eben. Das, was Jakob Gott nannte.
Und nun hörte er die Schritte der Männer, die hinter ihm durch den Wald kamen. Er konnte das Licht der Laterne nicht sehen, den rötlichen Kreis, der an den Stämmen auf und nieder glitt. Aber er konnte die große Helligkeit fühlen, die auf ihn zukam. Und im Mittelpunkt der Helligkeit stand nicht die Bahre oder Christoph oder Erasmus vielleicht, sondern nur die wunderbare Gewißheit, daß die »junge Frau« nicht geschwiegen, sondern gesprochen hatte. Daß sie gesagt hatte: »Dort liegt er. Holt ihn, bevor er stirbt!«
»Ach, du lieber, junger Herr …«, sagte Christoph und kniete bei ihm nieder. Seine Hand, die die Laterne hielt, zitterte nun noch stärker als früher.
Amadeus lächelte nur und schloß die Augen vor dem nahen Licht, bis er Christophs tiefen Seufzer hörte. »Er ist nicht da, lieber Herr«, sagte die leise, ganz ferne Stimme, und Amadeus wußte ganz genau, wer nach Christophs Meinung nicht da war. Nun werde ich Raum haben in meinem Gesicht, dachte er noch mit einer wunderbaren Müdigkeit, so viel Raum …
Und dann erloschen die Gesichter und das Licht und die vielen Sterne, und die große, herrliche Dunkelheit schlug langsam über ihm zusammen.
Er erwachte erst, als sie die Bahre zum erstenmal abstellten, um sich im Tragen abzuwechseln. Sie waren nicht über das Moor gegangen, sondern den nächsten Weg zum Schloß hinunter. Der Wald war schon hinter ihnen zurückgeblieben. Die Luft war kühler und roch nach Feldern und Wiesen.
Sie hatten die Laterne auf die Erde gestellt und standen schweigend um ihn herum.
»Weshalb sind es so viele, lieber Bruder?« fragte Amadeus verwundert. »Weshalb sind die Frauen dabei?«
Erasmus beugte sich zu ihm hinunter, und Amadeus sah im Licht der Laterne sein erschrockenes Gesicht unter dem weißen Haar und sein Lächeln, das noch trauriger und gütiger geworden war. »Dachtest du, sie würden dich allein lassen, lieber Bruder?« fragte er. »Weißt du denn nicht, wer du für sie bist?«
»Wer bin ich denn?« erwiderte Amadeus verwundert und blickte in die Gesichter der Frauen, die an der Bahre knieten. »Auch du bist da, Erdmuthe«, sagte er leise. »Halte nun meine Hand, wie der Pfarrer gesagt hat.«
Die Männer nahmen die Bahre wieder auf, und Erasmus beugte sich noch einmal hinunter. »Habe ich es nicht gesagt, daß sie einen von uns umbringen wird, lieber Bruder?« fragte er.
Aber Amadeus schüttelte den Kopf. »Du darfst das nicht sagen«, erwiderte er schnell. »Sie hat keinen von uns umgebracht, hörst du?«
Vier Wochen lang lag Amadeus in dem kleinen, weißen Zimmer des Krankenhauses. Er sah die Ärzte und die Schwestern, und alle Gesichter schienen ihm hell und freundlich besorgt um ihn. Aber sie waren nicht mehr als freundliche Erscheinungen, die durch den kleinen Raum glitten. Denn hinter ihnen sah er immer den andern Raum, den des Schafstalles und des Moores, und dort geschah das Wichtige seines Lebens, zu dem er sobald wie möglich zurückkehren mußte. Es war noch nicht viel geschehen damit, daß sie seinen Körper heilten und daß der Arzt ihm versicherte, daß die Finger seiner linken Hand ebenso ruhig auf den Cellosaiten ruhen würden wie bisher. Daß er Kelley und dem Geheimdienst der Sieger erklärte, es seien nach seiner Meinung Leute aus den Lagern gewesen, Fremde, nach denen zu suchen zwecklos sei.
Es war nur wichtig, daß er wieder heimkehren konnte, zu der verlassenen Schwelle, vor der nun niemand stehen konnte, über dem das Schicksal zusammenschlug.
Er erfuhr, daß die »junge Frau« bewußtlos in einem schweren Fieber lag, seitdem sie vor Christophs Füßen zusammengesunken war, und er wußte, daß es keine Hand gab, nach der sie beim Erwachen die ihrige ausstrecken würde als seine Hand.
Und ihn selbst verlangte danach, das große Abendrot wiederzusehen, in dem die Angst von ihm fortgegangen war. Der Raum war zu klein, in dem er hier leben mußte, und nur dort konnte er zu Ende denken, was ihn am Rand des Moores, zwischen den beiden Wacholderbüschen, so erfüllt hatte.
Er hatte viele Besuche, und er blickte aufmerksam in die Gesichter, die sich zu ihm neigten. Auch diese Gesichter schienen ihm verändert, als trügen auch sie den warmen Abglanz des Abendrotes, das ihn selbst verwandelt hatte.
Der Pfarrer war der einzige, mit dem er darüber sprach, daß er den Lauf seiner Pistole abgelenkt hatte, als er den Abzug berührte. Und Wittkopp war auch der einzige, für den es kein Rätsel dabei gab. »Es ist immer da in uns«, sagte er, »und sieht uns zu. Schweigend meistens und ohne Bewegung. Aber dann kommt ein Augenblick, in dem es die Hand hebt und an unsre Hand rührt. Kaum merklich für uns, aber es genügt, daß wir ein anderes Wort sagen, als wir es sagen wollten. Einen anderen Weg gehen, als wir ihn gehen wollten. Das sind die großen Entscheidungen unseres Lebens, das nach unsrer Meinung so großartig unter dem sogenannten freien Willen steht. Es ist, als ob diese Hand in uns plötzlich eine von den steinernen Tafeln aufhebt, die zum Beispiel, auf der geschrieben steht: ›Du sollst nicht töten!‹ Oder besser: ›Du sollst nicht mehr töten!‹ Aber sie hebt sie nicht so ohne weiteres auf, wie es ihr gefällt. Sie hebt sie erst auf, wenn wir reif dazu sind, sie lesen zu können. Verstehen Sie, Herr Baron? Erst wenn wir andere Augen gewonnen haben, hebt sie sie auf. Und daß wir andere Augen gewonnen haben, das haben wir nun dazu getan, ohne es zu wissen meistens. Die Hand sorgt nur dafür, daß wir auch erkennen, was wir gewußt haben.«
»Und Sie meinen, ich hätte schon andere Augen gehabt, als ich dort auf dem Moor gestanden habe?«
»Ja, wußten Sie das denn nicht?« fragte der Pfarrer erstaunt. »Wußten Sie nicht, daß Sie das Böse verloren hatten?«
Der Freiherr Amadeus sah ihn lange an und blickte dann nach dem hohen Fenster, in dem ein kleiner Schimmer des fernen Abendrotes leuchtete.
»Habe ich es verloren?« fragte er leise.
»Sie hatten es schon verloren«, erwiderte Wittkopp, »als Sie zum erstenmal hinter mir standen auf dem Moor, um den Abend zu suchen. Wer böse ist, sucht nur die Nacht, wie der ›Dunkle‹ sie gesucht hat. Sie versuchten noch eine Weile, böse zu scheinen, weil Sie es sich so vorgenommen hatten und weil Sie Angst hatten. Wer Angst hat, fühlt sich sicherer im Bösen als im Guten. Aber nun haben Sie keine Angst mehr. Sie sind über die Schwelle getreten. Als die Schüsse fielen, erreichten sie nur noch Ihren Körper, nicht mehr das Herz. Paulus hatte nur Angst, solange er Saulus hieß, nachher nicht mehr.«
»Aber ich bin nicht Paulus«, sagte Amadeus ablehnend.
»Wer auf dem Wege ist, ist Paulus«, erwiderte der Pfarrer mit seiner großen und einfachen Sicherheit. »Immer und zu allen Zeiten. Und das wissen Sie nun wohl, daß Gott auch das Mädchen bei seiner Hand geführt hat, nicht wahr? Nur ein Blinder vermöchte es nicht zu sehen.«
Auch die Frau des Bruders saß bei ihm, und in dem kleinen Raum erschien die Güte ihres Gesichtes so groß, daß sie alles bis zu den hohen Fenstern erfüllte. »Es ist mir, als ob Sie ganz allein für uns litten«, sagte sie. »Damit wir im Frieden sein können. Als ob Sie auch für das Kind litten, das ich trage, damit es unberührt bleibt.«
»Ich wußte nicht, daß Sie ein Kind tragen«, erwiderte Amadeus. »Es ist mir nun, als sei die Waage im Gleichgewicht.«
Sie verstand ihn nicht, aber er schüttelte den Kopf. »Es wird ein helles Kind sein«, sagte er, »und das dunkle wird es leichter haben. Ich denke, daß ich zu seiner Taufe kommen werde. Noch vor ein paar Wochen würde ich es nicht gedacht haben.«
Sie beugte sich schnell vor, als ob sie seine Hand küssen wollte, aber er nahm die ihrige und legte sie an sein Gesicht. »Es ist schön, seine Schulden abzuzahlen«, sagte er nur.
Am stillsten aber war es, wenn Jakob bei ihm saß. Er sah immer aus, als wäre er nicht von weither gekommen, sondern als wohnte er hier. Ja, als wohnte er überall, wo ein Leid geschehen war, damit er gleich dasein könnte. Um ihn war immer ein solcher Raum des Friedens, daß man sich nicht vorstellen konnte, er komme aus einem Lager, in dem Tausende von Menschen um Raum oder Geld oder Zukunft kämpften. Er setzte sein Bündel neben das Bett, verneigte sich und saß klein und bescheiden in dem alten Lehnstuhl, den die Schwestern für die Besucher hingestellt hatten. Seine braunen, traurigen Augen suchten schnell und unauffällig in dem Gesicht des Freiherrn, und dann lächelte er. »Gott hat den Herrn Grafen lieb«, sagte er dann oder irgend etwas anderes, das Amadeus nicht erwartet hatte und das ihn jedesmal verwunderte und beglückte. »Und wenn der Herr Graf wird zurückgehen in den großen Stall«, fuhr er fort, »wird er haben viel zu tun, sehr viel zu tun.«
»Aber ich tue doch nichts, Jakob«, erwiderte Amadeus.
»Der Herr Graf ist wie ein Licht über dem Moor«, sagte Jakob. »Man kann es sehen aus der Ferne, und man kann aufheben die Hand und sagen: ›Dorthin will ich gehen.‹«
»Aber ich bin kein Licht, Jakob.«
»Vielleicht sind der Herr Graf kein Licht, aber einer hat angezündet ein Licht in dem Herrn Grafen, und so ist es dasselbe. Der Herr Graf hat versucht, zu halten seine Hände über das Licht, damit keiner es sieht. Aber dann hat Gott der Gerechte dafür gesorgt, daß die Hände des Herrn Grafen sind gesunken in das Heidekraut, und dann war das Licht zu sehen über das ganze Moor.«
»Meinen Sie, daß Gott es getan hat, Jakob?«
»Hat der Herr Graf gemeint, daß das Mädchen es getan hat?« fragte Jakob. »Wer ist ein Mädchen, daß es fortnehmen kann die Finsternis aus einem Menschengesicht?«
»Weshalb wissen Sie soviel, Jakob?« fragte der Freiherr nach einem langen Schweigen.
Jakob lächelte wie zu der Frage eines Kindes. »Weiß ich, Herr Graf?« erwiderte er. »Ich weiß nicht. Ich höre nur. Ich habe gelebt so, daß ich habe lauschen müssen Tag und Nacht. Ob sie kamen mit Spießen und Stangen, um uns wieder zu verderben. Manche hören, wenn eine Tür geht. Manche hören, wenn ein Riegel wird aufgetan oder zugetan. Und manche hören, wenn der Engel umschlägt eine Seite in dem großen Buch.«
Er bückte sich und nahm ein paar Büchsen mit Früchten aus seinem Bündel. »Ich habe gedacht, es wird gut tun dem Herrn Grafen«, sagte er.
»Aber ich habe nie etwas für Sie getan, Jakob«, sagte Amadeus beschämt.
Jakob war schon aufgestanden und schnürte sein Bündel wieder zusammen. Er machte den letzten Knoten und sah Amadeus an. »Vor fünfhundert Jahren«, sagte er auf seine bescheidene Weise, »haben die Herren Grafen von Liljecrona, wenn die Lust sie ankam, uns lassen essen Seife, wenn es damals schon Seife hat gegeben. Oder sie haben uns ausgerissen den Bart. Oder sie haben unsre Töchter genommen für eine Nacht der Lust. Und vor fünf Jahren haben die Herren getan dasselbe. Der Herr Graf hat getan nichts dergleichen. Er hat gegeben von seinem Brot denen, die ohne Brot waren, und er hat sitzenlassen vor seiner Schwelle denjenigen, den der große Fisch hat ausgespien aus seinem Bauch. Der Herr Graf hat getan, was ein Bruder seinem Bruder tut.«
Und er verneigte sich, stellte den großen Stuhl wieder zurecht und ging leise aus dem Zimmer.
Und dann kam der Abend, an dem Christoph den Freiherrn Amadeus abholte. Amadeus hatte gewollt, daß es ganz in der Stille geschehe. Christoph hatte einen Wagen mit zwei Pferden besorgt, und in diesem fuhr er ihn bis zum Schloß. Er saß aufrecht und gerade auf dem Kutschbock, die Peitsche in der rechten Hand, in seinem blauen, langen Rock, dessen Knöpfe er geputzt hatte. Sein langes weißes Haar wehte im Abendwind, denn er hatte keine Mütze mehr. Sie fuhren langsam, und der Freiherr konnte die Heidelerchen auf den Feldern hören. Es war ihm, als sei er vor fünfzig Jahren zum letzten Male so gefahren.
Unter dem zerbrochenen Wappen stand Donelaitis und nahm die Pferde in Empfang. Dann stiegen sie ganz langsam den schmalen Weg zum Schafstall hinauf. »Wenn du einen Gürtel hättest, lieber Herr«, sagte Christoph, »würde ich dich an ihm halten wie mein Urahn, als er den Herrn die Treppe hinunterführte.«
»Man braucht nicht immer einen Gürtel, um gehalten zu werden, Christoph«, erwiderte der Freiherr.
Die Birken auf dem Moor hatten schon einen goldenen Schimmer, als Amadeus auf der Schwelle des Schafstalles saß. Der Rauch über den Hütten stand still in der unbewegten Luft. Sie hatten einen Ziehbrunnen gebaut, und der schwere, geneigte Balken ragte dunkel in den Abendhimmel.
»Ich will hier nicht mehr fortgehen, Christoph«, sagte der Freiherr leise …
Erst nach den Stürmen der Tag- und Nachtgleiche erwachte die »junge Frau« aus der tiefen Dunkelheit ihres Fiebers, und für niemanden, der sie sah, gab es einen Zweifel, daß sie verstörten Sinnes war. Sie ging umher und sprach. Sie sprach sogar viel mehr als früher. Sie lächelte auch, aber auf eine Weise, die die meisten erschreckte, weil das Lächeln aus einer verstörten Tiefe kam. Ihr Gesicht war ganz verändert. Es hatte nicht nur die abwesende und fast hellsichtige Ferne eines Mädchens, das Mutter geworden war. Es war ein Gesicht, das in den Anblick von etwas versunken schien, das niemand sehen konnte, aber das immer da war. Und es mußte etwas so Leuchtendes sein, daß es das ganze Gesicht mit seinem Widerschein erfüllte.
Sie erkannte jeden, der zu ihr kam, und sie sprach zu ihm, wie man zu einem Gast spricht. Aber es war, als sei die ganze Vergangenheit ausgelöscht aus ihrer Erinnerung. Als fange das Leben mit jedem Tage neu an und als sei es nur da, damit der Tag komme, an dem das Kind geboren werden würde.
Denn dieses war ihr geblieben, ja, es war ihr fast als einziges geblieben: daß sie ein Kind haben würde. Es war wie ein Wunder in sie hineingelegt worden, nach einer unbefleckten Empfängnis, und es kam niemandem in den Sinn, vor ihren der Erde entrückten Augen an einen Vater zu denken.
Wenn die Herbstsonne auf das Moor fiel, ging sie leise singend zwischen die hohen Stämme der Fichten hinein, lächelnd und ganz in sich versunken. Sie blieb stehen, um das Harz zu betrachten, das in der Wärme der Sonne aus der Rinde trat, oder um dem Schwarzspecht zuzuhören, der aus der Tiefe des Waldes rief. Dann stand sie lauschend, den Kopf geneigt, die Hände vor ihrem gesegneten Leib gefaltet, und ein lange versunkenes Lächeln, auferstehend wie aus der Kinderzeit, glitt um ihre Lippen.
Oder sie saß auf der Schwelle des Forsthauses, den Kopf an den Pfosten der Tür gelehnt, und strich mit der Hand über das weiche Haar des Hundes, der seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte. Sie arbeitete nicht, sie sorgte nicht für die Wäsche des Kindes, das sie erwartete. Sie war wie eine der Herbstblumen am Zaun der Försterei, die niemand gesät hatte und die niemand pflegte. Sie wußte nichts von ihren Wurzeln, die in der Tiefe waren, und von der Sonne, die sie beschien. Sie brauchte auch nichts von ihnen zu wissen, weil sie ohne ihr Wissen da waren, die Erde, das Tier, die Sonne.
Als man ihr erzählte, daß der Freiherr Amadeus gesund sei und wieder im Schafstall lebe, hob sie lauschend den Kopf, als habe nicht die Mutter, sondern eine ferne Stimme es ihr erzählt. »Amadeus?« fragte sie leise. »Wer ist Amadeus?«
Dann stand sie auf und ging in ihre Kammer.
Die Förstersfrau war die erste, die zu Amadeus ging. Sie saß in ihrem schwarzen Tuch vor dem Feuer und weinte. Sie sah aus, als wäre sie aus den tiefen Wäldern gekommen, wo sie ihre Kinder begraben hätte, alle ihre Kinder, ja, als brauchte jemand, der ein Bild des Volkes hätte malen wollen, dem sie angehörte, nur sie zu malen, wie sie hier vor dem kleinen Feuer saß, dunkel, verhüllt, ohne Worte, nur daß die Tränen lautlos aus ihren Augen rannen.
»In der ersten Zeit, Herr Baron«, sagte sie endlich, »als sie das große Fieber hatte, sprach sie die ganze Nacht. Worte, und ich verstand sie nicht. Namen, und ich kannte sie nicht. Sie sprach schnell, so schnell, als triebe man sie mit Peitschen. Und sie hatte Angst, sie hatte so schrecklich Angst …
Und ich war eine Fremde für sie, Herr Baron, eine ganz Fremde. Sie wußte nicht mehr, daß sie eine Mutter gehabt hatte. Sie war so, als ob kein Weib sie geboren hätte.
Und dann sang sie, Herr Baron. Die beiden ersten Wochen sang sie. Schrecklicheres kann es auf dieser Erde nicht mehr geben für mich, Herr Baron. Sie hatte die Augen auf, ganz groß auf, und sie zitterte vor Angst. Aber sie lächelte, während sie sang. Sie lächelte auf eine schreckliche Weise.«
»Was sang sie?« fragte der Freiherr leise.
Die Frau sah sich einmal um, als stehe jemand hinter ihr, und dann sang sie die Verse leise in das Feuer hinein. Ihre Augen waren so weit geöffnet, und sie zitterte so, als ob es die Tochter wäre, die dort saß und sang, und nicht sie selbst. Es war eine eintönige Melodie, wie Kinder sie vor sich hin singen, wenn sie ganz allein sind.
Schlafe, schlafe süß, mein Kind,
dein Vater dreht sich leis im Wind,
er hängt über unserem Garten.
Die Vögel sitzen rings herum,
sie sitzen still, sie sitzen stumm,
sie warten, sie warten …
Schlafe, schlafe süß, mein Kind,
weil es Gottes Vögel sind,
er hat es ihnen versprochen.
Sie nehmen seine Augen fort,
sie sprechen nicht ein einz'ges Wort,
die Augen sind gebrochen …
Es fröstelte den Freiherrn, und er hob abwehrend die Hand. Aber die Frau sah es nicht. Sie sang so, als könnten die Flammen des Herdes die Worte verbrennen und auslöschen und dann würden sie nicht mehr da sein.
Schlafe, schlafe süß, mein Kind,
wenn die Vögel geflogen sind,
bist du blind, bist du blind,
schlafe, schlafe süß, mein Kind …
Endlich schwieg die Frau. Sie zog das Tuch dichter um sich zusammen, als friere sie vor dem Feuer. Die Tür des Schafstalles war geöffnet, und sie hörten beide den Nachtvogel rufen, der über dem Moor kreiste. Es war, als hätte er das Lied aufgefangen und trage es nun über die schlafende Erde.
»Und dann hat sie es nicht mehr gesungen?« fragte der Freiherr leise.
»Nein, dann nicht mehr«, erwiderte die Frau. »Und nun ist sie fröhlich.«
»Sie wird kommen«, sagte der Freiherr nach einer Weile. »Gehen Sie nun ruhig. Sie wird kommen.«
Die Frau stand auf, und er brachte sie bis zur Schwelle. Der Vogel rief immer noch, ferner nun als vorher, und sie blieb noch einen Augenblick stehen, um zu lauschen. »Wenn Sie ein Kind hätten, Herr Baron«, sagte sie, »und Sie hörten es dort rufen, so würden Sie sich aufmachen, um es zu suchen. Aber wohin soll ich mich aufmachen?«
Sie fröstelte in der Nachtluft, und dann glitt sie wie ein Schatten davon.
Niemand hatte das Kommende geahnt, und wieder war Christoph der einzige, der es vor dem Freiherrn erfuhr. Er saß nun oft bei der jungen Frau, wenn er am Abend aus dem Schloß zurückgekehrt war, auf der warmen Schwelle des Forsthauses, er und der Hund. Sie wußte nicht mehr, daß er sie einmal die Treppe hinaufgetragen und in der Kammer verwahrt hatte. Vielleicht war er nun für sie, was für die Kinder der gute Riese im Märchen ist, und sie liebte es, mit der Hand leise über sein weißes Haar zu streicheln, das der Abendwind bewegte. Es war für sie ebenso weich und vertraut wie das Haar des Hundes.
Sie sagte es nicht deutlich, wie es überhaupt keine Deutlichkeit in ihren Aussagen gab. Es schwebte alles wie über einer dunklen Tiefe, und wie dort gab es immer ein Bild und ein Spiegelbild.
Aber er verstand sie doch, und er nickte zu dem, was sie sagte. Es war eine solche Glückseligkeit in ihrem Lächeln, daß er nicht anders konnte, obwohl es ihn erschreckte. Und er fühlte in seiner einfachen Vorstellungswelt, daß es sie zerstören würde, wenn er nicht nickte. Aber nachdem sie die Treppe hinaufgestiegen war, ging er noch zum Schafstall. Er ging ganz langsam, in Gedanken verloren, aber als er über die Schwelle trat, war sein Gesicht heiter wie immer.
Aber wie immer machte er eine Einleitung, indem er eine »Geschichte« erzählte. »Als ich Kind war, Herr«, begann er, nachdem er eine Kohle auf den Tabak in seiner Pfeife gelegt hatte, »hatten wir einen, der von sich glaubte, daß er der alte Kaiser sei. Er war aus einer Familie, in der es solche Dinge gab. Er hatte einmal den alten Kaiser gesehen, in einem Krieg, der damals war, und als seine Gedanken sich verloren, hängte er den Rest seines Sinnes an dieses Bild. Er hatte sich einen alten, blauen Uniformrock verschafft und trug sein Kinn ausrasiert wie die Majestät.
Er tat keinem etwas zuleide, und er war es zufrieden, wenn die jungen Scharwerker auf den Feldern die Mistgabel präsentierten, wenn er vorüberkam. Mehr wollte er nicht.
Aber nun hatten wir einen jungen Lehrer, dem es nicht recht war. Er war frisch vom Seminar gekommen, und er meinte, daß es in seinem Umkreis keine ›Dummheiten‹ zu geben hätte. Er nannte das so, weil er so klug war.
Und nun versuchte er, dem Mann seinen Irrglauben zu nehmen. Er wollte nicht, daß einer in einer falschen und eingebildeten Welt lebte. Zuerst fing er es ernsthaft an, mit Bildern des Kaisers, die er ihm zeigte, und als das nichts half, fing er an, sich lustig zu machen. Er verspottete den Mann, und dann verhöhnte er ihn. Und da er der Lehrer war, taten die Kinder es ihm nach.
Zuerst wurde der Mann zornig, aber davon wurde es noch schlimmer. Und dann wurde er scheu und traurig, und eines Tages ging er ins Moor und kam nicht wieder. Wahrscheinlich hat er gedacht, daß es nicht lohnte, zu leben, wenn er nicht der alte Kaiser sein durfte.«
»Weshalb erzählst du das?« fragte Amadeus.
Christoph blickte in das Feuer und nickte bekümmert vor sich hin, als hätte er die Antwort schon gegeben. »Es ist nun so, Herr«, sagte er endlich und sah den Freiherrn an, »daß sie glaubt, daß du der Vater des Kindes bist. Und sie glaubt es wie ein Evangelium.«
Eine Weile starrte der Freiherr ihn an, und einen Augenblick lang schien es, als ob er lächeln wollte. Aber nur einen Augenblick und so, daß nicht einmal Christoph es mit Sicherheit erkannte. Dann wurde sein Gesicht sehr ernst, und er zog die Augenbrauen zusammen, als hätte er mit aller Mühe etwas zu bedenken. »Du irrst dich nicht, Christoph?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Wenn man solche Dinge erzählt«, sagte er, »darf man sich nicht irren.«
Der Freiherr stand auf und ging in dem kleinen Raum auf und ab, vom Herde zur Tür und wieder zurück.
Auch wenn er seine Gedanken noch nicht zu ordnen vermochte, so fühlte er doch, daß dieses eine schwere Wandlung bedeutete. Daß dort, hinter dem Vorhang des Fiebers, etwas geschehen war, was keiner von ihnen hatte erwarten können. Und daß es für das Mädchen ein »Evangelium« war. Vielleicht würde es vergehen und sich auflösen wie alle Fieberträume. Aber vielleicht würde es bleiben, als der einzige schmale Steig über einem schauerlichen Abgrund. Und das Geringste, was er tat oder sagte, was er nicht richtig tat und nicht richtig sagte, konnte das Mädchen in das Bodenlose stürzen. Das Mädchen und das Kind.
Er blieb neben dem Herde stehen und blickte auf Christophs weißes Haar nieder. Christoph hatte die kurze Pfeife auf den Herd gelegt und die Hände zwischen den Knien gefaltet. Die Hände zitterten leise, aber er blickte den Freiherrn nicht an. Er blickte in das Feuer.
Amadeus brauchte nun nicht mehr zu fragen. Er wußte nun, weshalb Christoph die Geschichte erzählt hatte.
»Du brauchst nichts zu sagen, Herr«, sagte Christoph endlich. »Ich weiß schon, daß du es nicht bist. Aber andere werden es nicht so wissen wie ich. Vielleicht werden sie Freude daran haben, ihr zu glauben. An solchen Dingen haben die Menschen immer Freude. Es ist nun die schwerste Last, Herr, die du auf die Schultern zu nehmen hast. Schwerer vielleicht als das Lager. Spott kann die Schultern tiefer beugen als Gewalt.«
»Du sprichst, als wäre es selbstverständlich, das auf die Schultern zu nehmen, Christoph?«
Nun hob der alte Mann den Kopf und sah ihn an. »Du weißt es ebenso wie ich, Herr«, sagte er ruhig. »Oder willst du, daß sie in das Moor geht?«
»Aber einmal wird sie erwachen, Christoph.«
»Das ist nun deine Sache, Herr, daß sie fröhlich erwacht. Es ist auch unsre Sache, aber am meisten ist es die deinige. Und deshalb ist es nämlich geschehen, daß die Kugel nicht um eine halbe Handbreit tiefer gegangen ist. Das weißt du doch, lieber Herr?«
Nein, das hatte Amadeus nicht gewußt, und auch darüber dachte er nun lange nach.
Aber dann schüttelte er den Kopf. »Sie sollte vielleicht einen Arzt haben«, sagte er nach einer Weile. »Dies geht über unsre Kraft.«
Christoph machte nur eine abweisende Bewegung mit seiner Hand, als schiebe er etwas fort. »Hast du gelesen, Herr«, fragte er, »daß in der Heiligen Schrift die Besessenen von einem Arzt geheilt werden?«
Weshalb drängen sie mich in etwas hinein, was ich nicht bin? dachte Amadeus. Er spricht so, wie Wittkopp von Paulus gesprochen hat. Sie sprechen große Dinge von mir, aber ich bin eben erst aufgestanden aus dem Heidekraut.
»Es ist, wie Jakob zu dir gesagt hat, Herr«, sagte Christoph und stand auf. »Gott hat dich lieb. Das ist es.«
Aber der Freiherr hatte nun Angst, als er ein paar Tage später die »junge Frau« um die Abendzeit kommen sah. Es war eine andere Angst als die, die er unter den Wacholderbüschen verloren hatte. Es war nicht mehr die Angst um sich, und er fühlte, daß diese schwerer war als die vergangene.
Die junge Frau sah weder den Freiherrn noch den Schafstall, noch das Abendrot. Sie ging sehr langsam und blickte auf das nieder, was sie in den Händen trug. Es war ein kleines Körbchen aus Weidenruten. Es war nur zur Hälfte fertig, und sie flocht im Gehen daran. Ihr Gesicht war still, und sie lächelte vor sich hin, als spräche sie mit jemandem, der gut und freundlich neben ihr ging.
Amadeus erkannte die große Veränderung, die mit ihrem Gesicht vor sich gegangen war. Er hatte sie zum letztenmal im Heidekraut sitzen sehen, die Hände um die Knie gefaltet, und sie hatte nur zusehen wollen, wie er starb.
Sie hob ihre Augen erst, als sie vor ihm stand. Sie waren nicht erschrocken, sie waren nicht einmal verwundert. Sie waren so, als hätten sie viele Tage und Nächte mit ihm gelebt und als kehre sie eben aus dem Walde zurück, in den sie für eine halbe Stunde gegangen war. Sie waren mit einer tiefen und ganz selbstverständlichen Liebe gefüllt.
»Dort wird es für die erste Zeit schlafen«, sagte sie lächelnd und hob mit ihren Händen das Körbchen in die Höhe. »Glaubst du, daß es groß genug ist?«
Amadeus war davon überzeugt und trat zur Seite, um sie über die Schwelle zu lassen. Aber sie wollte nicht hineingehen. Ihre Augen gingen einmal durch die halbdunkle Kammer, und ihre Stirn zog sich leise zusammen, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern. Dann schüttelte sie den Kopf und ließ sich auf der Schwelle nieder. Ihre Hand wies auf den freien Platz neben sich, und Amadeus setzte sich.
Eine Weile sah sie auf das Moor hinaus, das sich langsam verdunkelte. Die Kinder sangen wieder vor den Hütten, und sie lauschte mit einem glücklichen Lächeln. Es war nichts Leeres in ihrem Gesicht, wie so oft in den Gesichtern derjenigen, die verdunkelten Gemütes waren. Es war ein ganz und gar erfülltes Gesicht. Die Welt, die es erfüllte, war nur für sie da, nicht für die anderen, aber sie gehörte ihr. Sie war eine wirkliche Welt für sie, nicht erdacht, nicht geträumt. Sie war so wirklich, wie für Amadeus das abendliche Moor wirklich war.
Sie begann wieder, die dünnen Weidenruten ineinanderzuflechten, und Amadeus schien es, als habe die Krankheit auch ihre Hände verändert. Sie waren durchsichtig geworden wie auf den alten Heiligenbildern. Es waren keine Hände mehr, die eine Fahne tragen konnten. Eine rührende Gebrechlichkeit war trotz ihrem Lächeln über sie gebreitet. Die Wehrlosigkeit eines Menschen, den man mit einer leisen Bewegung der Hand in den Abgrund stürzen kann.
Als sie fühlte, wie Amadeus sie ansah, ließ sie die Hände ruhen und lehnte ihren Kopf an den Pfosten der Tür. Und dann hob sie die linke Hand und begann, leise sein Haar zu streicheln, wie sie es mit Christoph und dem Hunde getan hatte. Vielleicht dachte sie, daß sie auf der Schwelle des Forsthauses sitze.
Amadeus empfing die Berührung, ohne sich zu bewegen. Er widerstrebte ihr nicht, so wie er nicht widerstrebt haben würde, wenn das Kind mit der »Goldenen« neben ihm gesessen hätte. Aber es war ihm seltsam und fast feierlich zumute. Er konnte sich nicht erinnern, daß seit Gritas Tode jemand sein Haar berührt hatte. Er war nun auch ohne Angst. Er fühlte, daß er nur stillzuhalten hatte, und so würde es nun wohl immer sein. Es war genug für sie, daß er stillhielt, und es kam nicht darauf an, was sie dabei dachte oder wer ihr unter seinem Bilde erschien. Sie hatte nicht Angst. Sie vertraute. Sie war so geborgen neben ihm, wie sie es wahrscheinlich niemals in ihrem Leben gewesen war. Er hätte nur dafür zu sorgen, daß sie fröhlich erwache, hatte Christoph gesagt. Das war alles.
Sie blieb so, bis es dunkelte. Ihr Arm lag auf seiner Schulter, und ihre Hand glitt immerzu auf und ab.
Erst als die Nachtvögel riefen, schauerte sie leise zusammen und ließ den Arm sinken.
»Du mußt nun nachdenken, wie es heißen soll«, sagte sie, als sie aufstand. »Ich möchte, daß es ein einfacher Name ist. Ganz einfach.«
Er versprach, darüber nachzudenken.
Er wollte sie zurückbegleiten, aber sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir niemand etwas«, sagte sie.
Und dann legte sie den linken Arm um seine Schulter, hob sich auf die Fußspitzen und küßte ihn. Ihre Lippen waren kühl, und es schien Amadeus, als dufteten sie nach einer herbstlichen Frucht. Nach Brombeeren etwa, die den ganzen Tag in der Sonne gereift waren.
Er hörte ihre Schritte verklingen, leise und schwerelos, wie die Schritte eines scheuen Tieres, und er blieb noch eine Weile dort stehen, wo er beim Abschied gestanden hatte. Es war ihm, als hätte eine unwirkliche Welt ihn für eine Weile umgeben und er müsse nun langsam erwachen. Als wäre er für eine Weile ein anderer gewesen, nicht er selbst, eine Traumgestalt, aber es war nun keine Angst mehr in diesem Traum. Es war nur schwer, gleichsam doppelt zu sein, nicht mehr einfach. So, als müßte man sich für eine Weile aufgeben und das sein, was ein anderer wollte. Kein Schauspieler, aber ein Schattenbild etwa, das über einen Vorhang glitt.
Aber dann hörte auch das auf, daß es ihm schwer erschien. Sie kam nun jeden Abend, wie ein Kind vor dem Schlafengehen kommt, um ein Märchen zu hören. Als es kälter wurde, saß sie bei ihm vor dem Feuer, auf ein paar Kissen, die sie so zurechtrückte, daß sie den Kopf an seine Knie lehnen konnte. Als der kleine Korb fertig war, brachte sie eine andere Arbeit mit oder vielmehr ein anderes Spielzeug. Aber wenn sie sich eine Weile damit beschäftigt hatte, ließ sie es fallen, faltete die Hände um die Knie und blickte in die Flammen des Herdes.
Es war so viel Frieden um sie, daß er nicht nur sie, sondern auch Amadeus einhüllte. Ja, es war fast eine Art von Zauber, der über ihn fiel, weil auch er für eine Weile vergessen konnte, was gewesen war. Den »Dunklen«, und wie sie bei den Wacholderbüschen ebenso gesessen hatte, die Hände um die Knie gefaltet. Nur daß ihre Augen nicht in das Feuer gerichtet gewesen waren, sondern in sein Gesicht.
Und jedesmal, wenn sie aufstand, erhob sie sich auf ihre Fußspitzen und küßte ihn.
Es beunruhigte ihn nicht mehr, ob die Menschen es wußten und ob sie darüber lächeln würden. Es beunruhigte ihn nur, auf welche Weise sie einmal erwachen würde und daß sie doch nach Christophs Meinung »fröhlich« erwachen sollte.
Einmal, als er verspätet vom Moor heimkam, fand er sie neben dem Cello stehen, wie sie mit den Fingern ganz leise die Saiten berührte. Sie hatte den Kopf geneigt, so daß ihr Haar über ihr Gesicht fiel, und sie lauschte mit einem abwesenden und fast verklärten Ausdruck den leisen, verwehenden Tönen. Es schien ihm, als lauschte sie dem Herzschlag ihres Kindes, aber er sah auch, daß es ihr wohltat. Ja, daß es sie mit etwas Neuem erfüllte, das bisher nicht dagewesen war.
Er wußte nicht, ob es richtig war, aber nach einer Weile stand er doch auf, setzte sich hinter dem Herde in den Schatten des Balkens, in dem sie bei dem letzten Weihnachtsabend gesessen hatte, und begann, den Bogen ganz behutsam über die Saiten zu führen.
Auch für ihn war es etwas Neues, das lange Jahre nicht dagewesen war, und es ergriff ihn so, daß er für eine Weile das andere vergaß. Er hörte den Tönen und Doppelgriffen zu, als hätten seine Hände nichts mit ihnen zu tun. Als sei es nur die makellose Reinheit des Holzes, die zu sprechen begänne, wie ein Wald unter dem Wind zu sprechen beginnt. Als sei doch etwas übriggeblieben in dem Dunkel der Jahre, was nicht hatte zerstört werden können. Die Melodie, als eines der größten Wunder dieser Erde.
Und erst als er wieder in das junge Gesicht blickte, das vom Schein der Flammen erhellt war, entsann er sich, daß er nicht für sich allein spielte. Es war keine Unruhe oder Neugier in diesem Gesicht, nur eine Art von glückseliger Verklärtheit, wie Kindergesichter sie vor einer alten Spieluhr zeigen können. Die Augen folgten den Bewegungen seiner Hände, aber sie nahmen sie gleichsam nicht auf. Sie nahmen nur die Töne auf, die unter diesen Händen entstanden, und es waren die Töne, die ihr Gesicht verwandelten.
Amadeus suchte nach dem Einfachsten, das er in seinem Gedächtnis finden konnte. Es waren die Lieder, die Grita gesungen hatte, und das Kirchenlied, das die Förstersfrau an dieser Stelle gesprochen hatte. Er führte den Bogen immer behutsamer, und endlich ließ er die Melodie ersterben wie den Hauch eines Windes, der sich in einem großen Walde verliert.
Barbara sagte nichts. Sie legte nur den Kopf an seine Knie, als er wieder vor dem Feuer saß, und nun war es Amadeus, der zum erstenmal leise über ihr Haar strich. Es war ihm plötzlich angst geworden, daß sie sich bei diesen Tönen des Liedes erinnern könnte, das sie hinter der Fieberwand gesungen hatte, und er glitt mit der Hand über ihr Haar, damit sie sich nicht erinnerte.
Von da ab spielte er jeden Abend.
Wenn sie gegangen war, saß er noch eine Weile vor dem Feuer und grübelte. Er wußte nicht viel von den Krankheiten der Seele, und seine Gedanken gingen immer zu dem Abend zurück, als er im Heidekraut gelegen und sie ihm zugesehen hatte. Dort mußte die Wurzel liegen. Vieles mochte vorhergegangen sein, aber dort war das Entscheidende geschehen, und das Fieber war nur eine Folge der Entscheidung gewesen. Und es kam darauf an, diese Entscheidung hinüberzuretten in den Augenblick, in dem sie erwachen würde. Man konnte auf die Dauer nicht in einem Irrtum oder einer Täuschung leben. Einmal mußte der Vorhang zerreißen, und dann mußte es sich zeigen, ob er, Amadeus, stärker war als die dunklen Mächte. Ob sie die Wange an seinen Knien lassen würde oder ob sie das Gesicht aufheben und ihn mit dem alten Blick des Hasses ansehen würde.
Und dies allein begriff er mit aller Klarheit: ob er sie in diesen Monaten der Verdunkelung, in denen sie getäuscht werden konnte, so durchtränken könnte mit seinem Wesen, daß sie beim Erwachen sich nicht mehr als eine Getäuschte fühlte. Daß die Welt ihr nicht gespalten erschiene und sie sich nicht zu entscheiden hätte, in welche sie den Fuß zu setzen hätte; sondern daß sie eine Welt war, in der man beim Erwachen so geborgen leben konnte wie in der vorgetäuschten Welt. In der es nicht mehr darauf ankam, wer der Vater des Kindes war, sondern nur darauf, wer als ein Vater über diesem Kind gewacht hatte. Nicht wer dem Kinde das Leben gegeben hatte, sondern wer es am Leben erhalten hatte, an einem Leben ohne Haß, Blindheit und Tod.
Aber wie er das machen sollte, wußte der Freiherr Amadeus nicht. Nur daß es dazu der »Geduld der Heiligen« bedurfte, kam ihm manchmal in den Sinn, und zum erstenmal erkannte er wohl auch, was für ein großer Sinn in diesem einfachen Wort lag. Nur das erkannte er nicht, daß er schon lange aufgehört hatte, »für sich« zu leben. Wie jedermann damit aufhört, der für das Heil eines anderen Herzens lebt.
Er wußte nicht, ob die Brüder oder die Leute am Moor von diesem allen wußten. Es kam ihm nur so vor, als wären sie von einer besonderen Behutsamkeit mit ihm. Aber das waren sie seit seiner Rückkehr immer gewesen.
Und nur der Pfarrer war der einzige, mit dem er darüber sprach. Der Pfarrer jedenfalls wußte es, denn er machte nur eine abwehrende Bewegung mit der Hand, als er es ihm erzählen wollte.
»Haben Sie einmal darüber nachgedacht, Herr Baron«, fragte Wittkopp und stützte den Kopf in beide Hände, »daß es dort vor sich gegangen ist, wo der andere gelegen hat? An derselben Stelle und gleichsam in derselben Haltung vorgegangen? Und daß es nur eines leisen Bruches in der Kette der Gedanken und Schlüsse bedurft hat, um eine Vertauschung vorzunehmen? Eine Art von Stellvertretung? Daß sich das zweite Bild über das erste gelegt hat, so genau und so kongruent, daß das erste verdeckt worden ist? Ja, daß es verschwunden und ausgelöscht worden ist? So habe ich es mir gedacht. Der Gesunde erkennt das erste Bild noch immer unter dem zweiten. Er weiß wenigstens, daß es da ist, auch wenn er es nicht sieht. Aber der Kranke weiß es nicht mehr. Für ihn gilt immer nur das letzte Bild, weil er eben nur in Bildern lebt. Und daß sie krank war, schon damals, daran ist nun kein Zweifel.
Aber was Ihnen zugedacht worden ist, Herr Baron, das ist nicht dieses. Der Anfang oder der Ursprung. Das ist etwas für die Ärzte, ein Fall oder ein Phänomen. Ihnen ist zugedacht worden, daß Sie ein Menschenbild zuzudecken haben, so ganz und gar, daß auch nicht das kleinste Stück der Umrißlinie dieses Bildes sichtbar ist für die verstörten Augen. Sie haben den ›Dunklen‹ auszulöschen, Herr Baron, verstehen Sie? Aus der Erinnerung und aus der Gegenwart so auszulöschen, daß auch die Zukunft ihn nicht mehr erwecken kann. Daß sie Bild und Namen wieder heraufsteigen lassen kann, aber nicht mehr seine Bedeutung, nicht mehr sein Wesen.
Sie sind an seine Stelle getreten. Nicht nur wie Sie die Schüsse empfingen und dalagen. Sondern auch in dem, was das Kind angeht. Sie haben den ›Dunklen‹ gleichsam aufgesogen in sich. Sie haben das Böse aufgesogen. Aber wenn Sie sich zur Wehr setzen, fällt alles wieder auseinander. Der Dunkle ist wieder da, das Böse ist wieder da, das Heillose ist wieder da. Verstehen Sie, wozu Gott Sie auserwählt hat? Ich möchte so gern, daß Sie es verstehen. Sie brauchen es nicht Gott zu nennen, aber Sie müssen wissen, daß, was Ihnen auferlegt worden ist, so schön ist, daß ich selbst es nur ›Gott‹ nennen kann. Weil es über alle Menschenerfindung hinausgeht.«
»So meinen Sie es also?« fragte der Freiherr und sah ihn lange an.
»Ja, so meine ich es, Herr Baron. Und ich weiß auch, daß Sie der einzige im ganzen Umkreis sind, dem man es auferlegen konnte. Weil Sie der einzige unter uns sind, der zu den letzten Dingen kommen kann. Aber Sie sollten auch erkennen, daß es nicht Großmut sein darf. Sie sollen erkennen, wieviel Sie der Armen dafür schuldig sind, daß Sie zu den letzten Dingen kommen. Ohne sie würden Sie vielleicht nicht dazu gekommen sein. Wir bedürfen nämlich des Bösen, um gut zu werden. Wußten Sie das schon?«
Nein, das hatte Amadeus nicht gewußt.
»Als Sie dort standen, auf dem Moor«, sagte er nach einer Weile, »auf Ihren Spaten gestützt, und das Kirchenlied vor sich hin sangen, habe ich zum ersten Male gewußt, wie schön das Leben sein kann, wenn der Mensch seinen Frieden macht mit der Zeit. Mit dem Guten und Traurigen der Zeit …, vielleicht weiß ich es nun zum zweiten Male, Herr Pfarrer.«
»Und ein drittes Mal werden Sie es nicht zu wissen brauchen, Herr Baron«, sagte Wittkopp und stand auf. »Weil dieses für Ihr Leben ausreichen wird. Auch wenn es hundert Jahre dauern sollte.«