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»Wird nun langsam Zeit, mein Lieber«, sagte Herr von Balk, »daß Sowirog sich für eine Weile stille verhält. Trägt einen zu bunten Rock, und dein Direktor wird sich wieder seine griechische Nase massieren, hm?«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Jons.
»Wunder, daß die Zeitungsleute noch kein Nachrichtenbüro hier aufgemacht haben. Passiert immer was in deiner Heimatmetropole. Nur gut, daß kein Kameramann dich erwischt hat, als du über dem Scherenschleifer lagst. Möchte wohl wissen, wer die Riemen an seinem Wagen durchgeschnitten hat ...«
»Glauben Sie, daß es keines von den Kindern war?«
Balk schüttelte den Kopf. »Glaube, daß sie sonst lügen wie gedruckt, aber nicht hier. Der Wagen stand bei Czwallinna im Garten. Unwahrscheinlich. Auch daß keines gewartet hat, bis er aufgewacht ist. Auch Kinder möchten gerne sehen, wie ihre Früchte fallen.«
Sie saßen in der Bibliothek am Kamin und sahen zu, wie die weiße Rinde über den Birkenklötzen sich kräuselte und verglühte.
»Wenn ›er‹ dich eingesegnet hätte, junger Mann«, sagte Balk nach einer Weile, »würdest du wahrscheinlich das Abendmahl genommen haben, wie?«
Jons nickte.
»Das erste ›Kirchenlicht‹, das ich gesehen habe in meinem Leben, Jons. Auch ein paar Pfarrer scheint der liebe Gott am Sonntag geschaffen zu haben. Was ist der Beruf, mein Freund? Nichts, gar nichts. Der Mensch, das ist die Sache. Auch wenn er Zimmermann geworden wäre, der Oberkonsistorialrat, wäre er ein großartiger Mann geworden. Universität und Examen verderben die Leute. Denken, sie seien nun fertig und auserwählt. Fehlt nur der Engel der Verkündigung, der ihnen vorausgeht.«
»Aber der Pfarrer, der Tote, meine ich, er war nicht fertig?«
»Nein, erst der Tod hat ihn fertig gemacht. Gibt viele, die darauf warten müssen. Hat zuviel gelacht in seinem Leben. Wer denkt, ist nicht zufrieden mit der Münze, die aus der staatlichen Präge kommt. Er will Gold, und das Gold liegt tief im Bergwerk. Gefährlich, in den dunklen Schacht zu steigen, Jons.«
»Ist nicht alles Leben gefährlich, Herr von Balk?«
»Eine große Weisheit, mein Freund. Aber die meisten Leute denken, Gefahr kommt nur von Straßenräubern. Eine sehr ungefährliche Gefahr, die in einem Messer oder einer Pistole liegt. Aber die ›Weltbeweger‹ zum Beispiel! Ein gefährlicher Beruf, Jons.«
»Weil alle gegen sie sind?«
»O nein. Es sind nicht einmal alle gegen sie. Aber es gibt Leute, die ihr Leben lang ein Sieb schütteln, um die Spreu vom Weizen zu sondern, und wenn sie fertig sind, sehen sie, daß gar kein Weizen da war. Ein gefährlicher Augenblick, Jons. Man bringt nicht gern siebzig Jahre damit zu, Spreu zu sieben. Man hätte sie auch zusammenfegen oder die Türe aufmachen können, damit der Wind sie nimmt.«
»Aber es gibt doch Weizen, Herr von Balk?«
»Gibt es? Nun, wollen es hoffen, Jons, wollen es hoffen. Wenn ich über die Felder reite, denke ich auch manchmal, daß es ihn gibt. Aber vielleicht ist der andere Weizen unser Unglück, der übertragene sozusagen. Spekuliere nicht, Jons, hörst du? Spekuliere nicht! Auch der Pfarrer hat spekuliert, und das Sieb war leer. Du weißt noch nicht, was für ein Wohltäter dieser Scherenschleifer war ... wir erkennen sie immer zu spät, unsre Wohltäter.«
Balk hatte Recht damit gehabt, daß der Direktor seine Nase reiben würde. Es kam nicht oft vor, daß ein Schüler seines Gymnasiums als Zeuge vor Gericht zu erscheinen hatte. Und es war eine rohe, blutige Sache, die verhandelt wurde, ganz ungriechisch nach seiner Meinung.
Old Firehand und die anderen Mitpensionäre nahmen es von einer anderen Seite. Es gebe da einen Griff um die Kehle, sagte Old Firehand, der sofort tödlich wirke. Müsse nachlesen darüber. Wisse nicht genau, ob es in den »Schluchten des Balkan« oder im »Winnetou« vorkomme. Aber habe sich wieder ordentlich gehalten, der junge Mann, wenn er auch etwas zu spät gekommen sei. Nun, es könne nicht jeder einen Henrystutzen bei sich tragen. Und er klopfte ihn auf die Schulter und sah ihn voller Neid zur Gerichtsverhandlung fahren.
Auch war in den Osterferien ans Licht gekommen, daß eine Jeromintochter einen Grafen geheiratet hatte. Einer von den jungen Adligen, um deren Seelenheil der Direktor so gebangt hatte, war bei Verwandten in der Reichshauptstadt gewesen, und auf einer Abendgesellschaft war eine Gräfin gewesen, deren Ähnlichkeit mit Jons ihm sofort aufgefallen war. Er hatte gefragt, und es war kein Zweifel möglich gewesen. Sie habe eine Bar gehabt oder so etwas, aber sie sei fabelhaft, einfach fabelhaft.
Das Gerücht drang bis in die Amtszimmer, und der Direktor war so verblüfft, als hätte Jons sich als ein Nachkomme des Menelaos erwiesen. »Nur gut, lieber Kollege«, sagte er zu seinem Vertrauten, »daß er in zwei Jahren fertig ist. Eine unheimliche Familie das. Sehr unheimlich ...«
»Ein tüchtiges Mädchen, Mönchlein«, sagte Jumbo. »Aber es wäre mir doch lieber gewesen, sie hätte einen Bauern bekommen statt eines Grafen. Denke nicht, daß er ›ohne Furcht und Tadel‹ sein wird.«
Nein, Jons dachte es auch nicht. Vielleicht ohne Furcht, aber ohne Tadel sicherlich nicht.
Zu Pfingsten heiratete Maria Jeromin den jungen Lehrer Martin, der »das Täubchen« hieß, und zog zu ihm ins Schulhaus. »Ich tue es nur auf Probe«, sagte sie, »und wenn du zu kindisch bist, gehe ich wieder an den Meiler. Wir sind alles ernste Leute, und wahrscheinlich war es eine große Dummheit von mir, Hans den Träumer zu heiraten.«
Frau Marthe hatte der Werbung mit steinernem Gesicht zugehört. »Es hat mich noch niemals einer um seinen Segen gebeten«, hatte sie dann gesagt, »und ich weiß nicht, wie man das macht. Ich weiß nicht einmal, was Segen ist. An diesem Hause ist er wahrscheinlich vorübergegangen.«
Maria war bedrückt gewesen, aber Martin hatte mit einer großen Handbewegung gesagt, daß sie es ihr noch zeigen würden, was ein Segen sei.
Jakob war verwundert gewesen, als habe er nicht mehr erwartet, daß die Welt an seinem Hause noch irgendeinen Anteil nehmen werde. »Du wirst wieder allein sein, Vater«, hatte Maria traurig gesagt, aber er hatte den Kopf geschüttelt. »Allein, Kind? Ach nein, die Toten sind ja da ...« Und seine stillen Augen waren vom Meiler zum Wald gegangen, als ständen sie dort hinter den sonnenbeglänzten Stämmen, freundliche Schatten, die nur darauf warteten, daß die beiden jungen Menschenkinder dem Wald wieder den Rücken kehrten.
Martin hatte sich noch ein paarmal umgedreht, bis Maria mit leisem Spott gesagt hatte, daß die Toten nicht auf das Feld kämen. Sie blieben im Walde bis zur Nacht, sagte sie, und dann erst gingen sie auf das Feld ins Dorf, um zu sehen, ob irgendwo eine Schule stände. Auf Schulen hätten sie es besonders abgesehen, weil sie dort am meisten gequält worden seien. Durch Strenge und durch Unverstand.
Aber das Dorf sah die beiden gern die Straße entlanggehen, und sie meinten, daß Maria wie seine Mutter aussehe. Er werde noch lange brauchen, um den Jeromins das Wasser zu reichen. Doch war es freundlich gesagt, und das Dorf sah in dieser Heirat das Ende aller schweren Tage und den Anfang einer besseren Zeit. Nach soviel Sterben und Gewalttat schien es, als habe Gott einen neuen Bund mit ihnen geschlossen und als werde er jetzt darangehen, den Bogen des Friedens über ihren Dächern auszuspannen. Viele Dörfer dachten das damals.
Die Ernte stand auf dem Halm, eine reiche Ernte, ohne Dürre und Hagelschlag gewachsen. Der kleine Tod war nicht wiedergekommen, der Scherenschleifer war für immer hinter den Gittern, sein Wagen war fort, sogar die Eisenstange hatten sie mitgenommen. Am Abend kamen die Kinder aus den Wäldern heim, die kleinen Körbe und Töpfe mit roten und blauen Beeren gefüllt. Sie brachten Moos, Zapfen und seltene Blumen mit und legten sie auf des Pfarrers Grab. Piontek sah sie vorüberziehen und gab ihnen von den gelben Pilzen ab, die er in der Asche seines kleinen Feuers briet. »Der Mond wird sich verfinstern«, sagte er, »im Kalender steht es geschrieben. Bleibt nicht zu lange im Walde, daß die Nebelfrauen euch nicht greifen.« Er war klein und gebeugt geworden, mit großen Augen, die manchmal lange über das flimmernde Moor starren konnten, und oft antwortete er nicht, wenn sie ihn etwas fragten, sondern stand still an seinem Stabe, den Kopf zur Seite geneigt, als höre er den Werwolf hinter den Wäldern heulen. Seit Michaels Tod war er verwandelt, und oft sagte er, daß der Tote ein König des Dorfes geworden wäre.
Herr Stilling lebte im Zwergenhaus, und man sah ihn oft bei seinen Bienenvölkern sitzen. Er war alt geworden, und wenn er die Stimmen seiner Kinder aus den offenen Schulfenstern hörte, ein Wanderlied, zu dem der junge, glückliche Lehrer auf seiner Geige die zweite Stimme spielte, ließ er den Kopf mit den weißen Haaren sinken, und sein Leben schien ihm wie ein Traum. Nein, er wisse nichts von dem Mantel, sagte er geduldig, wenn die strenge Schwester ihn von neuem fragte. Wahrscheinlich sei er beim Umzug unter die Räder gekommen und in der Nacht hätten die wilden Gänse ihn geholt, um ihr Nest damit zu füttern. »Du weißt es«, sagte sie mißtrauisch und schob ihre Brille auf die Stirn, um ihn genauer ansehen zu können. Aber er schüttelte den Kopf. »Wer eines getreuen Herzens ist, verbirget dasselbe«, sagte er.
Erdmuthens Kind war Jons getauft worden, und sie lebten nun wieder in der »Armen Sünde«, Mutter und Sohn. Kein Gesicht stand hinter den Bäumen, der Webstuhl ging, die Kiebitze klagten über den Torflöchern. Ab und zu kam der Schulze vorbei, saß auf der Bank neben der Tür und hielt den kleinen Jons auf den Knien. Sein Gesicht war noch unbewegter geworden, und in den Nächten wachte er auf und rief im Halbschlaf nach Michael.
Die Männer gingen mit der Sonne zur Waldarbeit, die Frauen wuschen ihre Wäsche am See. Der Großvater lebte wieder auf der Insel, die dunkle Frau war verschollen, und nur die große Bibel war dageblieben, mit den roten Flecken auf den vergilbten Blättern. Christean schnitzte an seinem Engel, und noch einmal sagten die Leute, daß er des toten Pfarrers Gesichtszüge trage. Frau Marthe ging durch Haus und Dorf wie sonst, schwarz gekleidet, aufrecht, ohne einen grauen Faden in ihrem Haar. Aber sie saß nun immer öfter in der Kammer, die so still geworden war. Die Betten waren noch immer da, aber sie standen wie Särge an den Wänden. Spielzeug stand auf den Wandbrettern, und mitunter nahm sie eines in die Hand, ein kleines Pferd, einen Wagen mit Rädern aus Garnrollen. Sie ließ die Räder schnurren und sah zu, wie ein flimmernder Schein über das helle Holz lief. Ihre Augen bekamen dann eine andere Farbe, dunkler und tiefer als sonst, und sie saß wie über einem Brunnen, aus dessen Grund ein anderes Gesicht heraufblickt, ein fremdes und doch vertrautes, aber Risse und Sprünge laufen durch das Spiegelbild, und man weiß nicht, ob es lächelt oder weint. Stand sie dann auf, waren die Knie ihr schwer, und manchmal trat sie vor den halbblinden Spiegel und blickte lange hinein. ›Spieglein, Spieglein an der Wand ...‹. Aber es sprach nicht. Hinter dem grauen Glas stand das zweite Gesicht wie hinter einem Nebel, weit, weit fort, und die Augen waren wie erloschen und von Tau gefüllt, der aus einem grauen Himmel gefallen war.
Ihr Enkelkind sah sie nie und fragte nicht nach ihm.
Jakob war am Meiler und sprach mit den Toten. Sie waren freundlich und still, und sie hörten geduldig zu, wenn er ihnen aus der Bibel las. Beide hatten die Wunde in der Brust, aber beide Gesichter waren ohne Schmerz, stille Gesichter, ohne deutliche Linien, und der Schein des Herdfeuers spiegelte sich in ihnen wie in grauem Wasser.
Auch die anderen Gesichter waren da, die noch lebten, aber ihm wie gestorben waren. Der Sohn im grauen Kleid und die Tochter mit der Grafenkrone. Auch sie hörten zu, und wenn er aufblickte von den großen Buchstaben, sah er seine Kinder an, bis ihr Bild verschwamm und nur die Balken der Hütte übrigblieben, deren Fugen mit grünem Moos gefüllt waren. Er war nicht unglücklich. Die Welt hatte sich ihm nur aufgelöst, in Bilder ohne Wichtigkeit, und durch die Bilder lief der dünne Faden Gottes, der sie zusammenhielt. Aller Sinn lag hinter der Welt. In der Welt war nichts als ein dunkles, wirres Kinderspiel, Liebe und Tod, ein bißchen Hunger und Arbeit, die die Hände wach hielt. Dann rief eine Stimme, wie der Vater nach den Kindern ruft um die Abendzeit. Das dunkle Tor tat sich auf, und leise und gehorsam gingen sie hinein.
Mußte er ab und zu zur Arbeit aufs Feld oder zum Fischen auf den See, so stand er geblendet in der hellen Welt, wo die Sonne schien und die Wälder an den Rand der Erde gerückt waren. Das Licht tat seinen Augen weh, und die Deutlichkeit der Dinge, von keinem Schatten verhüllt, machte seine Schritte unsicher, als könne er überall anstoßen und die Klarheit der Welt zerstören. Kam er am Abend wieder in seinen Wald zurück, atmete er auf, und das grüne Licht legte sich wohltuend zwischen das Draußen und ihn. Er war wie ein Fisch, der in der Tiefe versank, und oben blieb nichts als ein grünlicher oder bläulicher Schein.
Das Mädchen aus dem anderen Dorf kam oft zu ihm, räumte ihm die Hütte auf und saß dann neben ihm auf der Schwelle, strickend oder nur die Hände um die Knie gefaltet. Dann sahen sie beide auf den Rauch, der aus dem Meiler aufstieg. Eidechsen liefen über ihre Füße, und hinter ihnen schlugen die Fichtenzapfen ins Moos.
Friede lag über dem Wald. Auch Kiewitt saß auf seiner Schwelle, hatte den kleinen Amboß vor sich in einen niedrigen Holzklotz geschlagen und dengelte seine Sense. Er saß wie ein müder, gebeugter Tod vor seinem Haus, und wenn er über sein kleines Feld mit den Haferrispen und den Kartoffelblüten blickte, sah er sein weißes Pferd auf der Moorwiese stehen. Manchmal rupfte es das spärliche Gras, und manchmal hob es den alten, hageren Kopf und sah wie sein Herr in die Wälder hinein.
Vor allen Dörfern saßen sie nun so, über ihre Sensen gebückt, im ganzen Land und weithin über die Erde. Der helle, klingende Ton des Eisens hob sich weit in den Abend hinaus, verschmolz mit dem Ton aus anderen Dörfern und spannte sich weit über die Welt. Ein schneller, klingender, gleichmäßiger Ton wie der Schlag eines Herzens, und es mußte wohl das Herz der Erde sein, das so schlug.
Weit unten in einem fremden Land hatten sie einen Mann ermordet, der eine Krone tragen sollte, und seine Frau dazu. Aber überall floß Blut auf der Erde. Auch der Scherenschleifer hatte gemordet, und auch der Ermordete trug eine Krone, wie der Mann im grauen Haar gesagt hatte. Sie begruben die Toten, Gras wuchs auf ihren Hügeln, und andere Schuhe traten in ihre Fußspuren.
Jons war zu den Ferien gekommen, und als er von Jumbo Abschied genommen hatte, war dieser still vor seinen Büchern gestanden und in Gedanken mit dem Finger über die breiten und schmalen Rücken gefahren. »Rüste dich, Mönchlein«, hatte er gesagt, »rüste dich. Die Welt wird dunkel, und die Reiter brechen auf.« Aber er hatte schon oft in Rätseln gesprochen, und Jons hatte es vergessen.
Nun aber erinnerte er sich. Er fand den Herrn von Balk über einer neuen grauen Uniform, die über einen der Sessel gelegt war und vor der er nachdenklich stand, als habe er eben ein Paket bekommen und wisse nicht genau, von wem und wozu es sei. Er hatte die Hände tief in den Taschen seiner Reithose und sah Jons mit gefalteter Stirn entgegen. »Sieh da, der Weltbeweger ...«, sagte er. »Ja, nun wird sie sich bewegen, mein Freund, und du brauchst gar nichts dazu zu tun. Andre Leute haben die Hand am Hebel, und es wird ein schönes Feuerwerk werden, darauf kannst du dich verlassen.«
Der Papagei rückte unruhig in seinem Käfig hin und her, und Herr von Balk sah ihm aufmerksam zu. »Bin neugierig, womit er das neue Zeitalter begrüßen wird«, sagte er. »Schon die Römer hatten ihre Vogelorakel, nicht?«
Aber der Papagei schlug seinen Schnabel zornig in einen der hellen Drahtstäbe des Käfigs, und erst als sie auf der Terrasse waren, hörten sie ein paar heisere Laute, mit denen er seine Stimme versuchte. »Freut euch des Lebens!« krächzte er schließlich. »Freut euch des Lebens!« Aber es klang heiser und mißmutig und entsprach wenig dem Sinn der Worte.
»Habe ich mir gedacht«, sagte Balk und verzog die Lippen. »Die beste Parole, die er sich ausdenken konnte.«
»Aber denken Sie denn ...«
»Schluß mit Denken, mein Lieber. ›Wer nie Ulan gewesen und weiß, was der sich denkt ...‹ Aber daß du mir zuerst dein Abitur machst, verstanden?« sagte er plötzlich und sah ihn böse an. »Wehe dir, wenn ich dir irgendwo begegne in einem grauen Rock und du hast dein Abitur nicht gemacht! Nur Weiber lassen ihre Kochtöpfe auf dem Herd und rennen davon.«
Auch das Dorf begann nun langsam zu begreifen. Es war eine stille, hastige Ernte, und das Bier schmeckte ihnen bitter, das sie am Abend tranken. Der Krieg war ihnen näher als den Zeitungsleuten, die darüber schrieben. »Bleibt hier, Leute«, sagte Balk, als er früh in den Sattel stieg, »hört ihr? Geht nicht fort, wenn die anderen den Kopf verlieren. Treibt das Vieh ins Moor und sagt, daß die Unsrigen es mitgenommen haben. Tut euer Schießzeug weg, wenn ihr welches habt, weit weg, und wer unter fünfzig ist, macht sich dünn. Kapiert? Komme noch nach euch sehen, wenn es soweit ist.«
Sie hörten die Hufe seines Pferdes im Sand der Straße verhallen und sahen zu, wie im Süden ein roter Schein sich über dem Walde ausbreitete. Es mußte ein fernes Feuer sein, sehr weit und sehr groß, und es stand so still am Himmel wie der Schein des aufgehenden Mondes. Aber der Mond war längst am Himmel, eine weiße, kalte Scheibe, die den See beglänzte und das Dorf, alle Wälder und alle Straßen, und alles, was sich auf ihnen bewegte, lautlos oder leise klirrend oder mit dumpfem Rollen.
Sie saßen still und sahen dem Feuer und dem Monde zu. Sie sprachen leise, wo es sein und was es bedeuten könnte, aber sie verloren nicht den Kopf. Zuviel Kriege waren über Sowirog dahingegangen, und ihr Blut mochte noch eine Erinnerung daran bewahren. Über die Dörfer brauste der Krieg zuerst. Sie lagen verstreut an der Grenze, ohne Wall und Graben, und für alle hungrigen Augen war es schön zu sehen, wenn ein Strohdach brannte. Ein roter Himmel war die Einleitung zu jedem Krieg. Der große Vorhang hob sich mit leisem Rauschen auf, die Bühne öffnete sich, ein weites, düsteres Rund, der Tod setzte sich zurecht und schlug mit dem Hammer seine Sense glatt.
Dann gingen die Männer und die Söhne fort, und von allen Kanzeln wurde Gott angerufen. Von allen, und es war, als ob viele Kinder in vielen Sprachen um das größte Kuchenstück bettelten. Dann blieben die Dörfer still und halb verlassen zurück, die Frauen banden ihre Kopftücher fester und nahmen den Pflug in die Hand, die Kinder schärften ihre Holzsäbel, und einmal, um eine Stunde, die niemand wußte, ging ein ferner Donner zum erstenmal über den Wald, ein kurzes, drohendes Grollen aus einem ehernen Mund. Dann hoben die Greise, die Frauen und Kinder die Köpfe, lauschend, mit einem blassen Schein um die Lippen. Der Himmel war wie sonst, die Wälder waren wie sonst, die Kiebitze riefen, und vom See wehte es kühl herüber. Aber die Blätter am Espenbaum rauschten hohl, und der Schatten einer weißen Wolke ging dunkel und groß über das Feld.
Der junge Pfarrer segnete die Ausziehenden und packte dann selbst einen kleinen Koffer, um mit ihnen zusammen fortzugehen. Viele gingen fort, die meisten singend, manche still, alle gehorsam. In den kleinen Dörfern wuchs die beste Saat. Der Herr von Balk hatte nicht mehr kommen können, er war schon weit fort, aber er hatte Botschaft geschickt, daß sie zum Schloß kommen sollten, wenn irgendeine Not über sie käme.
Auch Martin war da und strich seiner Frau über das Haar, aber sie lächelte still, als wenn ein Kind sie trösten wollte, und zog den Riemen seiner Handtasche fester. Schlimmere Dinge als den Krieg hatten die Jerominkinder zu tragen gehabt.
Sie gaben ihnen das Geleit, bis dahin wo die »Arme Sünde« seitab vom Wege lag. Die junge Frau stand an der Straße und sah ihnen mit stillem Gesicht entgegen. Sie hatte den Arm des kleinen Jons in der Hand und winkte mit ihm wie mit einem jungen Zweig. Aus ihren Augen war nicht abzulesen, ob sie froh oder traurig war, daß Michael nicht unter den Marschierenden war.
Dann verlor sich die Straße im Walde, und sie blieben zurück. Staub stand zwischen den beglänzten Stämmen auf und sank wieder auf das Moos. Die Kirchenglocken, die geläutet hatten, verstummten. Das Dorf sah ihnen leer und fremd entgegen. Am Tor des Schulzen hingen die großen roten Plakate.
Ein paar Abende später kam eine Dragonerpatrouille durchs Dorf. Sie waren verstaubt und schweigsam, und wenn man sie fragte, zuckten sie die Achseln. Aber sie ritten nach Norden weiter und nicht dahin, woher sie gekommen waren. Große Feuer standen nun jede Nacht über den Wäldern, und einmal, wie Piontek gesagt hatte, verfinsterte sich der Mond. Die riesige kupferne Scheibe hing drohend über dem südöstlichen Wald, ein ehernes Rad, das lautlos himmelauf rollte, und alle Bewohner von Sowirog standen am Seeufer und blickten schweigend in das gespenstische Licht, das Tod und Untergang verkündete.
Dann, eines Morgens, kamen die ersten Flüchtlinge durchs Dorf, Wagen, mit Hausrat beladen, Vieh, das müde und stumpf sich an den Wegrändern drängte. Ja, sie seien nun da, und hinter ihnen her. Die Ämter seien fort, die Behörden, die Eisenbahnen, und man erzähle, daß unter einer Lanze zu sterben ein schwerer Tod sei. Nicht schwerer als unter vollen Hosen, sagte Gogun fröhlich, und dann fuhren sie mit bösen Gesichtern weiter.
Am Abend trieben sie das Vieh ins Moor und bauten eine Schilfhütte für die jungen Mädchen und Frauen. Es war ihnen wie eine dunkle Erinnerung, daß der Krieg nicht nur nach Männern ziele.
Am gleichen Abend verlangte Jakob, daß Jons in die Stadt zurückkehre. Der gediente Landsturm war einberufen, und bis zur Kreisstadt konnten sie denselben Weg haben. Jons verstand nicht, weshalb der Vater in den Krieg sollte und was er auf der Schule zu suchen hatte, aber er erinnerte sich an Balks Worte und packte seine Wäsche in eine kleine Rindentasche. Es war wohl nicht gut, bei solchen Zeiten mit der Holzkiste zu reisen.
Sie küßten die Mutter nicht, sie gaben ihr nur die Hand und wünschten ihr ein gesundes Leben. Sie stand am Herd, hatte den Topf aus den Ringen gehoben und blickte ins Feuer. »Ja, ja«, sagte sie, »das Leben ... das Leben ... aber ihr wißt nicht, wie gut ihr es habt.« Sie nickte dorthin, wo sie standen, aber sie wußten nicht, ob es ihnen gegolten hatte.
Christean ging ihnen bis zum Hoftor auf seinen Krücken nach. Von allen Gesichtern, die sie im Dorfe sahen, war seines das bitterste. Maria brachte sie bis zu Kiewitts Acker. Beim Vorübergehen sahen sie, daß der Meiler am Erlöschen war, und sie drehten sich immer wieder um, den dünnen, schwachen Rauch zu sehen. Nun erst glaubten sie zu wissen, daß der Krieg über ihr Dorf gekommen war.
Sie gingen dieselbe Straße entlang, die sie mit den beiden Särgen gefahren waren. Sie gingen nebeneinander und sprachen nicht. Jons hätte viel zu fragen gehabt, aber wenn er von der Seite auf den Vater sah, schwieg er. Er wußte nicht, was der Vater dachte, ob an die Zukunft oder die Vergangenheit. Seine Augen waren still auf seinen Weg gerichtet, und Jons war es, als denke er am meisten an seinen Meiler. Daß Gott Kinder gab und wieder nahm, hatte er nun in seinem Leben gelernt, aber daß er ihm sein Tagwerk nahm, hatte er noch nicht erfahren. Auch war es richtig, daß Jakobs Gedanken zu seiner stillen Waldlichtung zurückliefen. Als er den Meiler gelöscht hatte, war ihm gewesen, als lösche er sein Leben aus. Die stille Glut, die unter der Asche lebte, zu klein, um Feuer zu werden, zu groß, um zu ersterben. Ein Sinnbild der Verwandlung, wie auch sein Leben nichts anderes war. Wenn der Mensch nicht Kohle wurde, was war sein Leben nütze? Manche mochten wie eine Flamme brennen und ein Licht der Welt werden, aber für seinesgleichen war bestimmt worden, ein Übergang zu sein, Holz für andere Herde, Stufe für eine Treppe, deren Ende er nicht sah. Er besaß nicht viel mehr als zwei stille fleißige Hände, und es war ihm, als lägen sie nun in der Asche des Meilers begraben.
In der Dämmerung rasteten sie, wo der Weg den Wald verließ und in die freien Felder ging. Auch von hier sah man die Feuer am Horizont, und ab und zu lief ein leises Murren unter den Sternen entlang, und es war ihnen, als bebe die Erde kaum merklich unter ihren Händen, wenn sie sie gegen den warmen Sand stützten.
»Du mußt noch draußen bleiben, Jons«, sagte Jakob endlich, »wenigstens noch zwei Jahre. Du bist noch zu jung und wirst noch zur Zeit kommen. Man kann nicht mit sechzehn Jahren den ganzen Tag pflügen, und dieser Pflug geht sehr tief. Hörst du, Jons?«
»Ja, Vater.«
»Daß der Tod aufgestanden ist, ist nicht so schlimm. Wir beide kennen ihn. Aber der Haß wird aufstehen, und das ist schlimmer. Verschließe ihm deine Ohren, Jons. Der Haß verdirbt. Menschen und Völker, und am meisten junge Menschen. Der Tod härtet, der Haß zerbricht. Ich möchte gern, daß du übrigbleibst, Jons.«
»Du weißt, Vater, daß ich kein Pfarrer sein werde?«
Jakob nickte. »Ich weiß es längst. Auch wird hernach nicht wichtig sein, ob einer ein Pfarrer wird oder ein Richter oder ein Köhler. Nur ob hier und da ein Licht übrigbleiben wird in der Nacht, das wird wichtig sein, Jons. Die Menschen denken immer, daß sie aus dem Krieg wie aus einem Bad steigen werden, aber sie denken nicht richtig. Menschenblut ist kein Bad, Jons. Vielleicht für Tiger und Schakale, aber nicht für Menschen.«
Er schwieg eine Weile und beugte sich dann näher zu Jons. »Noch etwas wollte ich dir sagen, Jons«, begann er leise. »Wenn du wiederkommst, wohne nicht am Meiler. Wohne im Haus. Uns hat Gott gebeugt, weil wir nachgaben wie eine Weidenrute. Sie wird er zerbrechen, weil sie nicht nachgibt. Vergiß den Schlag nicht, damals. Aber denke immer, daß er dir nicht Böses, sondern Gutes getan hat. Ihr sind alle Sterne zerbrochen, nur du nicht. Verhülle dich nicht, Jons, auch wenn sie mit Steinen nach dir wirft. Eine Mutter darf viel. Als wir ausgetrieben wurden, hat Gott uns nur den Schweiß bestimmt, ihnen aber die Schmerzen. Schmerzen sind mehr als Schweiß, Jons.«
»Ja, Vater.«
Dann sprachen sie nicht mehr.
Bevor Jakob in die Kaserne ging, brachte er Jons noch zum Bahnhof. Ein Güterzug mit offenen Loren stand auf der Strecke, und er sollte in der Nacht abfahren. Wahrscheinlich würde es der letzte Zug sein. Die Loren waren mit jungen Leuten gefüllt, die man nicht in die Hände des Feindes fallen lassen wollte, und auch Jons fand seinen Platz. Der Vater reichte ihm die Hand über die Brüstung des Wagens hinauf und ging dann die Straße zur Stadt wieder hinunter.
Viele der jungen Menschen um Jons herum hatten getrunken, und es war nicht schön, ihren mißtönenden Liedern zuzuhören. Aber er hörte sie kaum. Er sah der kleiner und dunkler werdenden Gestalt nach, wie sie still und ohne Widerspruch in ein anderes, fremdes Leben hineinging, und er hörte ihre leise, scheue Stimme, wie sie zu ihm am Waldrand gesprochen hatte. »Verhülle dich nicht, Jons!«
Er wußte nicht, was sein würde, morgen oder in einem Jahr. Aber dies würde immer bei ihm bleiben: das Bild des still Davongehenden, der seinen Meiler gelöscht hatte, weil man keine Kohle mehr brauchte. Und der nun in das große Feuer hineinging, wo nicht Holz geglüht wurde, sondern Menschen.
Indes Jons durch die Nacht nach Norden fuhr und Jakob die schwarze Wachstuchmütze mit dem eisernen Kreuz auf sein graues Haar setzte, hob sich im Süden die erste Welle des Krieges auf und drang langsam über Wälder und Moore nach Sowirog vor. Die Leute von Sowirog hatten sie allein zu bestehen, ohne Rat oder Hilfe, aber das hatten sie nicht viel anders erwartet. Man hatte ihnen nie viel gegeben in ihrem Leben, man hatte meistens nur genommen. Der Landrat war fort, Korsanke war fort, die wenigen Truppen waren fort. Bald hieß es, sie sollten bleiben, bald, sie sollten gehen, und da es ihnen schließlich überlassen war, so taten sie, was ihre Vorfahren getan hatten und blieben. Auch die Kirche blieb und das Vieh, die Felder und die Gräber. Gott schickte ihnen keine Flügel, und so wollte er wohl nicht, daß sie ihre Stätte verließen. Auch drüben waren Menschen, gingen in die Kirche, pflügten ihren Acker und begruben ihre Toten. Man würde den Nacken beugen, und das war es, was Gott ihnen durch Jahrhunderte bestimmt hatte. Inzwischen droschen sie ihr Korn, und manche vergruben es im Wald. Auch war es eine Ablenkung, daß sie Czwallinna die Fensterscheiben einschlugen, weil er den Salzpreis verdoppelte. Sie taten es ruhig und ordentlich, gingen dann wieder in den Laden und bekamen das Salz zum alten Preis.
Als die ersten Lanzenreiter im Dorf erschienen, mit roten Streifen an den Hosen und kleinen, struppigen Pferden, reichten sie ihnen kalten Kaffee und wiesen mit den Händen eifrig nach Norden. Bevor sie abritten, mußte Stilling mit ihrem Führer die schmale Treppe zum Kirchenturm hinaufgehen. Dort sah der Fremde sich mißtrauisch um, blickte auch lange durch die schmalen Luken über das stille Land und ging dann wieder zu seinen Kameraden.
Aber es war nun doch wohl nicht gut, daß sie ihre Kirche auf einen Hügel gebaut hatten, denn am Abend, als die Frauen ausgehen wollten, um die Milch vom Moor zu holen, blitzte es hinter dem See auf, wo die jungen, niedrigen Wälder lagen, viermal nacheinander, und bevor der Donner über das Wasser gekommen war, standen vier hohe Staubsäulen am Fuße des Hügels, aufgewachsen wie graue Bäume, und das helle Schmettern der Explosionen lief mit bösem Klirren über alle kleinen, halbblinden Fensterscheiben des Dorfes.
Sie flohen in die Felder und sahen zu, wie die grauen und schwarzen Bäume immer dichter um ihre Kirche zusammenwuchsen, ein ganzer Wald, der zusammenfiel und immer wieder aufstand, bis plötzlich mit einem hellen, gläsernen Ton die Schindeln des Daches auseinanderbarsten und eine rötliche Wolke über dem First erschien. Das Feuer verstummte sofort, die grauen Bäume wandelten langsam über die Felder dahin, immer durchsichtiger und schmäler werdend, und nur die rote Flamme stand über dem Kirchendach und fraß sich prasselnd am Turm hinauf.
Sie erhoben sich von den Knien, auf denen sie betend gelegen hatten, und stürzten ins Dorf zurück. Sie retteten den Kelch, die Leuchter und Christeans Kruzifix, aber als die Männer mit den Pferden vor den Wasserkufen, mit Leitern und Feuerhaken den Hügel hinaufkamen, der nun von einer niedrigen Mauer eingefriedet war, stand der Großvater Michael im schmalen Tor, hielt seinen Stab waagerecht vor sich hin und legte die Hand in die Nüstern des vordersten Pferdes. »Wir sollten es brennen lassen, Michael, nicht wahr?« sagte er und sah Gogun mit seinen hellen Augen an.
Und nach einer Weile lehnte Gogun mit blassem Gesicht den Feuerhaken an die Mauer, nahm die Mütze ab und sagte: »In Gottes Namen, Leute, laßt es lieber brennen.«
Sie blieben alle so, wie sie waren, Menschen und Pferde, ohne Frage oder Widerspruch, und sahen zu, wie das Dach einstürzte, der Turm, die Glocken. Die Fenster zersprangen, und die blauen und grünen Apostel und Heiligen stürzten mit zerrissenen Gewändern in die feurige Tiefe. Ein Heer von Sternen schoß in den roten Himmel hinauf und zog eine unruhige Bahn über den See, wo er erlosch. Die Balken der Westwand neigten sich zuerst, und für eine Weile konnten sie die flammende Kanzel im Innern der Kirche sehen, mit einem glühenden Rand, über dem kleine blaue Flammen wie Kerzen standen. Später behauptete Gogun, er habe den toten Pfarrer im Feuer auf der Kanzel stehen und mit traurigen Augen auf seine Gemeinde herniederblicken sehen. Aber da niemand sonst es gesehen hatte, so meinten sie, daß es sein Gewissen gewesen sei, das ihm dieses Gesicht gezeigt hatte.
Niemand hatte während des Feuers sonderlich darauf geachtet, was die Frauen von Sowirog taten, insbesondere diejenigen, die kleine Gräber auf dem Friedhof hatten. Auch stand die kleine Fichte, die der Pfarrer gepflanzt hatte, so, daß die am westlichen Fuß des Hügels Versammelten sie nicht sehen konnten. Niemand dachte an sie außer den Müttern. Sie hatten Säcke und sogar Leinwand über sie gelegt, die sie von der Bleiche gerissen hatten, und während Michael Gogun den Pfarrer im Feuer auf der Kanzel sah, trugen die Frauen auf der anderen Seite des Hügels Eimer auf Eimer mit Wasser vom See herauf und gössen es über den jungen Baum. Die Haut ihrer Gesichter wurde straff und hart, und Funken fielen in ihr Haar und ihre Augenbrauen, aber sie gaben es nicht auf, und als der Turm mit dem Dach zusammen niederstürzte und die hunderttausend Sterne zur Ruhe gekommen waren, sahen die Männer, daß von allem Schweiß und aller Arbeit nichts übriggeblieben war als die kleine verhüllte Fichte, um die der Kreis der Frauen sich wieder schloß und von der ein weißer Rauch aufstieg wie von einem kleinen Meiler.
Da sagten sie, daß sie nicht alles verloren hätten. Was sie selbst getan hätten, sei dahin, und vielleicht sei es gut, daß es dahin sei. Aber was ihr Pfarrer getan hatte, sei bewahrt geblieben, und bis sein Baum Schatten gebe, werde wohl eine neue Kirche auf dem Hügel stehen. Und als sie wieder zu ihren Häusern zurückgingen und auf der Schwelle sich noch einmal umkehrten, sahen sie auf der Kuppe des Hügels nur einen roten Schein über der Trümmerstätte, aber abseits von ihm stand der dunkle Umriß der Fichte als das einzig Aufrechte neben allem Gestürzten, und es sah aus wie ein Mann, der in Tücher oder Mäntel gewickelt war. Da sagten sie, daß der Pfarrer dort stehe, und fortan blieb dieser Name bei der Gestalt des jungen Baumes.
Auch bedurften sie seines Trostes mehr, als sie an diesem Abend gedacht hatten. Sie hatten gemeint, wenn Gott ihnen dieses alles nehme, ihre Männer, ihre Söhne, ihre Kinder, ihren Pfarrer und ihre Kirche, so könnte es für ein armes Dorf genug sein. Sie kannten noch nicht den Sinn des Wortes, daß dem, der nichts hat, auch genommen wird, was er hat.
Es zogen nun ohne Aufhören Truppen durch ihr Dorf, solange, bis im Nordwesten das Gebrüll der Kanonen sich zu einer einzigen Donnerstimme erhob, die Tag und Nacht nicht mehr schweigen wollte. Da begann der Strom zu stocken, der nach vorwärts floß. Die gerade da waren, standen mit unruhigen oder bösen Gesichtern in der Dorfstraße, lauschten nach der grollenden Wetterwand, aber verbargen vor den Einwohnern und voreinander, daß sie lauschten. Doch war selbst den Kindern klar, daß die Wetterwand sich näherte, und es hätte nicht der endlosen Wagenreihe mit Stöhnenden und Sterbenden bedurft, um jedermann zu zeigen, daß auch die stolzeste Fahne sich neigen kann.
Und dann begann der Strom sich zu stauen und rückwärts zu fluten. Zuerst geschah es langsam und in der alten Ordnung, wenn auch mutloser und ohne die frohen oder traurigen Lieder. Aber dann zerbröckelten die Dämme, Trunkenheit, Gewalttat und Plünderung erhoben sich, und ein paar Tage später wälzte sich ein geschlagenes Heer zuchtlos und brennend durch die Wälder zurück.
Es war nicht Goguns böser Stern, der ihn an diesem Tage am Rande des Moores einer Sotnie betrunkener Kosaken begegnen ließ. Es war auch keine »ausgleichende Gerechtigkeit«. Sondern es war so, daß er seit dem Kirchenbrand keine glückliche Hand mehr hatte. Alle Goguns waren fromm, von einer einfachen und dumpfen Frömmigkeit, wie sie in jener Landschaft zu Hause war, und in dieser Frömmigkeit sahen sie mitunter Gottes herniedergereckte Hand, wo nur eine gut gerichtete Geschützmündung zu sehen gewesen wäre. Unter des alten Jeromin Augen hatte er gewußt, daß Gott ihn verdammt hatte und daß er das in einem feurigen Zeichen getan hatte. Als die Heiligen in ihren bunten Gewändern in die feurige Lohe gestürzt waren, mitsamt dem Bilde des Kranichs, das der Herr von Balk ihm zu Ehren oder zum Spott auf den Fenstern hatte malen lassen, als er die Gestalt des toten Pfarrers auf der glühenden Kanzel erblickt hatte, die traurigen Augen auf ihn und nur auf ihn gerichtet: da war ihm ein Schwert durch die Seele gegangen, und er hatte gewußt, daß dort nicht nur die Kirche verbrannte, sondern auch seine sündige Seele.
Von jener Stunde ab war er unsicher geworden, in seinem fröhlichen Lächeln, seinen flinken Schritten, seiner geschickten Hand. Und als er nun am Rande des Moores entlanggeschlichen kam, ein Haselhuhn in der Hand, das er in einer Schlinge mit Vogelbeeren gefangen hatte, war diese Unsicherheit so groß und so deutlich, daß selbst die betrunkenen Kosaken annehmen mußten, hier sei jemand auf bösen Wegen, ein Spion oder ein Verräter.
Sie riefen ihn an, aber er wich zwischen die niedrigen Birken des Moores zurück, wobei er die Beute unter dem Rock verbarg. Ein paar von ihnen hoben die Karabiner, aber der Anführer gab einen kurzen Befehl, und sie zogen sich im Halbkreis auseinander und nahmen die Lanzen zur Hand.
Gogun sah sofort, daß er verloren war. List und Klugheit hatten ihn verlassen, und er ging wild und verstört immer tiefer ins Moor hinein, obwohl er wußte, daß dies keine Stelle war, wo das ratsam erschien. Er sank bis zu den Knien ein, und trübe, stinkende Wasserblasen stiegen zwischen den Grasbüscheln auf. Er warf sich zur Seite, konnte seine Füße befreien und versuchte, einen Platz zu erreichen, wo das Gras nicht von jener tödlichen grünen Farbe war, deren Bedeutung er kannte. Aber seine Augen waren getrübt, und als er bis zum Leibe einsank, blieb er, wo er war, hob das Haselhuhn in die Höhe und begann seine Verfolger mit allem Glanz der Sprache zu verfluchen, die ihm gegeben war.
Die Reiter waren nun abgesessen, um das Gewicht ihrer Pferde zu vermindern, und vergnügten sich damit, ihre Kugeln so in das Moor zu jagen, daß der Einschlag der Geschosse den Bewegungslosen mit Wasser und Schlamm bespritzte. Sie vermieden sorgfältig ihn zu treffen, und erwiderten dabei seine Verwünschungen in ihrer Sprache.
Aber am Rande dieser homerischen Gespräche stand der Tod. Ein gerechter Tod, wie Gogun nun dachte, und als er seine Augen noch einmal zum fernen Dorfe wendete und auf dem leeren Kirchenhügel vor dem blauen Himmel nichts erblickte als einen Haufen geschwärzter Trümmer und daneben den dunklen Umriß einer Gestalt, die nicht ein junger Baum war, sondern der tote Pfarrer, der ihn mahnend ansah, verstummte er plötzlich in seinem Fluchen, ließ das Haselhuhn fallen, das er noch immer mit den Händen umklammert gehalten hatte, griff mit der rechten Hand in das Dunkle und Nasse, das ihm nun schon bis zur Brust reichte, zog aus der hinteren Tasche das feste, blanke Messer heraus, ließ es einmal vor den Augen der Feinde in der Sonne blitzen und stieß es sich mit aller Kraft in sein Herz.
Sein Kopf neigte sich, seine Arme fielen nach vorn in das schmutzige, nasse Gras, und das war das Letzte, was sie von ihm sahen, als sie die Pferde wieder wendeten und schweigend in den Wald zurückritten: Kopf und Brust und Arme eines Mannes, der so aussah, als stehe er in einer Grube und lehne sich mit den Armen auf ihren Rand, um ihnen zuzusehen, was sie auf ihren kleinen Pferden für ein seltsames Spiel spielten.
Er wurde niemals gefunden, und man hatte im Dorf nur die Schüsse gehört, aber sein jüngster Sohn, ein Kind von zwölf Jahren, stand am nächsten Tage lange Zeit bei den Spuren der Pferdehufe und starrte auf das kleine braune Bündel hin, das mitten im Moor lag und wie ein toter Vogel aussah, und auf die Patronenhülsen in den Spuren der Pferde. Nur das Kind wußte, daß der Vater Schlingen für Haselhühner ausgelegt hatte. Es war ein sehr ernstes Kind, das nach der Mutter artete, und es erzählte niemandem von dem, was es gesehen und sich gedacht hatte. Im Dorfe glaubte man, daß er erschossen oder verschleppt worden wäre, und sein Tod ging in dem Feuer unter, das über die Landschaft dahinbrauste.
Es war auch nicht des Großvaters Michael böser Stern, der ihn an diesem Abend sein kleines Feuer auf der Insel anzünden ließ. Er hatte es wie an jedem Abend getan, um seine Fischsuppe zu kochen, und solange Truppen im Dorf im Quartier gewesen waren, hatte niemand etwas dabei gefunden. Auch dem Feind war er wie ein Heiliger erschienen, wie ein Mönch aus einem ihrer Klöster, und manche hatten sich heimlich bekreuzigt, wenn er mit seinem Stab und seinen hellen Augen über die Dorfstraße gegangen war, ein Mann, vor dem die Zeit und der Krieg nur wie Regen erschienen, der an einem grauen Fenster herabfloß.
Aber an diesem Abend, als es hinter den Wäldern schon ab und zu von Geschützen aufblitzte, die nicht eigene Geschütze waren, stand das kleine Feuer über dem dunklen Wasser nicht wie ein friedlicher Stern am Rande des Himmels, sondern wie ein böses Auge, das höhnisch und zeichengebend über den Untergang eines Heeres wachte. Zuerst schrien sie nur hinüber und drohten mit der Faust, aber dann richteten sie ein paar Maschinengewehre am Rande der Straße, und die hämmernden und brüllenden Garben fuhren über das dunkle Wasser nach dem kleinen Feuer, das still in der Ferne brannte, ohne daß der Schatten eines Menschen bei ihm zu sehen gewesen wäre.
Niemand hatte sich wahrscheinlich Gedanken darüber gemacht, ob man mit einer Garbe von Geschossen ein Feuer löschen könnte, und die Gewehre verstummten, als drüben statt des kleinen Feuers eine hohe rote Flamme erschien, die aus dem Dach der Hütte steil in die Höhe stieg. Die Hütte war aus trockenem Rohr gebaut, das über alte Balken gelegt war, und man hörte über den ganzen See hinweg, wie die hohlen Stengel im Feuer zerbarsten.
Niemand wußte auch, ob ein Befehl ergangen war, Feuer an das Dorf zu legen, und ob es vielleicht nur geschehen war, damit das Feuer auf der Insel nicht zu einsam brenne. Es brannten genug Dörfer in der Runde, und es mochte vielleicht auch geboten erscheinen, die Verfolgung dadurch zu verzögern.
Zuerst erschien die Flamme über dem Jerominschen Dach und sprang dann von Haus zu Haus, eine Feuermauer, die zu beiden Seiten der Straße stand, und in deren Schein der Rest des geschlagenen Heeres in den Wäldern verschwand. Nur das Schulhaus und das Zwergenhaus blieben übrig, beide abseits und über dem Wind gelegen.
Die Nacht war schon kühl, und sie saßen neben den glühenden Balken, die gerettete Habe um sich gehäuft, ohne Klage, ohne Fluch, wie ihre Vorfahren gesessen hatten, und blickten zu dem Kirchenhügel hinauf, wo die Gestalt ihres Pfarrers einsam unter den Sternen stand.
Gina Bojar hielt die beiden Kinder, die ihr geblieben waren, mit den Armen umfaßt und blickte auf den dunklen, rauchgeschwärzten Gegenstand nieder, den sie aus der Asche ihres Hauses aufgehoben hatte. Die Oberfläche der kleinen Kugel war uneben und faltig geworden, aber ihre Augen sahen noch durch Asche und Ruß hindurch den farbigen Kranz, der einmal um die Rundung des Spielzeugs gelaufen war. »Beuge dich, junge Frau, beuge dich!« hatte die alte Frau Daida ihr damals zugerufen, und sie hatte sich gebeugt, lange schon, lange vor dem Feuer, das ihr Dach zerbrach.
Über die Dörfer an der Grenze geht die erste Welle und oft auch die letzte. Sie nimmt Männer und Knaben, Häuser und Vieh, die Ernte und die Saat. Aber sie nimmt nicht den Acker und nicht den Wald. Die Bäume stehen, aus denen man neue Häuser bauen kann, und die Erde wartet auf das neue Korn. Die Leute von Sowirog haben den Krieg nicht gemacht, und sie fühlen das Ganze nicht als eine Strafe. Sie fühlen es als Gottes schwere Hand, aber sie wissen nicht, weshalb die Hand sich gerade auf die ärmsten Leben legt. Gott hätte wohl Raum genug in der Welt, um seine Hand hinzulegen.
Sie fuhren erst am Morgen zur Insel hinüber. Von der Hütte war nur ein großer weißer Aschenhügel geblieben, wie von einem Scheiterhaufen, und sie standen scheu herum, ohne zu wagen, ihn mit ihren Händen zu bewegen. Der hier gelebt hatte, war gen Himmel gefahren in einem feurigen Wagen wie Elias, denn sein Boot lag am Ufer, und niemand konnte sich auf der Insel verbergen. Keinem von ihnen ziemte es, seinen Leib ans Licht des Tages zu ziehen. Ferne hatte er gelebt, ferne war er gestorben, und manche sagten leise, daß er gar nicht gestorben sei, sondern daß Gott ihn aufgehoben habe zu sich.
In der Nacht kamen die Männer wieder und warfen Erde auf den Aschenhügel, ein hohes Grabmal wie ein Hünengrab, sie setzten kein Kreuz in den Sand, sondern legten ein Ruder darüber, und sie beschlossen, daß niemand außerhalb des Dorfes davon wissen sollte. Sie wollten nicht, daß die Behörden davon erfuhren. Wer sich vor dem Tode nicht um sie gekümmert hatte, brauchte es auch nach dem Tode nicht zu tun. Auch war die Erde, auf der er achtzig oder neunzig oder hundert Jahre gelebt hatte, geweiht genug, und was unrein an ihr gewesen war, hatte das Feuer gereinigt.
Später erzählte Christean, ihm habe geträumt, daß der Großvater mit der alten Bibel des Pfarrers in den Händen gestorben sei und daß die bleiernen Spangen des Buches geschmolzen und einen Weg bis zu seinem Herzen sich gefressen hätten. Durch diesen Weg, der so schmal war wie der einer Nadel, sei seine Seele als ein weißer Vogel gen Himmel gefahren.
Und da die Leute von Sowirog sich erinnerten, daß eine Schar weißer Möven über dem Feuer gekreist hatte, so war ihnen Christeans Traum kein Traum, sondern die schöne und wahre Deutung eines Todes, um den Gott selbst den Schleier seiner Geheimnisse gewoben hatte.