Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV

»Ja, Mönchlein«, sagte Jumbo, »ihr seid ein dunkles Geschlecht, aber du mußt nun nicht etwa denken, daß ihr auch ein hoffnungsloses seid. Ich denke mir, daß die Schönen und die Besessenen auf dieser Erde am gefährdetsten sind. Den ersten fällt zuviel zu, was die Nichtschönen auch gern haben möchten ... siehe Friedrich ..., und die anderen haben den Sinn für den Tod verloren, weil sie nur einen einzigen Sinn haben, den nach dem, wovon sie besessen sind ... siehe Michael. Und doch sind es eigentlich nur die Besessenen, die die Welt bewegen. Nicht immer zum Guten, aber auch lange nicht immer zum Bösen.

Sieh mal, ich selbst, ich werde niemals die Welt bewegen. Ich werde viel arbeiten, und ab und zu wird mir etwas gelingen, ein gerechtes Urteil oder eine Heilung, wo andere nicht mehr haben heilen können. Aber das ist auch alles. Ich werde kein Denkmal bekommen, und kein Zeitungs- oder Kameramann wird sich die Füße staubig machen, um zu mir zu kommen und dann seine Zeitung zu beglücken: ›Dr. Jumbo beschneidet seine Rosen‹ oder ›Der große Arzt mit seinen Lieblingshunden.‹

Aber das schadet auch nichts. Jedes Volk braucht einen Haufen stiller, fleißiger Leute, von denen nicht viel die Rede ist. Aber wenn der Kaiser am Morgen aufwacht und nach der Uhr sieht, weiß er, daß um diese Zeit die stillen, fleißigen Leute schon an der Arbeit sind, Straßenkehrer, Lokomotivführer, Krankenschwestern, Gerichtsschreiber, Lehrer, Minister und Brötchenfrauen. Das Rad des Staates dreht sich schon, wenn die großen Leute, die Kanonen, sich noch auf die andere Seite drehen und nachdenken, was für Raketen sie heute über die Köpfe der stillen Leute abfeuern werden.

Auch in deinem Geschlecht sind stille Leute und Besessene. Du selbst bist noch nicht fertig, aber ich denke, daß du eine ganz schöne Menge von Raketen vorrätig hast. Aber ich denke auch, daß du keiner von denen bist, die bis zu ihrem letzten Atemzug Raketen abfeuern. Du bist kein Tolstoj zum Beispiel. Einmal, viel später, wirst du erkennen, daß man vor seinem Tode eine Weile still sein muß, und ich glaube, das werden deine besten Jahre sein. Du bist früh erweckt worden, Mönchlein, das sogenannte Schicksal hat dich gestreift, und dafür mußt du dankbar sein. Ich habe wenigstens noch nie davon gehört, daß der Blitz in einen Kohlkopf eingeschlagen hat. Es wird dich noch ein paarmal streifen, aber dann wirst du gehärtet sein. Hadre nicht mit Gott, sondern binde deinen Helm fester, wenn du siehst, daß er nach dir zielt. Wir können uns nämlich so wappnen, daß auch ein feuriges Schwert uns nichts ausmacht, verstehst du? Der richtige Mensch ist unanfechtbar, Mönchlein, unanfechtbar, hörst du? Wer seine Haut härtet, wird immer eine Stelle behalten, auf die ein Lindenblatt gefallen ist, aber wer seine Seele härtet, kann ruhig jeden Speer erwarten, auch die Speere des sogenannten Schicksals.«

»Du denkst nicht an die Boxerseele, Jumbo?«

»O nein, Mönchlein, weder an Boxer noch an Helden. Ich denke an ganz stille Leute, an Sokrates zum Beispiel oder an alle diejenigen, die dreißig oder vierzig Jahre im Kerker gelegen haben oder die lächelnd zum Scheiterhaufen oder zum Schafott gegangen sind. Und an viele andre noch. Auch an deinen Vater denke ich, Mönchlein, und auch ein bißchen an deinen Herrn von Balk. Nur nicht an deine Mutter, nein, nicht an deine Mutter. Denn zwischen Härten und Versteinerungen ist ein großer Unterschied, Mönchlein, ein sehr großer, und das darfst du nie vergessen.«

Sie saßen in Jumbos Zimmer, nach den großen Ferien, und Jumbos Koffer war schon gepackt. »Ich bleibe nicht lange«, sagte er, »höchstens acht Tage, damit der Vater mich mal sieht. Aber dann komme ich wieder und fange nun wirklich mit der Medizin an. Aus mit den sogenannten ›Rechten‹.«

Er stopfte sich eine neue Pfeife und sah den blauen Rauchwolken nach. »Es hat natürlich eine Menge in den Zeitungen gestanden, Mönchlein«, sagte er nach einer Weile. »Es war mehr als eine ›Tragödie am Meiler‹, viel mehr. Sie haben es von der ›weltanschaulichen‹ Seite genommen, und das ist eine sehr ergiebige Seite, nicht nur für Zeitungsleute. Du kannst dir denken, wie lieblich es im Blätterwalde gerauscht hat. Sogar die Staatsanwälte haben zu tun bekommen. Wo es um Militär und Polizei geht, sind alle Staatsanwälte empfindlich. Es brennt ihnen, nicht auf den Nägeln, aber unter dem Hosenboden. Aber du mußt dich nicht darum kümmern ... die ›Volksmeinung‹ ist für euch, Mönchlein, und das ist eine sehr wichtige Meinung. Übrigens ist es nicht die einzige, die für euch ist.«

Jons bekam es zu merken, nicht nur die Volksmeinung. Die drei schwarzen Schwestern flüsterten hinter ihrem Vorhang, und auch hier schien es zwei Parteien zu geben. Aber der älteste der Pensionäre, ein Gutsbesitzerssohn mit einem Schnurrbart und einer Bierstimme, schlug ihm auf die Schulter und sagte: »All right, Jeromin! Trage den Kopf hoch, mein Sohn! Sind stolz, daß wir dich hier haben. Ist immer ein Meisterschuß, zwischen die Augen. Old Firehand und so. Der Scheïtan soll ihn brennen, den Taternsohn, den verdammten, jawohl!«

In der Klasse waren sie scheu, als sei er plötzlich zehn Jahre älter geworden, aber als Charlemagne, der immer merkwürdige Einfälle hatte, anordnete, daß sie einen Vertrauensschüler wählen sollten, und ihnen den Sinn des neuen Amtes erklärte, stand der älteste von ihnen auf, ein Kapitänssohn, der im nächsten Jahre großjährig werden sollte, und sagte, daß sie keine Wahl brauchten, sondern daß Jons Ehrenreich Jeromin ihr Vertrauen besitze, und er legte eine besondere Betonung auf den zweiten seiner Vornamen.

In der großen Pause, während die Unterklassen auf dem Hof »Michael und die Gendarmen« spielten, ließ der Direktor Jons zu sich kommen.

Jons hatte nie viel von ihm gesehen und niemals Unterricht bei ihm gehabt, und er war dem kühlen Gesicht mit dem hochgebürsteten Schnurrbart möglichst aus dem Wege gegangen. Der Direktor bot ihm mit einer Handbewegung einen Stuhl an und begann dann mit seiner allen Schülern bekannten Meditationsbewegung, indem er seine gerade Nase zwischen Zeigefinger und Daumen nahm und sie sanft von oben nach unten zu streicheln anfing.

»Tja«, sagte er schließlich, »ich habe Sie rufen lassen, Jeromin, um Ihnen mein Beileid auszusprechen – was ich hiermit tue – und Ihnen zu sagen, daß die Schule natürlich nicht sehr erfreut ist, diese ... hm ... Affäre mit dem Namen eines ihrer Schüler verknüpft zu sehen. Sie wissen, daß der Adel der Provinz und die höchsten Regierungsbeamten ihre Söhne zu uns schicken, und es läßt sich natürlich der Fall denken, daß es ... hm ... Friktionen geben könnte. Ihnen selbst macht natürlich niemand einen Vorwurf, wenn auch die Sache mit dem ausgegrabenen Gewehr etwas nach Wildwest und nicht gerade nach Athen schmeckt ... tja ... wollten Sie etwas sagen?«

Nein, Jons hatte nicht die Absicht. Er saß sehr gerade auf seinem Stuhl, und unter seiner breiten, klaren Stirn blickten seine Augen mit einer verwirrenden Unbeweglichkeit in die seines Direktors.

»Ich habe überlegt, Jeromin«, fuhr dieser fort, indes eine Falte der Unbehaglichkeit zwischen seinen Augenbrauen erschien, »ob es nicht für alle Teile besser und leichter wäre, wenn Sie die Anstalt wechselten. Sie würden natürlich ein großartiges Zeugnis mitbekommen, und auch sonst würde ich alles tun, um Ihnen den Weg zu ebnen.«

»Es würde sich wahrscheinlich um eine Anstalt ohne Adel und höchste Regierungsbeamtensöhne handeln, Herr Direktor?« fragte Jons höflich.

Der Direktor sah ihn starr an, und zwei rote Flecken erschienen langsam auf seinen glatten Wangen. »Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz«, sagte er eisig. »Auch wüßte ich nicht, woher Sie das Recht nehmen, uns Motive dieser Art unterzuschieben. Wir haben natürlich keine Handhabe, Sie dazu zu zwingen, aber ich lege es Ihnen nahe, sehr nahe, wie?«

Jons sagte, daß er nicht die Absicht habe, die Anstalt zu wechseln, und da der Direktor seine Papiere auf dem Schreibtisch zu ordnen begann, machte er eine Verbeugung und ging leise hinaus.

»Das wollen wir einmal sehen, Jons«, sagte Charlemagne und warf einen Stoß Hefte auf den Teppich, daß der Kronleuchter zitterte. »Das wollen wir einmal sehen, ob er dich von der Schule herunterbringt! Solange ich lebe, nicht, und bis dahin denke ich weiß Gott noch zu leben. ›Schmeckt nicht gerade nach Athen ...‹ Aber dies schmeckt nach Athen, was? Nach dem Perikleischen Zeitalter, was?«

»Ich gehe ja nicht, Herr Professor«, sagte Jons lächelnd, »und es macht mir auch nichts aus. Und das weiß ich ja nun schon, daß es nicht immer so ist wie in Büchern und Reden.«

Aber Jumbo, als er zurückgekommen war, wurde viel deutlicher. »Ein Schwein, Jons«, sagte er, »ein richtiges Bildungsschwein des zwanzigsten Jahrhunderts. Da hast du unser Zeitalter, wie es leibt und lebt. ›Der Niedergang des humanistischen Gymnasiums‹, wird er sagen. ›Der Bruder eines Mörders neben dem Sohn des Oberpräsidenten ... tja.‹ So wird er sagen und seine humanistische Nase streicheln. Und dann wird er hingehen und mit den Oberprimanern das ›Gastmahl‹ lesen. Wirtschaft, Mönchlein, Wirtschaft, Wirtschaft!«

Auch daß der Konsistorialrat ihn beiseite nehmen würde, hatte Jons erwartet. »Mein lieber Jons Jeromin«, sagte er, und legte ihm die Hände auf die Schultern, »es hat mich erschüttert, auf das tiefste erschüttert. So viele beklagenswerte Umstände ... auf das tiefste zu beklagen. Aber sage mir eines, Jons: ist er im Herrn gestorben?«

Die milden blauen Augen waren mit einer beschwörenden Bitte in die seinigen gerichtet. »Er hat kein Wort gesprochen, Herr Konsistorialrat«, erwiderte Jons, »aber er hat gelächelt, als der Vater ihm gesagt hat, daß es ein Knabe sei.«

»Ach ja, dieser Knabe ...« Er ließ die Hände sinken und wandte sich seinem Schreibtisch zu. »Ein unglückliches Kind und eine unglückliche Mutter ... bewahre deine Seele, Jeromin, hörst du? Es kommt mir vor, als ob der böse Feind dort unten seine Schlingen auslegt bei euch.«

»Weniger als hier«, antwortete Jons.

»So ... meinst du? Das ist schwer zu sagen, Jeromin, sehr schwer ... und deine Eltern, tragen sie es nun mit Gott?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jons abweisend.

Der Konsistorialrat seufzte. »Jaja ...«, sagte er in Gedanken, »bete nur, Jeromin, hörst du? Bete viel, zu Hause in deinem Kämmerlein, dann wird es dir nicht an Trost mangeln.«

Auch die älteste der Schwestern kam am Abend zu ihm, in sein »Kämmerlein«. Sie war die freundlichste von den dreien, und mitunter hatte er sogar ein müdes, altes Lächeln um ihre schmalen Lippen gesehen. Sie saß hoch, schwarz und gerade vor seinem Schreibtisch und schob seine Hefte und Bleistifte so zurecht, daß sie lauter rechte Winkel bildeten.

»Die anderen haben gemeint, Jons«, sagte sie endlich, »daß Sie besser von hier fortgehen, weil es dem Ruf der Pension schaden könnte ...«

»Es gibt genug Pensionen«, meinte Jons von seinem Bett her.

»Nein, nein, ich habe durchgesetzt, daß Sie bleiben, Jons. Sie sind immer still und ordentlich gewesen, und Sie können ja auch nichts dafür.«

»Wofür?«

»Nun, nicht für das Unglück, und vor allen Dingen auch nicht für das andere, was so schrecklich ist ... das Unmoralische, meine ich ...«

»Das Unmoralische, ja ... aber wußten Sie, Fräulein Holstein, daß Erdmuthe eine Heilige ist?«

»Jons!«

»Aber wie sollten Sie das auch wissen? Das werden Sie erst wissen, wenn Sie einmal ein Kind zur Welt gebracht haben, ohne einen Laut von sich zu geben, und ein paar Schritte von Ihnen liegt Ihr Geliebter mit einem Schuß durch die Brust. Dann erst werden Sie wissen, was eine Heilige ist.«

Sie stand schon an der Tür. »Wenn Sie so zu mir sprechen, kann ich nicht länger mit Ihnen allein bleiben, Jons«, sagte sie errötend.

Er öffnete ihr lächelnd die Tür. »Nicht alle Jeromins sind Mörder oder unmoralisch, Fräulein Holstein«, sagte er. »Aber es ist schön, daß ich bleiben kann, und ich danke Ihnen.«

Aber als sie gegangen war, verschwand sein Lächeln. Er löschte die Lampe und setzte sich auf das Fensterbrett. Wenn er nicht geradeaus sah, sondern sich an eine Seite des Rahmens lehnte, sah er nicht die graue Mauer, sondern durch einen breiten Spalt zwischen den Häusern auf einen dunklen Garten, und darüber konnte er die Sterne sehen. Es war die Zeit der Leoniden, und eine glänzende Bahn nach der anderen schoß aus der Höhe des Firmaments in die Tiefe hinab. Er blickte ihnen nach, bis seine Augen schmerzten und sich langsam mit Tränen füllten. Es war die Stunde, in der er sich an seine Trauer hingab.

Er hatte Friedrich geliebt, wie alle ihn geliebt hatten, mit einer Liebe, in der ein ganz klein wenig Nachsicht verborgen war. Auch ihm hatte geschienen, daß die Armut allen Müßiggang verbot und daß in ihrem Geschlecht nur Christean das Recht hatte, mit gefalteten Händen in die Wolken zu sehen. Alle anderen aber hatten zu arbeiten, so wie die Eltern und Michael arbeiteten. So war in dieser Liebe immer etwas Unsicheres gewesen, eine Verzauberung, die immer wie ein leiser Druck auf dem Gewissen gelegen hatte.

Aber Michael hatte er ohne Unsicherheit und Zauber lieben können. Auch Michael war schweigsam gewesen, und man hatte wenig von ihm gewußt, aber das hatte er von ihm gewußt, daß er sein Bruder war. Lange Zeit hatte er nichts als Spott von ihm erfahren, eine Bewegung der Hand, ein Zucken seiner strengen Mundwinkel, aber schon damals hatte er gewußt, daß dies nichts als eine Verkleidung war. Keiner von ihnen war so streng gehalten worden wie Michael, und keiner hatte soviel ungebeugten Stolz in sich getragen wie er. Um ihn war die große Einsamkeit des Herzens gewesen, das zugleich stolz und liebebedürftig ist, viel größer als die des Vaters, und zum erstenmal hatte er die wahren Augen des Bruders gesehen, als er ihm den Buchfink gegeben hatte. Und dann war er neben dem Pfluge hergegangen, damals nach Friedrichs Tod, und Michael hatte die Kinderhand auf der seinigen liegen lassen.

Das war alles, was gewesen war. Zwei dürftige Erinnerungen, aber bis zum Rande mit einer tiefen, glühenden Liebe gefüllt. Und dann war die Todesstunde gewesen, in der der Blick des Sterbenden sich von der Mutter abgewendet und sich in seine Augen gesenkt hatte. »Lieber, kleiner Bruder«, hatte der Blick gesagt, »es ist so gut, daß du bei mir bist. Mache du es besser als ich, kleiner Bruder. Mache die Fenster auf und sprenge die Stuben mit reinem Wasser aus, und, wenn du ein bißchen Zeit übrig behältst, achte ein wenig auf meinen Sohn, hörst du?«

Und ihn nannten sie nun einen Mörder. Für den Direktor war er ein Feind des Staates und der Ordnung, für den Konsistorialrat ein Feind der göttlichen Gebote, und selbst für das alte schwarze Fräulein war er noch ein Feind, ein Verächter der Moral und ein Zerstörer der Tugend. Ja, es war wohl nicht gut, dem Gericht der Menschen ausgeliefert zu sein, und vielleicht hatten sie Gott nur erfunden, um diesem Gericht zu entgehen und sich einem Gottesgericht zu unterwerfen. Auch das des härtesten Gottes mußte noch ein sanftes Streicheln sein gegen das der Menschen.

Sein Gesicht veränderte sich in diesen Monaten so, daß selbst die Lehrer es merkten. Sie gingen behutsam mit ihm um, und sogar der alte Professor der Mathematik unterließ es, ihn an sein langsames Denken zu erinnern. In der ersten Konferenz des Vierteljahres hatte der Direktor noch einmal die Frage erörtert, ob es nicht Mittel gebe, Jons zu einem Wechsel der Anstalt zu bewegen, und es hatte, wie Charlemagne vorausgesagt hatte, eine große Szene gegeben. Charlemagne hatte den in dreißig Dienstjahren behüteten Respekt vor der Obrigkeit unter den Tisch gelegt und statt dessen mit der Faust auf denselben Tisch geschlagen. Er habe keine Lust, hatte er geschrien, mit fünfzig Jahren vor seinem Spiegelbilde schamrot zu werden, nur damit die Herren von Wendehals oder Tausendschön sicher sein könnten, daß ihre Söhne nicht neben dem Bruder eines Totschlägers säßen. Dieselben Herren von Wendehals oder Tausendschön, die ihre Leute prügelten und von der Kaisergeburtstagsfeier auf allen vieren in ihre Schlitten kröchen.

Und es war bemerkenswert gewesen, daß der Direktor nicht nur in Charlemagnes zornige Augen, sondern in sehr viele andere ebenso zornige zu blicken gehabt hatte.

Jons erfuhr nichts davon, aber er war nun einmal oder zweimal in der Woche am Abend im Hause seines Ordinarius. Es tat ihm gut, an einem Tisch zu sitzen, an dem nicht bedenklich riechende Wurstscheiben gegen die Decke geworfen wurden oder Old Firehand die Geschichte seiner ersten Liebe zum besten gab. Ein Haus, in dem drei Frauen waren, hatte andere Neigungen. Es gab keine grünen Vorhänge, hinter denen man sich an den Haaren riß, und alle Bitterkeit der Weltbetrachtung wurde stiller, wenn die Frau seines Lehrers am Flügel stand und das Lied von den Morgenglocken sang: »Ängste, quäle dich nicht länger, meine Seele ...« Die schwere Einsamkeit dieser ganzen Stadtjahre hob sich dann wie eine dunkle Mauer vor ihm auf, aber eine schmale Tür, ja vielleicht nur ein Spalt zwischen den Fugen öffnete sich doch unter diesen Tönen, und ein rötliches, fast goldenes Licht fiel aus einer anderen Welt tröstend und beseligend auf den dunklen Weg vor seinen Füßen.

Ging er dann durch die leeren Straßen nach seinem Hause zurück, blieb er manchmal vor einem erhellten Fenster hinter dunklen Bäumen stehen, sah einen Schatten sich auf den Vorhängen bewegen und fühlte mit einem brennenden Schmerz das Einsame und nur der Arbeit Hingegebene seines Daseins. Aber dann erschrak er, wenn er an seinen Vater dachte, wie er auf seinem Laublager lag, die Hände über der Brust gefaltet, und den Wind über den Wald brausen hörte. Und in dem Wind mochte er die vielen Stimmen hören, die ihm nun im Leben verstummt waren. Die seiner jungen Jahre, als er noch gedacht hatte, die Welt zu bewegen, und die der Frau und der beiden Söhne. Ja, auch die derjenigen, die ihn verlassen hatten und in der großen Stadt ein unbekanntes Leben führten. Nur der Wald brauste, wie er immer gebraust hatte, eine ewige Stimme, zornig und sanft wie die Stimme Gottes im alten Bunde, und wenn er die Augen schloß, hörte er die großen Verheißungen und Verkündigungen und sah das dunkle Tor, von dem ihm geträumt hatte und in das sie hineingingen, einer nach dem anderen, lautlos, gehorsam und stumm.

Ja, so stand es wohl um den Vater, und er selbst hatte wenig Recht, vor einem hellen Fenster zu stehen und nach einer Hand zu verlangen, die sich sanft auf seine einsame Stirn legte.

In den Herbstferien hatte er nur ein paar Tage an den Meiler fahren wollen, aber kurz vorher kam einer der seltenen Briefe von Gina. Ein großer Geldschein lag im Umschlag, und sie bat ihn, er möchte doch für eine oder zwei Wochen zu ihr kommen. Sie sei nun aus dem Gröbsten heraus, er könne bei ihr wohnen, und sie möchte auch ein bißchen von allem dem hören, was inzwischen geschehen sei und worüber sie nur in den Zeitungen gelesen habe.

Es war nicht von Sehnsucht oder Liebe in dem Brief die Rede, aber er rührte ihn doch. Einmal war sie ausgezogen, um Macht zu erwerben, und es war ihm, als er auf die geraden, strengen Schriftzüge niederblickte, als hätte Jumbos Prophezeiung sich schon erfüllt, daß die Mächtigen am leichtesten das Lachen verlernten. Er antwortete gleich, daß er kommen würde und daß sie ihn an dem angegebenen Bahnhof erwarten möchte. Er sei noch immer am Meiler mehr zu Hause als in der Stadt, aber er habe nun ein Paar Schuhe ohne Eisen an den Absätzen. Herr Stilling habe es ihm geschenkt und gesagt, wer Trauer habe, müsse leise gehen können, damit die Menschen sich nicht nach ihm umdrehten. So werde sie sich seiner nicht allzusehr zu schämen brauchen.

Er fuhr einen langen, sonnigen Herbsttag hindurch, auf donnernden Brücken über breite Ströme, durch arme Wälder und an langen Stoppelfeldern vorbei. Der Himmel war weit über ebenem Land, Dampfpflüge zogen ihre breiten Furchen hinter sich her, und einmal sah er viele Regimenter Kavallerie, blau, rot und weiß, von einer sanften Hügellinie zu den abgeernteten Feldern herunterreiten. Die Tränen schossen ihm in die Augen, und der Mann, der ihm gegenüber saß, sah ihn unruhig an und verbarg dann sein Gesicht hinter einer großen Zeitung.

Lange stand er im Gang, vor einem der breiten Fenster, und wagte sich dann auch einmal in die anderen Wagen. Junge Kellner in weißen Jacken gingen eilig vorbei, andere Menschen standen an ihren Fenstern, die meisten ernst und sorgenvoll, als führen sie in eine unbekannte Zukunft; wieder andere lehnten in grauen oder roten Samtkissen und blickten gleichgültig in sein Gesicht, wie er vorüberging, und die Vielfalt und Fremde der Welt rührte ihn mit einem kühlen Atem an.

Noch einmal, in der Abenddämmerung, überfuhren sie einen breiten Strom. Hinter alten Wällen und Gräben stand ein wildes Abendrot, und er wußte aus der Geschichte, daß ein junger Königssohn hier Abendrot und Gericht gesehen hatte. Dunkle Zeiten auch damals, und die Grenze zwischen Recht und Gewalt schwankend und verwischt. Dann flogen wieder nur Kiefernwälder und Äcker vorbei; Lichter reihten sich an Schnüren auf, immer mehr, ganze Girlanden, ein weißer Schein brannte über dem Horizont, graue Häuser mit fleckigen Mauern standen wie böse Schächte neben den Schienen, Brücken und Unterführungen klirrten und donnerten, und dann tat die erste Riesenhalle sich vor seinem Blick auf.

Er stand in seinem Abteil am Fenster, den Koffergriff fest in der Hand, anders als damals bei seinem ersten Kampf mit dem Gepäckträger, aber immer noch mit dem dumpfen Widerstand des Waldkindes gegen Stein und Masse. Er las die Namen der Bahnhöfe von den großen Schildern, legte die Hand auf die Stelle der Brust, wo das Geld verwahrt war, und wunderte sich, wieviel Menschen über diese Erde gingen, keiner dem anderen ähnlich, so viele mit Gesichtern, die ihm unheimlich nackt erschienen, und so viele mit solchen, bei denen es ihn fröstelte. Und dort, irgendwo in den dunklen Hinterhöfen, über die die wilden Lichtreklamen schossen, würde vielleicht Gotthold stehen und leise in eines dieser Gesichter hineinsprechen, wie er vor Jahren in die Gesichter der Taternsöhne hineingesprochen hatte.

Eine Dame in einem grauen Pelz trat auf dem Bahnsteig plötzlich auf ihn zu, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn, während er sich in peinlichem Schrecken zu befreien suchte. Er spürte den reinen Duft der kühlen Lippen, und noch bevor er sie erkannte, erinnerte er sich an den gleichen Duft, einen gleichen Abend unter einer hohen Glashalle, und während er die Augen im Gefühl eines unwirklichen, süßen Glückes schloß, sah er die Jahre vorüberbrausen, die vergangen waren, so schnell, wie es in der Todesstunde geschehen sollte, dunkle Jahre voller Einsamkeit und blinder Arbeit, und dazwischen die Gesichter der Toten, die ihm mit ihren stillen Augen zusahen, Ausgeschlossene und Enterbte. Er ließ den Koffer fallen, den er immer noch mit krampfhaftem Griff gehalten hatte, und schlang seine Arme fest um den grauen, weichen Pelz und das Leben, das darunter atmete, Blut von seinem Blut, durch dieselben Schmerzen der Kindheit gegangen, von demselben Herdfeuer gewärmt, an dem Maria das Märchen vom Fischer und seiner Frau erzählt hatte, und nun schon lange in die Fremde hinaus verschlagen, schön und vornehm und fremd geworden wie eine Königstochter im Märchen. »Gina«, sagte er, »liebe Schwester ...«

Sie lächelte ihm zu, ganz nahe in seine Augen hinein. Ihr Lächeln war noch immer kühl und ungewohnt, aber die strenge Falte stand nicht auf ihrer Stirn, und in ihren grauen, klaren Augen sah er einen Schimmer der Freude und der Rührung. »Kleiner Jons«, sagte sie, »wie groß du geworden bist und wie schmal und ernst ...«

Dann winkte sie einem Gepäckträger, sah mit kaltem Blick über die neugierigen Gesichter, nahm seinen Arm unter den ihrigen und führte ihn die Treppe hinunter. »Jetzt gehen sie schlafen in Sowirog«, sagte sie nachdenklich.

Sie hatten nicht weit zu fahren, und Jons hielt ihre Hand, nicht nur weil er glaubte, daß sie in jedem Augenblick überfahren werden würden, von einem der hellen Riesentiere zum Beispiel, die mit zwei Stockwerken dahinschwankten, oder daß in einer der Unterführungen der donnernde Zug über ihnen sie begraben würde.

Sie hielten in einer breiten Straße, wo der Wind das welke Laub alter Bäume über das Pflaster trieb, und stiegen auf roten Läufern eine Marmortreppe hinauf. Es war eine kleine Wohnung, aber Jons glaubte, daß Gina Aladins Wunderlampe in der Hand trage, als sie die Hand an einen unsichtbaren Schalter gelegt hatte. Er stand still da und sah sich um. »Lebst du hier?« fragte er.

Ja, sie lebe hier, und es sei auch alles ihr Eigentum.

Sie führte ihn in ihr kleines Schlafzimmer und in das Bad, ließ das Wasser in die gekachelte Wanne laufen, legte die Tücher zurecht und nickte ihm dann zu. »Du mußt so tun, als ob du der Herr von Balk wärst«, sagte sie lächelnd, »der liebe Gott von Sowirog.«

Es gelang ihm durchaus nicht, und er brachte eine lange Zeit mit dem Studium der vernickelten Handgriffe zu. Draußen lag ein fernes Brausen vor den Fenstern, wie schweres Wasser, das über ein Mühlrad fiel, und er wunderte sich, was diese steinerne Mühle wohl mahlen mochte. Tag und Nacht.

Während sie aßen, mußte er erzählen, und sie hörte still zu, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt. Die Falte erschien wieder zwischen ihren Augen, und er wußte, daß sie alles so deutlich vor sich sah wie er selbst: das Haus mit dem alten Ahornbaum, die Küche mit dem Herdfeuer, Maria und das Märchen von Frau Ilsebill, den Meiler, an dem der Vater sie hatte segnen wollen.

»Und nun ist sie allein mit Christean?« fragte sie.

Ja, die meiste Zeit. Ein paar Stunden arbeite der Vater wohl auf dem Hof und dem kleinen Feld, aber dann gehe er wieder fort, in den Wald zurück, und Maria sei fast immer bei ihm. Ein dunkles Leben, sagte er, für alle. Nur Christean sei vielleicht glücklich mit seinem Schnitzmesser über dem Lindenholz.

»Meinst du?« fragte sie. Sie stand auf und begann vor ihm auf und ab zu gehen, eine lange Halskette zwischen den Fingern, mit der sie gedankenlos spielte. Er sah, daß sie immer noch den langen Schritt der Waldkinder hatte, etwas Freies und Wehendes, das um ihre schmalen Glieder lag, als treibe der Wind um ihren Gang.

»Sie wird uns alle überdauern«, sagte sie plötzlich. »Sie ist die härteste von uns, härter noch als ich. Sie wird noch aufrecht gehen, wenn sie innen schon ausgezehrt und tot ist. Sie hat geliebt, und sie hat geglaubt, daß der Vater eine Krone tragen wird. Aber nun hat er nur Asche im Haar, und sie wird es nie vergeben. Wahrscheinlich bist du der einzige, auf den ihre Augen gerichtet sind, Tag und Nacht, und deshalb schlug sie dich, als du das Mädchen an der Hand hieltest. Du hast solche Mädchen nicht an der Hand zu halten. Wenn du einmal Oberpräsident wirst, wird sie glauben, sie sei die Mutter Gottes, aber wenn du ein kleiner Landarzt wirst, wird sie dich verfluchen. Sie hat uns ihr Blut gegeben, und das war alles, was sie zu geben hatte. Dann hat sie uns nur zugesehen, ob wir von diesem Blut auch nicht einen Tropfen verschütten. Es war zu wenig, viel zu wenig ...«

»Du hast sie nie geliebt, Schwester?«

Sie blieb stehen und sah ihn grübelnd an. »Ich weiß nicht, Jons. Ich weiß nicht einmal, ob ich lieben kann. Geliebt hat nur Michael, denn er hat getötet für seine Liebe. Wir sind erst Kinder gegen ihn. Und sie? Ich hin ihr zu ähnlich, nur daß ich schöner bin und noch kälter ...«

»Gina!«

»Ja, kleiner Jons, noch kälter. Sie hat vielleicht noch etwas für den Vater gewollt und vielleicht auch etwas für uns, aber ich will nur für mich etwas, nur für mich.«

»Auch deinen Bruder Jons?« fragte er lächelnd.

»Ja, auch meinen Bruder Jons«, erwiderte sie ernst und strich ihm über das Haar. »Wenn ich ein Kleid brauche, kaufe ich es mir. Und wenn ich ein Kind brauche, hole ich mir meinen Bruder Jons. Ich werde nie Kinder haben, Jons.«

Sie sah nach der Uhr und ging in ihr Schlafzimmer, wo er sie vor dem großen Spiegel stehen und die vielen Büchsen und Flaschen öffnen sah. »Komm nun hinunter«, sagte sie. »Du kannst es dir eine Weile ansehen und dann schlafen gehen. Du kannst alles in einem Spiegel sehen, und dich selbst wird niemand sehen. Und wenn ein großer, hagerer Mann kommt, der den Zylinder auf dem Kopf behält, dann sieh ihn dir ordentlich an, weil ich ihn heiraten werde. Übrigens brauchst du keine Angst zu haben, denn auch unten gehört mir alles. Es ist eine Bar, die Phönix-Bar, und ich habe sie gekauft. Früher hieß sie »Minnesota«, das ist ein indianischer Name. Aber ich habe gelesen, daß der Phönix der Vogel ist, der sich aus der Asche erhebt. Das schien mir besser.«

Dann saß Jons hinter einem grünen Vorhang, in einem Raum, der mit Flaschen und Gläsern, mit Nickel, Silber und Kristall gefüllt war, und starrte in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Außerhalb des Spiegels konnte er Gina sehen, auf einem hohen Stuhl, wie eine dunkle Göttin auf ihrem Thron, aufrecht, ernst, einen roten Schal zwischen den Händen, an dem sie strickte, und daneben einen ernsten Mann in einer weißen Jacke, der wie ein Arzt aussah und lautlos aus vielen Flaschen Getränke in flache oder hohe Gläser goß. Gina hatte ihm ein paar Worte zugeflüstert, und er hatte sich gemessen vor Jons verbeugt.

Im Spiegel aber sah Jons einen feierlichen, niedrigen Raum, von Lampen erhellt, die man nicht sah, Gesichter, die ihm wie Masken erschienen, Frauen, die merkwürdig offene Kleider trugen, und Herren mit runden Hüten oder Zylindern, Eingläsern in den Augen, wie Herr von Balk sie trug, die am Bartisch lehnten oder auf seltsam hohen Stühlen hockten. Alles war leise und gedämpft wie bei einer Beerdigung, und auch das Lachen, auch die Musik, die später erklang, auch der Tanz, der ab und zu unter dem unsichtbaren Licht begann und wieder aufhörte, ein Schattentanz, wie das Ganze eine Schattenwelt war, unwirklich, traumhaft und gespenstisch.

Und über allem die Schwester, die rote Strickarbeit in den Händen, jeden Gruß mit einem Kopfnicken, manchmal mit einem Lächeln erwidernd, die ernsten Augen ab und zu auf die Tanzenden oder auf einen Gast gerichtet, dessen Stimme etwas zu laut wurde: eine schweigende Herrin über einer schweigenden Welt, von einer unberührten, makellosen Schönheit, ein Götterbild über einem gedämpften Tempelraum, gleich erhaben über Verfluchungen wie über Gebete.

Jons schloß die Augen und öffnete sie wieder. Er sah den Meiler vor sich und seine kleine Kammer mit dem Buchfinken, das Herdfeuer in Sowirog und die Sterne, die sich kalt und einsam im See spiegelten. Er sah die kleine Schwester vor der Mutter stehen und mit zugeschlossenem Gesicht ihre Schulaufgaben wiederholen, während die scharfe Falte sich zwischen ihre Augen eingrub. Er sah das alles hinter dem Spiegel sich erheben wie eine zweite Welt, ebenso schattenhaft wie diese. Er wollte ihre Fäden verfolgen, aber sie verwirrten sich, und er saß da wie ein Kind vor dem geöffneten Theatervorhang, bestürzt von Farben, Licht und Tönen und ohne eine Gewißheit, welches nun die wirkliche Welt sei und welches die erborgte.

Dann kam der Herr im Zylinder und saß auf dem hohen Stuhl vor Ginas Platz. Einen Augenblick lang verstummten alle leisen Gespräche, und man hörte nur den Löffel leise klirren, mit dem der ernste junge Mann in der weißen Jacke Eisstücke in ein Glas füllte. »Sehr wohl, Herr Graf«, sagte er mit feierlicher Höflichkeit.

Jons sah ein hageres Gesicht mit tief eingeschnittenen Falten, kalte, hellblaue Augen und einen Mund, durch den viele häßliche Worte gegangen sein mochten. Das Herz wurde ihm plötzlich schwer wie ein Stein, und er blickte voller Angst auf seine Schwester. Aber ihr Gesicht war unverändert, und ihre Nadeln hoben und senkten sich so ruhig wie sonst. Nur einmal hob sie unter dem schnellen, scharfen Flüstern des Gastes die grauen Augen, sah ihn in ungläubigem Erstaunen an und sagte leise, aber mit betonter Deutlichkeit: »Ich bin nicht die Frau, die ihre Bedingungen ändert. Auch die Steine bei uns zu Hause werden nicht geschliffen.«

»Aber Diamanten werden geschliffen«, erwiderte der Gast, stand auf und verbeugte sich. Er hob den Zylinder um eine Handbreite über sein Haar, und Gina neigte höflich ihren Kopf, doch schien es Jons, und nicht ihm allein, als messe sie mit einem kalten Blick die Spanne, um die der Gast seinen spiegelnden Hut gelüftet hatte.

Gina war den ganzen Tag für Jons da. Sie stand sehr spät auf, wenn er schon lange auf dem Deck der gelben Ungeheuer durch die Straßen gefahren war, hungrig nach allem Leben, das er zu sehen bekommen könnte, aber dafür begann ihr Amt erst in der Nacht, und sie hatten viel Zeit. Sie ging gern in ihrem Wohnraum auf und ab und blieb mitunter an einem der Fenster stehen, durch die die Sonne in breiten Bändern hereinfiel. Und dabei erzählte sie Jons ihr Leben. »Es schadet dir nichts, wenn du es weißt«, sagte sie. »Die alten Griechen leben nicht mehr, und wahrscheinlich haben sie auch anders gelebt, als man es dir auf der Schule erzählt.«

»Manche leben immer noch«, erwiderte er lächelnd. »Jumbo hätte einen ganz guten Schüler des Sokrates abgegeben.«

»Ach ja ... Jumbo ... er sagte das von den Mächtigen und dem Lachen. Er war klug, dein Jumbo, klug und ehrlich ... ja, und mit seinem Segen fuhr ich dann ab. Gotthold hatte gleich eine Freundschaft im Zuge geschlossen, keine gute, glaube ich, und ich fand dann meine erste Stelle. Nicht leicht, Bruder, nicht leicht. Die Füße schmerzen, das Kreuz schmerzt, und alle sind hinter dir her, vom Direktor bis zum Pagen, der noch eine Sopranstimme hat. O was für eine Kanaille ...«

Sie lehnte die Stirn an die Fensterscheibe und sah hinaus. »Und immer lernen, Bruder, immer lernen. Eine dumme Schönheit ist nur etwas für den Harem ... Ein Jahr war ich dort, und ich hatte viel gespart. Dann kam ich in ein ganz großes Hotel. Der Direktor hatte mich empfohlen, weil ich gesagt hatte, ich würde dankbar sein. Ich konnte nicht dafür, daß solche Leute sich immer nur eine Art von Dankbarkeit vorstellen können. Damit war es nun nichts, und er mußte sich eine andere suchen.

Hier nun habe ich wieder ein Jahr gewartet, bis die Gelegenheit kam. Da war ein Amerikaner mit einem Biest von Frau. Eine lange, dünne Röhre, mit Gott und dem Teufel wie mit Schießpulver gefüllt. Wer sie anrührte, bekam eine Ladung. Er hatte graue Haare, aber ich weiß nicht, weshalb sie nicht weiß gewesen sind. Wahrscheinlich hatte er sie färben lassen.

Er hatte unglückliche Augen, und ich sah, daß er mich von der Seite ansah. Aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ein Zimmermädchen hat nichts zu sehen. Und einmal schlug er mit der Faust auf den Tisch. Er fluchte so, daß sie sich die Ohren zuhielt und dann ihre Koffer packte. Sie fuhr nach Paris, und er blieb allein zurück. Er ließ sich eine Flasche Whisky bringen und sang, komische Lieder, die ich nicht verstand, aber sie müssen ihm gut getan haben.

Dann bekam ich dieses hier, und mit dem Augenblick, wo ich mich hinter den Tisch setzte, war es das, was man eine Goldgrube nennt. Ich brauchte nur dazusitzen und ab und zu ein bißchen zu lächeln. Sie kommen aus der ganzen Stadt hierher. Auch der Graf, den du gesehen hast. Er ist reich und schlecht, aber ich bin stärker als er, viel stärker. Ich habe die Bedingungen aufgesetzt, unter denen ich ihn heiraten will, und er handelt noch ein bißchen. Aber es ist umsonst. Einmal wird er seinen Zylinder nicht nur eine Spanne hoch heben, und dann bin ich da, wo ich sein wollte. Wohin es dann weitergehen wird, weiß ich noch nicht.«

Sie setzte sich auf die Lehne seines Sessels und glitt mit der Hand durch sein Haar. »Bist du sehr unglücklich, kleiner Jons?«

»Ziemlich«, sagte er leise.

»Das mußt du nicht, Jons«, erwiderte sie. »Siehst du, die Armen haben wenig mitbekommen, manchmal eine große Kunst und manchmal ein reines, starkes Herz, aber meistens nichts anderes als ihren Fleiß und ein Meer von Geduld. Ich habe die Schönheit mitbekommen und noch etwas dazu, und nun sollen sie bezahlen dafür. Für alle Stunden, die der Vater am Meiler gesessen hat und der Großvater über den Netzen. Für Friedrich und für Michael und für deine Jahre, in denen du mit Eisen an den Absätzen herumgelaufen bist. So teuer bezahlen, wie es wert ist, und es ist sehr viel wert, Jons, sehr viel wert ...«

»Aber man darf keine Rechnung darüber aufmachen, Gina«, sagte er.

»Doch muß man das, Jons, nichts anderes als eine Rechnung, denn Gott macht sie nicht auf. Gott ist immer auf der andern Seite, bei denen, die die Kirche einweihen, aber nicht bei denen, die sie bauen. Wenn wir auf Gott warten wollen, müssen wir bis zum Jüngsten Gericht warten, und wer weiß, ob sie nicht auch dann die besseren Rechtsanwälte haben werden. Gerichte sind eine gebrechliche Einrichtung, Jons.«

Dann sprachen sie nicht mehr darüber, und auch in die Bar ging Jons nicht mehr hinunter. Er war nun sehr still, und sie sah, daß hinter seiner breiten Stirn die Gedanken kamen und gingen. Nicht über sie allein. Sie war nur der Anlaß, und er versuchte, ihr Schicksal in das Gewebe einzuweben, das er sich von der Welt gemacht hatte. Sie wußte, wie ernst und ordentlich er war und daß nichts ihm Ruhe ließ, bis er es in seine »Gerechtigkeit« eingeordnet hatte. Aber er würde noch lange brauchen, bis seine Rechnung aufging, ein ganzes Leben, und auch dann würde er nicht fertig sein.

Am letzten Nachmittag bestand er darauf, daß sie Gotthold anrufen sollte. Er würde nun noch ein paar Tage am Meiler sein und es könnte doch sein, daß der Vater fragen würde.

Sie stand eine Weile am Fenster und blickte hinaus. »Wir können ihn nicht anrufen«, sagte sie schließlich und drehte sich um. »Er ist seit sechs Monaten in Untersuchungshaft.«

Er sah sie verstört an, aber sie strich ihm mit der Hand über das Haar. »Du mußt es nehmen wie alles andere«, sagte sie. »Alle diese Dinge schlafen in uns, und plötzlich stehen sie in einem von uns auf. Daß er es sein würde, war vorauszusehen. Er hat auch Czwallinnas Geld genommen. Er war nur schön, nichts weiter, und sie haben es ausgenutzt. Er hatte ein großes Haus in einem Vorort, aber es war ihm alles zu Kopf gestiegen. Und Hehlerei ist ein schmutziges Geschäft. Sie haben die ganze Gesellschaft aufgehoben, und ich denke, daß für ihn ein paar Jahre herauskommen werden.«

»Gefängnis?«

»Nein, Zuchthaus. Sie haben es jahrelang getrieben. Seide und Juwelen in der Hauptsache.«

»Und der Vater?« sagte er leise.

Sie stand schon wieder am Fenster. »Es könnte sein«, erwiderte sie, »daß der Vater weiter sieht als wir alle und daß er auch anders sieht. Er wird meinen, daß Gott wieder einmal seine Hand auf seinen Tisch gestützt hat und daß es diesmal Gotthold getroffen hat. Und vielleicht wird er dankbar sein, daß es nicht mehr als Zuchthaus ist. Auch Gotthold war nicht aus seinem Blut.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte er nach einer Weile, »daß du keine Kinder haben willst.«

»Ich tue es nicht aus Angst«, erwiderte sie.

Sie hatte versucht ihm zuzusprechen, aber er fuhr bedrückt ab. »Wir sind alle allein, Jons«, hatte sie gesagt, »ganz allein. Er mit seinen Juwelen, ich mit meinem Grafen und du mit deiner Gerechtigkeit auf dem Acker. Keiner hat am andern zu tragen, jeder trägt allein. Und du hast sie nicht gestohlen, Jons.«

Aber Jons dachte an den Meiler und schüttelte den Kopf. »Wir haben denselben Vater, Schwester«, sagte er leise.

Er blieb noch eine Woche am Meiler und ließ sich im Dorf nicht sehen. Nur einmal ging er heimlich am Abend zu Stilling, erzählte ihm alles und sagte, er könne nun sein Geld nicht mehr nehmen. Er wolle nun beim Vater in die Lehre gehen und beim Großvater und nichts anderes werden, als was sie geworden seien. Auch wenn Gina nun einen Grafen heiraten werde. Aber er wisse nicht, was schlimmer sei, das Zuchthaus oder der Graf.

»Der Graf, Jons«, sagte Stilling bekümmert, »sicherlich der Graf. Aber nicht schlimmer, sondern nur trauriger. Viel trauriger ..., das andere aber, Jons, ist natürlich Unsinn. Siehst du nicht, daß dir viel aufgelegt wird, damit du viel tragen lernst? Wenn sie es in der Schule erfahren, wird der Direktor seine Nase streicheln, und du wirst vielleicht nicht mehr Vertrauensschüler sein. Du wirst allein stehen, Jons, und das ist das letzte, was wir lernen können, allein zu stehen, ganz allein. Aber stehen muß man, nicht knien oder liegen. Bist du von dem Blut, das dem ausweicht? Ich erinnere mich nicht, daß Michael ausgewichen wäre ...«

Also wollte Jons es auch nicht. Der Vater fragte ihn nicht, aber mit Maria besprach er alles, damit es ihn nicht zu plötzlich treffe. Auch sie war der Meinung, daß das mit dem Grafen trauriger sei als das andere. »Einen Gefangenen kann man wiederfinden«, sagte sie in ihrer frühen Weisheit, »aber eine Gräfin ist uns verloren.«

Am letzten Abend saß Jons auf der Böschung eines Grenzgrabens und sah zu, wie Kiewitt pflügte. Er war so weit gekommen in diesen Jahren, daß er nun ein Pferd hatte, eine alte, etwas dürre Schimmelstute, und mit ihr zog er nun in der Dämmerung die letzten Furchen durch seine Haferstoppel. Niemand rief ihm zu: »Kiewitt, komm mit!«, und so brauchte er sich nicht hastig in den Schultern zu verbeugen. Der Himmel lag grau, mit einem matten Abendrot über dem Land, die Drosseln lärmten noch leise in den Vogelbeeren, und die Taucher riefen vom fernen Wasser herüber. Das welke Laub duftete, ein bitterer, strenger Geruch, der aus der Erde aufstieg und sich mitunter mit dem Rauch des Meilers mischte, den der Wind über das Moor trieb. Über dem Fichtenwald stand schon der Abendstern, die Dämmerung fiel rasch, und in dem grauen Licht war Kiewitt nur wie ein Schatten zu sehen, aber das Pferd zog immer noch hell, ein weißes Fabeltier, den unsichtbaren Pflug durch die Erde. Jons hörte die Hufe dumpf über den moorigen Boden gehen, in einem langsamen, schweren Rhythmus, in dem Müdigkeit lag, aber auch eine zähe, unerschöpfliche Kraft, die Kraft der Menschen und Tiere dieser Landschaft, die nicht auswichen, nicht dem Krieg, nicht dem Hagel, nicht der Pest. Vor tausend Jahren mochten diese Hufe schon über diesen Boden gegangen sein, ebenso langsam, ebenso dumpf, und nach tausend Jahren würden sie es wieder tun. Ein weißes Pferd, hager, mit zerzauster Mähne, älter als das Pferd der Apokalypse, und dahinter der Schatten des Mannes, des heidnischen, des getauften, des wiedergetauften, vieler Männer, die die Erde pflügten, nichts weiter. Die wenig sprachen und wenig dachten, außer an das Brot, das wachsen sollte, um Speise zu geben. Die ohne Ehrgeiz waren, ohne Grübeln, ohne Träume, ohne Weltanschauung. Die so weiterpflügten, wie der Mensch vor den Toren des Paradieses damit begonnen hatte, und weiterpflügen würden, ob das Paradies sich nun öffnete oder für immer versank.

Und Jons war es, als habe er Kiewitt noch niemals anders gesehen als so wie jetzt hinter seinem Pfluge, schon damals, als er ein Kind gewesen war. Als werde er die ganze Nacht so weiterpflügen, hinter seinem weißen Pferde her, indes der Mond aufgehen würde und die wilden Gänse unter seinem Kreis über die Wälder rauschen würden.

Und ob er nun die Welt bewegen würde oder nicht: dieses würde bleiben und immer da sein, wenn er wiederkäme. Eine dunkle Erde unter dem Abendstern, ein weißes, hageres Pferd, älter als die Pferde der Apokalypse, ein Pflug, der leise durch die Stoppel rauschte, und ein Mann, der wie ein Schatten hinter ihm herging.

Und es war gleich, ganz gleich, ob er dann Kiewitt hieß oder Michael oder Jons. Es war der Mann, der die Erde umbrach, um das Korn zu säen.


 << zurück weiter >>