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XI

Es war nun beschlossen, daß sie zu Pfingsten ihre Kirche einweihen wollten. Ein paar Wochen nach dem großen Sterben hatten sie still und verstört an ihren Herdfeuern gesessen und die Hände gefaltet. Der Schnee war wie ein weißes Meer über ihre Häuser gegangen, und über das Moor war hier und da eine große Fährte gelaufen, von der die Förster sagten, daß es die eines Wolfes sei.

Aber es hatte die Leute von Sowirog nicht gekümmert. Gott hatte sie geschlagen, an ihren Kindern und an ihrem Pfarrer, und sie wußten nicht, was er noch vorhatte mit ihnen. Die Männer waren nicht zur Arbeit gegangen, und ein paarmal hatten sie getrunken und ihre Frauen geprügelt. Die Frauen hatten sich nicht gewehrt, sondern still dagesessen und vor sich hingestarrt. Wenn Gott sie verlassen hatte, brauchten sie nicht zu spinnen oder zu weben oder sich zur Wehr zu setzen, wenn der Mann seinen Riemen abschnallte. Sie wußten nicht, was sie gesündigt hatten, aber Gott würde es schon wissen.

Niemand wußte, wovon der Pfarrer lebte. Ein paar Tage nach seiner Ankunft im Dorf hatte er sich in der Jerominschen Kammer verborgen gehalten, aber dann hatten sie ihn zur Hütte auf der Insel gehen sehen. Er hatte einen Schlitten hinter sich hergezogen, beladen und mit seiner alten Pelzdecke bedeckt, hatte einen langen Stab mit einer Eisenspitze in der Hand gehabt und war auf das Eis des Sees hinuntergestiegen. Es hatte schon gedämmert, neue blauschwarze Schneewolken hatten sich über die Wälder herangewälzt, und so war er ihren Blicken bald entschwunden, eine hagere, gebeugte Gestalt, die so aussah, als gehe sie von dieser Erde fort, einen Kindersarg hinter sich her und vor sich nichts als das stöhnende Eis und die bleiche Schwärze einer schneegefüllten Nacht.

Doch sahen sie später ein Licht und den Schein eines Feuers, und am Tage konnten sie, wenn der Schnee nicht trieb, mitunter seine Gestalt in der Ferne erblicken, wie er aus den Wäldern am andern Ufer auf das Eis niederstieg, den Schlitten mit Holz beladen, oder wie er unter den kahlen Eichen der Insel stand und in den gelben Abendhimmel starrte, regungslos wie Lots Weib, indes hinter der Schwärze seiner Gestalt die Feuer des Sonnenunterganges wie die Flammen von Sodom und Gomorrha brannten.

Wahrscheinlich würde er trinken, wilder noch als sie, und Gogun, der nach seinen heimlichen Fallen gesehen hatte, erzählte leise, daß neben der Spur des Pfarrers die Spur eines Frauenschuhes zur Insel gegangen sei.

Sie machten keine Bemerkung, und sie tadelten ihn nicht. Sie wußten, daß auf seinem Herzen die Särge aller Kinder standen, die in den Dörfern gestorben waren, und sie wußten von sich, wie schwer ein einziger Sarg auf dem Herzen lag. Er trank nicht, weil er ein Trinker war wie sie, sondern weil er aufgehört hatte, an Gott zu glauben. Er war zu ihnen gekommen aus der großen Stadt, weil er noch einmal hatte anfangen wollen als ein geringer Knecht, so gering, daß der härteste Gott sich seiner Blöße hätte erbarmen müssen. Aber nun hatte Gott sich nicht erbarmt. Vielleicht hatte er ihm zeigen wollen, wieviel der Pfarrer leiden solle um seines Namens willen, aber es war zu viel für ihn gewesen. Siebzig Kinder waren zu viel für ein Exempel gewesen. Und nun trank er. Nicht weil das Trinken ihm Freude machte, sondern weil er dann die Särge nicht mehr sah. Vielleicht sah er Blumen oder einen Garten Eden, in dem es keine Armen mehr gab, oder eine große Kirche aus Marmorstein, in der die Mächtigen der Erde ihre Knie beugten. Sie wußten nicht, was er sah, aber sie wußten, was er nicht mehr sehen wollte. Er hatte ohne Freuden gelebt, ohne Weib und Kind, ein Kniender und Durstiger im Staub der Straße. Mochte er nun trinken und eine Frauenspur neben der seinigen haben. Keiner war im Dorf, der ihn zu richten hatte.

Aber vielleicht würde er wiederkehren aus seiner dunklen Welt, wenn sie die Kirche zu Ende bauten und einweihten. Von ihm war sie ausgegangen, und zu ihr würde er vielleicht heimkehren. Ein Pfarrer ohne Kirche war wie ein Fisch ohne Wasser.

Ein paar von ihnen gingen zu Herrn von Balk, als der erste Südwind über das Land ging. Nach dem großen Sterben hatten sie nichts von ihm gesehen. Er saß in der Bibliothek vor dem Feuer im Kamin, noch grauer und hagerer geworden, und hörte ihnen zu. Soso ... der Pfarrer ... ja, er denke, daß sie recht hätten, und er wolle das Seinige tun. Auch er denke, daß sie bis zum Pfingstfest fertig sein könnten. Aber was den Pfarrer betreffe, so sollten sie sich nicht zu große Hoffnungen machen. Zweimal lasse sich selten der Heilige Geist über einen Menschen ausgießen. Er wenigstens kenne kein Beispiel dafür, aber zu ihm sei er ja auch überhaupt nicht gekommen.

Ja, ein harter Winter sei es gewesen, nicht nur für Pfarrer und Gläubige. Er komme nun in den nächsten Tagen nach ihnen sehen, habe sich wenig genug um sie gekümmert, ein alter Habicht, der gefroren und gehungert habe. Ja, gehungert nach dem, was sie das Reich Gottes nannten. Er nenne es anders, aber das schade nichts.

»Freut euch des Lebens!« schrie der Papagei zornig, und die Leute von Sowirog erschraken wie über die Stimme des Teufels.

Doch erwachte nun das Dorf zu einem neuen hastigen Leben. Der Schnee schmolz von den kleinen Hügeln auf dem Friedhof, und in der lockeren Erde hatten die Mäuse ihre Gänge gezogen. Die Schindeln auf dem Kirchendach leuchteten nicht mehr so neu, sondern hatten schon einen zarten grauen Schimmer bekommen. Der Wald stand wieder auf, die ersten Gänse zogen nach Norden.

Das erste, womit sie begannen, waren die Bänke, die Fenster und die breite niedrige Tür aus Eichenholz. Auch die Eichen hatte Gogun nicht vergessen. Sie legten die Dielenbretter, und ein großer Wagen mit den drei Glasfenstern kam an. Nun erst wußten sie, daß es eine herrliche Kirche war, und sie standen mit gefalteten Händen vor den blauen und grünen Gestalten, die in der Sonne leuchteten. Am unteren Rand des mittleren Fensters stand die hohe, schlanke Gestalt eines Kranichs, der die Schwingen halb geöffnet hatte. »Für den Stifter, Michael«, sagte Balk lächelnd zu Gogun.

Aber noch immer ließ der Pfarrer sich nicht sehen. Sie hatten beraten, ob ein paar von ihnen zu ihm gehen sollten, aber sie hatten es nicht gewagt. »Was sich in die Erde gräbt«, hatte Gogun gesagt, »soll man nicht wecken, bis es von selbst herauskommt.«

Eines Tages kam ein Wagen mit Pferden ins Dorf gefahren, hielt am Kirchenhügel, und ein großer Herr im schwarzen, hochgeschlossenen Rock stieg langsam aus. Er trug das graue Haar unbedeckt, und seine Augen blickten freundlich und aufmerksam zum Turm der Kirche empor, wo gerade ein eiserner Wetterhahn angebracht wurde. Das also sei ihre Kirche, fragte er und sah lächelnd von Gesicht zu Gesicht.

Ja, das sei sie, erwiderten sie verlegen. Er nickte, ging um den Bau herum, glitt mit der feinen, ringgeschmückten Hand über die rohen Balken und trat dann in das Innere. Er stand lange vor den Glasfenstern, stieg vorsichtig auf die grob gezimmerte Kanzel und betete dann still vor dem Altar, der noch ohne Schmuck dastand.

Sie hatten alle ihr Handwerkszeug niedergelegt und sahen ihm zu. Sie meinten, daß er der oberste aller Pfarrer der Provinz sein müsse, und es war ihnen traurig ums Herz, daß ihr Pfarrer nicht da war.

Als er sein Gebet beendet hatte, drehte er sich um und sagte, daß es seinem Herzen wohlgetan habe, dies alles zu sehen, und daß er gekommen sei, um ihnen im Namen der Provinz zwei Glocken für ihre Kirche zu schenken. Denn da ihr Pfarrer, wie er gehört habe, für eine Weile in die Stille gegangen sei, so müßten sie doch wenigstens eine Glocke haben, damit die Kirche nicht ganz ohne eine Stimme sei.

Und nun möchte er gern ihren Pfarrer sehen.

Ja, das sei so eine Sache, meinte Gogun nach einer Weile. Der Pfarrer sei auf der Insel, und er wolle niemanden sehen.

Ein Boot hätten sie wohl? fragte der Unbekannte.

Ja, das hätten sie, und Gogun wollte ihn zum Jerominschen Hause führen.

Es wurde dann so, daß der Unbekannte keine Hilfe haben wollte, sondern sich in das Boot setzte, mit den weißen Händen die Ruder ergriff und langsam, aber in einer schönen geraden Linie zu der Insel hinüberruderte. Der Wind spielte mit seinem grauen Haar, und es sah aus, als mache ein vornehmer Herr zu seinem Vergnügen eine kleine Bootsfahrt.

Sie gingen wohl wieder an die Arbeit, aber ein paar von ihnen standen immer auf dem freien Platz vor der Eingangstür, hielten die Hand über die Augen, weil das Wasser blendete, und sahen dem Boot nach, wie es sich langsam aber stetig der Insel näherte. Sie sahen den Unbekannten aussteigen, das Boot etwas auf das Ufer ziehen und langsam den Steig zur Hütte hinaufsteigen. Dort verschwand er dann in der offenen Tür.

Sie besprachen es nun nach allen Seiten, in Hoffnung und in Furcht, und schließlich blieb Gogun als der Redemächtigste mit seiner Ansicht siegreich, daß es sicherlich ein Bischof sei, vielleicht vom Kaiser ausgesandt, um dem Pfarrer wieder Mut zuzusprechen. Zwar wurde eingewendet, daß nur die Katholischen einen Bischof hätten, aber Gogun meinte, daß in so schweren Fällen wohl auch die Evangelischen ein Recht auf einen Bischof haben könnten.

Als der Oberkonsistorialrat über die Schwelle trat, sah er den Pfarrer an dem rohen Holztisch sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt, und in das Feuer blicken, das eine dunkle, hochgewachsene Frau im Herd entzündete. Eine Flasche und ein Wasserglas standen neben ihm auf dem Tisch, eine alte, schwere Bibel lag aufgeschlagen, und ihre Blätter waren von einer dunkelroten Flüssigkeit gerötet, die eine zitternde Hand darübergegossen haben mochte. Alles sah sauber und nicht unwohnlich aus, aber es fröstelte den Besucher doch, als er an die Schneestürme dieser Landschaft dachte.

»Da bin ich, Herr Pfarrer«, sagte er, »auch wenn Sie mich nicht gerufen haben. Aber wir wollten doch ein bißchen nach Ihnen sehen.«

Agricola hob den Kopf und sah ihn an, und noch einmal fröstelte der Besucher vor der Tiefe des Leides, das in diesen Augen brannte. Er nahm schnell die rechte Hand des Pfarrers, ohne sie gereicht zu bekommen, und blieb so eine Weile stehen, während alle guten Worte, die er sich ausgedacht hatte, in einen tiefen Strudel des Vergessens sanken.

Der Pfarrer erinnerte sich dunkel von einer Synode her dieses Gesichtes und stand mühsam auf. »Der Gast ist heilig«, sagte er, »auch hier. Aber er hätte besser getan, nicht zu kommen.«

»Oft unterbleibt das Bessere um des Nötigen willen«, bekam er zur Antwort. »Lassen Sie uns nun ein bißchen am Feuer sitzen.« Er verneigte sich leicht vor der Frau, die ihn böse ansah, und machte eine kaum merkliche Gebärde zur Tür.

»Laß uns allein, Lisa«, sagte der Pfarrer.

»Ich war an der Kirche«, begann der Geistliche und blies den Rauch seiner Zigarre ins Feuer. »Und ich habe den Leuten gesagt, daß wir ihnen zwei Glocken schenken wollen. Irgendeine Stimme muß doch dort ertönen. Es ist ein wunderbares Werk, das hier zustande gekommen ist, aber mein Herz ist nicht froh ...«

Der Pfarrer öffnete die Lippen, aber dann schwieg er wieder.

»Es gibt solche unter uns«, fuhr der andere fort, »die der Meinung sind, daß dies eine Schande sei und daß die Schande ausgebrannt werden müsse. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich habe niemals solche Meinungen gehabt, seit ich erfahren habe, daß der Talar brennen kann wie ein Nessusgewand. Wir haben viele Briefe bekommen, gute und auch ein paar böse. Aber in einen Brief kann man eine Sache legen und kein Herz. So bin ich gekommen, um zu erfahren, ob ich etwas von diesem Herzen sehen kann.«

›Dein lieber Gott hat ein gutes Teil davon zu sehen bekommen‹, dachte der Pfarrer, ›und es ist wenig Gutes dabei herausgekommen. Besser also, die Menschen steckten ihre Nasen in andere Herzen als das meinige.‹ Aber er dachte es nur, er sprach es nicht aus.

Das Feuer brannte nun hell, und der Geistliche beugte sich etwas vor, um seine Hände zu wärmen. »Die Flamme verzehrt das Holz«, sagte er, »und doch wärmen wir uns an der Flamme. Auch die Liebe kann verzehren, Menschen und ganze Geschlechter, und doch bleibt sie das, woran wir uns wärmen. Die göttliche Liebe, meine ich.«

›Da ist ein Fehler dabei‹, dachte der Pfarrer, ›wie bei den meisten Vergleichen. Aber es ist dein Fehler, nicht der meinige.‹

»Die Leute waren nicht froh über die Glocken«, fuhr der andere nach einer Weile fort. »Auch eine Herde kann Glocken tragen und verlangt doch nach dem Hirten. Es hat mich gedauert, zu sehen, wie sie an der Arbeit waren. Es war keine Freude dabei, und sie sahen mir lange nach, als ich im Boote saß. Es ist schrecklich, wenn Kinder sich verirren, in einem dunklen Wald, aber es ist schrecklicher, wenn der Vater sich mit ihnen verirrt und beiseite geht, um sie ihrem Schicksal zu überlassen.«

›Genug Väter zu deiner Verfügung‹, dachte der Pfarrer. ›Schicke einen andern, und euer Kummer ist zu Ende.‹ Aber er sagte immer noch nichts.

»So geht es nicht«, sagte der Geistliche und legte seine Hand auf des Pfarrers Arm. »Kann ich helfen, Agricola?«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf.

»Wer könnte helfen?«

Nun sprach der Pfarrer zum erstenmal. »Gott könnte helfen«, erwiderte er, »wenn er wäre. Aber er ist nicht.«

»Und wissen Sie das, lieber Bruder?«

»Ich weiß es nicht als eine These, aber ich weiß es für mich. Für mich ist er nicht, also kann er nicht helfen. Nur für die Gläubigen ist er ein Brunnen in der Wüste, für die andern ist er eine Fata Morgana. Nicht Wasser, sondern Luft, und glühender Staub.«

»Und Sie glauben nicht mehr?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Der andere hatte längst die Zigarre auf den Herdrand gelegt und die Hände gefaltet. »Gott kann wiederkommen«, sagte er leise.

»Ich will nicht, daß er wiederkommt und Kinder mordet«, sagte der Pfarrer. »Ich habe genug an siebzig Särgen.«

»Das also ist es«, meinte der andere und nickte vor sich hin. »Also hab' ich doch das Herz gesehen.«

»Und wenn nun Gott die Toten auferweckt«, fuhr er fort, »zu einem schöneren Leben, was ist denn der Sarg anders als eine flüchtige Stufe?«

»Dieselbe Stufe, auf die man die Eltern hingeworfen hat«, sagte der Pfarrer. »Dort können sie warten, bis er die Särge erweckt. Aber die Zeit wird ihnen lang werden, sehr lang ... wenn ... wenn ... das große Wort der Täuschung und der Kinder. ›Wenn Gott die Toten auferweckt‹, aber niemand noch hat ihm zugesehen dabei. Und wer allmächtig ist und Engel braucht, hat wohl nicht nötig, die Kinder zu erwürgen, die er sich dazu ausersehen hat.«

»Sie hassen, Bruder«, sagte der Geistliche traurig.

Aber der Pfarrer fuhr nur mit der Hand durch die Luft. »Gespenster haßt man nicht«, erwiderte er schroff.

»Wer Gott verliert, hat so viel verloren«, sagte der Geistliche nach einem langen Schweigen, »daß wir ihm nichts mehr fortnehmen dürfen. Ich bin kein Bekehrer, Bruder, und wir wollen das also stehenlassen, wie es steht, bis Gott es vielleicht wieder in die Hand nimmt. Aber ich bin nun ein alter Mann und habe viel gesehen. Und das Schlimmste, was ich gesehen habe, war doch wohl das Gericht der Menschen. Ich richte nicht, Bruder, ich leide nur. Es kann jeden von uns treffen.«

»Nicht jeden von uns«, sagte der Pfarrer. Aber er sah den andern nun an und erkannte sein gutes, trauriges Gesicht.

»Ich will, daß Sie eine kleine Pension bekommen, Agricola, und ich werde es auch erreichen. Ich will nicht, daß Sie von Almosen leben. Aber ich möchte gern, daß Sie nicht mehr trinken.« Er legte die Hand auf das Knie des Pfarrers und sah ihn bittend an. »Der Schmerz macht scharf, aber der Trunk verzerrt. Wir können sein Bild zerschlagen, aber wir dürfen es nicht beschmutzen, nicht wahr?«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Wenn vergeben wird, wird alles vergeben«, sagte er. »Alles oder nichts. Es gibt keine Grade. Und ein gewesener Pfarrer, der trinkt, ist besser als einer, der unter einem Espenbaum hängt. Kein Krugwirt sieht mich, wenn ich betrunken bin, kein Gläubiger, kein Kind. Nur sie« – er wies mit der Hand nach draußen –, »und sie kann mich ruhig sehen. Vor vierzig oder dreißig Jahren hat sie mich geliebt und nicht bekommen. Nun hat sie alles fortgeworfen, was sie besaß, Amt, Haus und Frieden, und ist zu mir gekommen. Soviel wert bin ich noch, und so groß kann Menschenliebe sein. Nein, ich werde wohl nicht aufhören zu trinken, so wenig ich aufhöre, in der Bibel zu lesen. Ich rede noch mit ihm, immer noch. Ich weiß, daß er nicht da ist, aber ich rede mit ihm. Er ist abgesetzt wie ich, und wir sitzen hier am Tisch und sehen, wer der größere Sünder ist.«

»Ja«, sagte der Fremde, »so leicht ist es nicht, ihn auszulöschen ...«

Er blieb noch eine Weile sitzen und blickte ins Feuer. »Manche«, fuhr er dann fort, »leben fünfzig Jahre für die Welt und bekehren sich dann. Und manche leben fünfzig Jahre für Gott und leugnen dann. Ich weiß nicht, welche Gott wohlgefälliger sind ... aber er wird wohl über beide seine Hand halten.«

Er stand auf und gab dem Pfarrer die Hand. »Erinnern Sie sich, was Elihu zu dem Mann aus Uz sagte?« fragte er. »›Sündigst du, was kannst du ihm schaden? Und ob du gerecht seiest, was kannst du ihm geben?‹ Leben Sie wohl und erlauben Sie einem alten Mann, für Sie zu beten.«

Der Pfarrer begleitete ihn bis zur Schwelle und sah ihm dann nach, wie er den Steig zum Ufer hinunterging. Unten saß die Frau auf einem der Boote und ließ das Wasser durch ihre Finger rinnen. Sie sah wohl auf, als der Fremde vor ihr stehenblieb. »Von Hiob steht geschrieben«, sagte er, »daß er ein Bruder der Schakale und ein Geselle der Strauße war. Mein Herz würde leichter sein, wenn ich wüßte, daß Sie bei ihm bleiben.«

»Ich bin nicht wie euer Gott«, erwiderte sie finster, »der aufhebt und fallen läßt.«

Er sah über ihren Scheitel hinweg nach dem andern Ufer, wo der Wetterhahn nun über dem stumpfen Holzturm funkelte. »Keiner von uns ist wie Gott«, sagte er leise, »aber von Gott sind wir alle, auch Sie, auch er.«

Sie sahen gleich, als er langsam den Hügel hinaufstieg, daß er mit leeren Händen kam. »Wir müssen noch warten«, sagte er nur. »Er spricht noch mit Gott ...«

Dann betete er wieder vor dem Altar, stieg in seinen Wagen und fuhr davon.

Zu Pfingsten weihten sie die Kirche ein. Am Abend vorher richteten sie hinter dem Altar das Bild des Gekreuzigten auf, das Jakob und sein Vater aus dem Holzschuppen herausgetragen hatten. Niemand hatte davon gewußt, und als es den Hügel hinaufgebracht wurde, knieten sie nieder, und viele weinten. Sie waren verzagt und ohne Freude, denn der Pfarrer war auf der Insel geblieben. Das helle Holz leuchtete in dem dämmernden Kirchenschiff, und sie sahen, daß die Stirn unter der Dornenkrone die Stirn ihres Pfarrers war. Auf der hintersten Kirchenbank kauerte Christean und sah zu, wie sie das Kreuz aufrichteten. Aber er wußte nicht, ob es nun eine Kirche war, ohne ihren Pfarrer. Viele wußten es nicht.

Spät am Abend fuhren Jons und Maria hinüber. Sie hatten Christean ins Boot getragen, und er sah zu, wie die Sterne im Wasser leuchteten. Es war nicht dunkel. Der Nordwesthimmel lag weiß über den schwarzen Wäldern, und ab und zu glitt ein Stern lautlos am Firmament in die Tiefe. Der Kuckuck rief immer noch, und hinter der »Armen Sünde« stiegen die Nebel über dem Moor.

Keiner von ihnen wußte, was er nun sagen würde. Jons hatte sich das ausgedacht, aber er wußte am wenigsten, wie es ausgehen würde. Wenn der Bruder mit seiner Flöte da wäre, würde der Pfarrer mitkommen, aber sie waren nur Kinder, und was konnten sie viel sagen?

Der Pfarrer saß auf einem umgekehrten, verfallenen Boot und sah ihnen entgegen. Ein ungewisses Licht lag über dem Ufer, aber Jons sah doch, wie alt er geworden war. Sein Haar war nun ganz grau, und seine Augen lagen tief unter der Stirn. Aber er saß ganz still, ohne Überraschung oder Feindseligkeit, und ließ sie schweigend aussteigen.

»Oh, Jons und Maria«, sagte er dann. »Und auch Christean ist mitgekommen ... so sind doch noch ein paar übriggeblieben.«

»Herr Pfarrer ...« begann Jons.

Aber Agricola hob schon die Hand. »Laß es gut sein, Jons«, sagte er. »Ich wollte nicht wegbleiben morgen, und wenn ihr wollt, könnt ihr mich holen. Ich habe doch auch meine Balken getragen und meine Steine gekarrt. Ein schlechter Arbeiter, der seinem Haus den Rücken kehrt.«

»Christean hat einen Heiland geschnitzt«, sagte Maria.

»Christean? Sieh mal an ... ja, ihr seid ein gutes Haus, nur dunkel ist es bei euch, und vieles hat man wohl noch mit euch vor ... und du, Jons, wirst du nun einmal dort predigen?«

»Ich weiß nicht, Herr Pfarrer ... ich glaube nicht ...«

»Ja, laß die Hände von ihm, Jons. Er drückt dir seine Nägel hinein, und es heilt nicht. Niemals. Es sind Gespensterhände.«

»Ist er denn nicht wirklich, Herr Pfarrer?«

»Nein, Jons, er ist nicht. Er war nicht und wird niemals sein. Nicht so, wie es geschrieben steht. Anders vielleicht. Siehst du, das alles« – er wies mit der Hand einmal über das ganze Himmelszelt –, »das ist er vielleicht. Das und daß wir hier sitzen und über ihn reden. Keiner kann es begreifen, aber es ist da und hat seine Ordnung und seine Gesetze. Aber es ist nicht zweierlei, er und das alles. Er steht nicht dahinter und lenkt es mit seiner Hand. Es ist einerlei, ein und dasselbe. Wir haben ihm nur einen Namen gegeben. Wir hätten es auch ›Ohama‹ nennen können oder sonstwie. Aber der Sohn und der Heilige Geist, und die Erzengel und Erzteufel, und die Auferstehung und das Gericht: Namen, Jons, Namen. Menschenwerk und Menschentäuschung. Ein Bildnis oder ein Gleichnis, und Blut tropft darüber hin. So viele tausend Jahre schon, und immer mehr Blut, weil es das Edelste ist, was wir haben. Aber auch des Blutes können wir müde werden, Jons, die Kaiser und auch die Pfarrer. Einmal wollen wir nicht mehr. Es ist Zeit, daß die alten Brandopfer zugeschüttet werden. Ein finsteres Zeitalter kann Stiere, Widder und Kinder opfern, aber wir wollen das nicht mehr. Der Mensch hat so vieles, was er opfern kann, aber seine Hände brauchen nicht blutig dabei zu werden. Aufstehen wollen wir, Jons, aufstehen! Auch im Stehen kann man beten.«

Er winkte ihnen mit der Hand und ging in den Schatten zurück.

Wenn sie später an ihre Kirchenweihe zurückdachten, war es ihnen, als hätte schon damals an dem blauen Himmel eine dunkle Wolke gestanden, gerade über dem Kirchendach. Aber da an diesem Tage nichts geschah, außer daß der Großvater Michael wunderlich war, so hatten sie es dem zugeschrieben, daß ein anderer als ihr Pfarrer ihre Kirche weihte.

Die Straße und alle Häuser waren mit Birken besteckt, als die Wagen einfuhren. Solange Sowirog stand, hatte es nicht so viele große Männer gesehen wie an diesem Morgen, und unter ihnen war der Landrat durchaus nicht der höchste. Sie sammelten sich auf dem Kirchenhügel, klopften mit den Fingerknöcheln an die Balken und bewunderten die schöne Aussicht. Auch ließen sie es nicht an Bemerkungen fehlen, sobald sie zur Insel hinüberblickten, wo dieser Pfarrer nun leben sollte. Auch ihnen fiel es auf, daß die Leute des Dorfes nicht so froh und dankbar waren, wie sie erwartet hatten, und daß die meisten am Ufer des Sees standen und auf etwas zu warten schienen. Sie sahen voller Staunen den Großvater Michael aus seinem Hause treten und langsam den Hügel hinaufkommen, barhaupt, mit dem Stab in der Hand, und über sie hinwegsehen, als seien sie Staubkörner an den Blättern der Bäume. Auch Jakob war ihnen merkwürdig und daß er einen Krüppel auf den Schultern trug und daß dieser Krüppel einen großen Kruzifixus für den Altar geschnitzt haben sollte.

Der Schulze stand mit seinem unbewegten Gesicht neben ihnen und gab die verlangten Erklärungen, und wenn einer der jungen Herren oder eine der Damen einen leisen Witz machten, über den Hirten Piontek etwa, der mit seiner Ringschleuder erschienen war, oder über Gonschors sehr krumme Beine, so blickte er sie an, wie man einen Stein anblickt, und sie sahen unbehaglich zur Seite.

Der Herr von Balk in seiner blauen Reiteruniform fiel nicht angenehm dadurch auf, daß er zuerst jeden einzelnen der Dorfbewohner begrüßte und dann vor dem feierlichen Kreis der Gäste seine rechte Hand nicht allzu gehorsamst an seine Tschapka legte. Auch stieg er bald auf seinen langen Beinen zum Ufer hinunter, wo er inmitten der anderen auf einem umgestürzten Kahn saß und mit seinem Säbel Figuren in den Ufersand schrieb.

Es war vereinbart worden, daß der Superintendent der Kreisstadt die Weihepredigt halten sollte, und als er angekommen war, meinte der Regierungspräsident, daß man nun wohl anfangen könne. Aber der Schulze schüttelte den Kopf. »Die Leute kommen noch nicht, Herr Präsident«, sagte er. »Sie warten noch, und so lange müssen wir auch warten.«

»Auf wen?«

»Auf ihn, Herr Präsident.« Und er machte eine Handbewegung über den See hin.

Als das Boot durch den ersten Schilfgürtel fuhr, strömte das ganze Dorf, soweit es noch nicht am Ufer stand, den Hügel hinab und holte den Pfarrer ein. Der Pfarrer war nicht betrunken. Er trug einen schwarzen Rock, und in den Händen hatte er eine junge, sehr schön gewachsene Fichte und einen Spaten. Sein Gesicht war alt und sehr ernst, und obwohl er keine Rührung zeigte, war es ihm anzusehen, daß es ihn freute, erwartet zu werden. Herr von Balk ging an seine Seite, und als sie den Hügel wieder hinaufkamen, sah es aus, als hätten sie nun den obersten ihrer Gäste eingeholt.

In diesem Augenblick begannen die beiden Glocken zu läuten, und der Pfarrer blieb einen Augenblick stehen, um zu dem niedrigen Turm hinaufzusehen, der von den Klängen zu erbeben schien. Der Landrat blickte finster über die Köpfe der Dorfbewohner hin, und allen Gästen schien es, daß sie hier eine merkwürdige, wenn nicht überflüssige Rolle spielten.

Der Gruß des Pfarrers wurde übersehen, aber er ging, ohne anzuhalten, bis zur Schwelle der Kirchentür. Dort blickte er lange durch den geöffneten Eingang auf den lebensgroßen Gekreuzigten, drehte sich zu Christean um, der auf seinen Krücken blaß und zitternd hinter ihm stand, und küßte ihn auf die Stirn. Dann nickte er dem Schulzen zu und trat zur Seite.

»Jetzt kann es beginnen, Herr Präsident«, sagte Grünheid höflich. Herrn Stillings Harmonium ertönte aus dem Raum der Kirche, und sie gingen langsam und zögernd hinein.

Während sie das Eingangslied sangen, grub der Pfarrer unweit der Tür seine Fichte ein, trat sie fest und saß dann eine Weile auf der Ecke der Schwelle, den Spaten zwischen den Knien und die Augen auf den Friedhof gerichtet, wo die Reihe der kleinen Hügel sich nun schon mit dünnem Grün bedeckt hatte. Er kam sich wie ein Ausgestoßener vor, er war weder zornig noch traurig. Er war nur so allein wie ein Mann, der einen andern Glauben hatte.

Als in der Kirche die Reden begannen, stand er auf und ging zum Jerominschen Hause. Dort saß er auf der Bank vor der Tür und blickte über die Dächer des Dorfes hin.

Der Landrat war der Meinung gewesen, daß nach der Feier für die Gäste und das Dorf ein gemeinsames Essen hätte stattfinden sollen, aber der Schulze hatte bemerkt, daß kein Bewohner von Sowirog aus der Kirche in das Haus des Krugwirtes gehen würde und daß es vielleicht auch für die »hohen Herrschaften« nicht angebracht sei, in einem Hause zu essen, wo einer der Söhne für die Zeit seines Lebens im Zuchthaus sitze. So hatte man auf jede Feier dieser Art verzichtet und blieb nur noch eine Weile vor der Kirchentür stehen, bis die Wagen vorgefahren waren und die Vertreter der Regierung noch hier und da ein paar Worte mit den Leuten gesprochen hatten.

Auch war noch eine amtliche Pflicht zu erfüllen, indem Michael Gogun, Kätner und Waldarbeiter, »In Anerkennung seiner besonderen Verdienste um den Kirchenbau« das Allgemeine Ehrenzeichen überreicht bekam.

Es war kein glücklicher Tag für Gogun, und in seinen Träumen war alles anders verlaufen. Sein Herz war bedrückt, weil er nicht genau wußte, ob Gott nicht schon begonnen hatte, wegen des Holzes mit ihm abzurechnen. Der Kindertod im Februar und daß der Pfarrer nun die Kirche nicht weihte und in Besitz nahm, waren Zeichen, die ihn mit Unruhe erfüllten. So trat er nur widerwillig vor, von seiner Frau in den Rücken gestoßen, als sein Name aufgerufen wurde. Er hörte zu, was der Landrat sagte, drehte die Medaille in seiner Hand hin und her, besah sie wie einen toten Vogel und steckte sie dann in die Tasche. Die große Rede, die er sich ausgedacht hatte, blieb ungesprochen, und er blickte mit schlechtem Gewissen dorthin, wo seine beiden Gefährten standen und ihm spöttisch zublinzelten.

Auch diese offizielle Handlung also hatte nicht die erwartete glanzvolle Wirkung, und der Landrat drehte sich ärgerlich um, ein höfliches Zeichen zum Aufbruch zu geben. Er war immer der Meinung gewesen, daß der Regierungspräsident in seiner Einschätzung der ländlichen Kreise sich bedenklichen Illusionen hingebe.

Dieser aber war gerade dabei, der ganzen, etwas mißglückten Feier einen versöhnlichen und herzlichen Abschluß zu geben. Er ging ein paar Schritte auf den Großvater Michael zu, der noch auf der Kirchenschwelle stand, auf seinen Stock gestützt, und über die Versammelten hinweg in die Ferne blickte. Die breite Tür war noch geöffnet, und vor der farbigen Dämmerung des Kirchenschiffes stand die hohe Gestalt wie die eines Propheten, schon ausgeschieden aus ihrer Mitte und in den Augen noch den Nachglanz seiner letzten Begegnung mit Gott.

Einen Augenblick lang war dem Regierungspräsidenten, als hätte er besser getan, diese Gebärde der Leutseligkeit zu unterlassen, weil man nie wissen konnte, was von so alten Leuten zu erwarten war, aber dann streckte er dem Schweigenden doch freundlich die Hand entgegen und sagte, einer plötzlichen Regung folgend, er möchte zum Abschied wohl wissen, was die Augen des »Veteranen von Sowirog« nun, nach dieser schönen Feier, in der Ferne für ein Bild der Vergangenheit oder Zukunft erblickten.

Michael sah die ausgestreckte Hand nicht, aber nach einer langen Pause, die vielen peinlich erschien, wandte er seine hellen Augen in die des Fragenden, ließ sie dort ohne ein Zeichen der Anteilnahme oder des Erkennens lange ruhen und sagte endlich, tonlos und wie ein Schlafender spricht: »Der Blasbalg ist verbrannt, das Blei verschwindet; das Schmelzen ist umsonst, denn das Böse ist nicht davon geschieden.«

Der Angesprochene stand noch eine Weile ratlos, dann nickte er zustimmend, als habe er den Sinn der Verse verstanden, verneigte sich leicht und ging zu seinem Wagen. Das letzte Gesicht, das er sah, war das des Herrn von Balk, der lächelnd mit einem weißen Tuch sein Einglas putzte. Aber es schien dem Präsidenten, daß dieses Lächeln besser ein Grinsen zu nennen sei.

»Gedachten die Insel der Phäaken zu finden, meine Gnädigste«, sagte ein junger Regierungsrat zu der neben ihm sitzenden Dame, »und fanden das Land der Pachulken ... ausgesprochene Pachulken!«

Sie lächelte, und da sie ehrlich war, ließ sie sich beide Namen von ihm erklären. »Ja«, sagte sie schließlich, »aber es war doch etwas dran an dem Alten. Etwas war an ihm. Und mir scheint, eine sehr glückliche Figur hat der Chef nicht vor ihm gemacht ... wie sollten wir auch heutzutage wissen, wie wir vor Moses zu stehen haben? Es ist so schrecklich lange her ...«

Es tat dem Pfarrer doch wohl, für eine Weile unter den Seinigen zu sitzen. Die Welt hatte sich ihm verengt auf der Insel, zusammengezogen auf das Bild seines Widersachers und sein eigenes Bild, und nur am Rande war die Frau gewesen, die seine Hütte in Ordnung hielt, die das Feuer im Herd entzündete und in den Nächten ihn wärmte, wenn der Schneesturm heulend über das niedrige Dach fuhr. Er sprach nicht über die Bibel mit ihr und auch nicht über sein Leben. Er ließ sich erzählen, wie sie ihren Kampf bestanden hatte, und oft konnte er dasitzen, lange Zeit, und nichts tun als ins Feuer blicken und eine dunkle Locke der Frau zwischen seinen Fingern bewegen. Es war, als habe er gesiegt, aber als habe Gott in diesem Kampf ihm eine heimliche Wunde beigebracht, von der er nichts sah, aber aus der unablässig das Blut in seine Spuren tropfte. Ein freudloses Leben hatte er gehabt, und was sein Amt und seine Zweifel von ihm übriggelassen hatten, das hatte seine Frau zerstrickt, mit ihren gerechten, erbarmungslosen Nadeln, die keine Masche fallen ließen. ›Der Blasbalg ist verbrannt, das Blei verschwindet.‹

Diese aber waren nicht gerecht oder erbarmungslos. Sie hatten die Glocken geläutet, als er den Hügel hinaufgestiegen war, als sei er kein abgesetzter Pfarrer, sondern der Hirte, der zu seiner Herde kam. Die anderen hatten ihn verleugnet, bevor der Hahn nur einmal gekräht hatte, aber diese hatten zu ihm gestanden, und Christean hatte in die Stirn des Heilands seine eigenen Falten geschnitzt. Ein bißchen Lästerer und ein bißchen Sünder waren sie alle, Göttliches und Menschliches vermengten sich bei ihnen wie bei Kindern, und es mochte schon etwas daran sein, daß dies eine gestohlene Kirche war, ein Spott auf Gottes Gebote und keine große Ehre für die Christenheit. Aber es war besser, unter ihnen zu leben als unter den Gerechten. Ein Pfarrer, der nicht mehr glaubte und statt dessen trank, gehörte unter die verlorenen Söhne.

Aber es war ihm wohl dabei. Ein stilles, trauriges Glück erfüllte ihn, und es war vielleicht nicht gut, daß sein Glas immer wieder gefüllt wurde. Aber alle tranken, am meisten Gogun, der sein Ehrenzeichen in das Auge zu klemmen versuchte wie der Rittmeister sein Einglas. »Keine Orden, Brüder«, sagte er zu Daida und Gonschor, die ihm gegenübersaßen, »kein Kirchenrat, keine Würde. Nur ein Stückchen Blech, auf dem Herzen zu tragen. Und so viele Nächte, Brüder, so viele Nächte ... und die Gräberchen auf dem Gottesacker ...« Er begann zu weinen, und seine Frau bückte sich schon nach einem Stein, den sie in ihr Taschentuch binden könnte.

Und doch war trotz Tränen und Spott das Glück bei ihnen. Die großen Herren waren gewesen, wie sie immer waren, der Pfarrer hatte ihre Kirche nicht eingesegnet und würde am Abend wieder betrunken sein, Gogun hatte keinen Orden bekommen, sondern ein Stückchen Blech. Aber sie hatten ihre Kirche gebaut, ganz allein, und der liebe Gott, der für ihre Kirche gesorgt hatte, würde auch für ihren Pfarrer sorgen. Gräber waren auf dem Friedhof, aber der Roggen trieb schon Ähren, neues Brot für neue Kinder. Der See war blau, die Fische sprangen über das stille Wasser, die Schwalben waren zu ihren alten Nestern heimgekehrt. Viele Dörfer lagen im Land, die keine Kirche hatten, keinen Pfarrer, der seine Schränke verkaufte, um Wein für die Sterbenden zu holen, keine Fische, wenig Brot. Die vornehmen Herren und Damen hatten sie angesehen, als wären sie Kälber mit zwei Köpfen, aber zwei Köpfe waren besser als gar kein Kopf, und der vornehmste aller Herren saß an ihrem Tisch. Er trank zuviel, er nahm ihnen die Mädchen fort, er war der Habicht über dem Wald, aber er war ein Herr, für den ihre Tränen aus Salz und nicht aus Wasser waren, und das war immer noch das beste Zeichen, ob jemand zu ihnen gehörte oder zur Welt, die hinter dem Walde war.

Die Sonne ging unter, die Reiher schwankten mit ihrem heiseren Schrei über das Dorf, aber sie tranken immer noch. Sie sangen Choräle und »Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst«. Es war ein schweres Jahr gewesen, und der große und der kleine Tod hatten sich ihr Teil geholt. Der Mond ging auf, und Gogun behauptete, daß zwei Kirchen auf dem Hügel ständen. »Weiß Gott, wo sie sich das Holz zur zweiten besorgt haben ...«, murmelte er tiefsinnig.

Dann befahl Balk ihm, auf der Harmonika den Zapfenstreich zu spielen, und sie standen alle auf und sangen »Ich bete an die Macht der Liebe«.

Darauf brachten sie den Pfarrer zu den Booten. Er ging aufrecht und hob die Hand in die Sterne. »Wir sprechen uns noch«, sagte er mit schwerer Stimme. »Ich verstecke mich nicht, ich bin immer zu finden ... verstecke auch du dich nicht hinter deinen Lampen, hörst du?«

Noch auf dem dunklen See hörten sie seine furchtlose Stimme.


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