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IV

Schon im August, als die Abende länger wurden, begann Jons Ehrenreich damit, sich um die Dämmerung von seinen Wegen und Spielen zu trennen und in das kleine Schulhaus zu Herrn Stilling zu gehen. Zuerst war es ihm bitter, den Hirten Piontek zu verlassen, gerade wenn die Pilze in die heiße Asche gelegt wurden, oder den Meiler, oder die Insel, über die der Fischadler strich. Aber auch bei Herrn Stilling gab es Lockungen und Wunder, nicht so zu greifen wie ein Netz oder ein Bogen, aber von andrer Art. Schon die stille Lampe war etwas, was es zu Hause nicht gab, wo die Küchenlampe unter den Balken den trüben Schein über sie alle warf, wo jeder ein anderes Handwerk hatte und jeder seine eigene Sprache sprach.

Hier aber gab es das erste Schweigen, das er außer dem des Waldes und der Sterne kannte, ein Schweigen, das von den Büchern ausging, die an den Wänden des Zimmers standen, von der Weltkugel auf dem niedrigen Schrank, von des Lehrers alten Händen, die so ehrfürchtig die Blätter umschlagen konnten. Und hier gab es auch eine zweite Welt neben der bekannten der Gegenwart und der Dinge des Tages, eine schweigende Welt, die versunken und zu Staub verfallen war, aber deren Zeugen immer noch von ihrer Herrlichkeit kündeten. Die alten Reiche, ihr Aufstieg und Untergang. Die alten Entdeckungen und der Glanz um ihre verblaßten Fahnen. Propheten und Märtyrer, Forscher und Weise. Sterne, Pflanzen und Steine. Reiche der Erdgeister und Reiche der Götter. Und alles eingefangen und beschlossen hinter der alten Stirn, die sonst die Fibel lehrte oder das Buch der Bücher und auf der es nun leuchtete wie vom Stern der Weisen oder wie von Aladins Wunderlampe, die man in die Schächte und Gewölbe niedertrug.

Vielleicht war Stilling kein guter Lehrer, keiner, der Stufe um Stufe nach einem bescheidenen Plan in die Höhe stieg, immer den prüfenden Blick auf den ihm Folgenden gerichtet und nach einem begrenzten Ziele ausgehend und nur nach diesem, während alles Darüberhinausgehende anderen, weiseren Händen überlassen blieb. Er hatte soviel geschwiegen in seinem Leben, er hatte vierzig Jahre lang wie ein Kind sprechen müssen, damit Kinder ihn verstünden. Nun kam es wohl wie ein Rausch über ihn, der Rausch des Einsiedlers, der seine Schätze ausbreiten konnte, der das Zauberwort sprach, und bei seinem Klang leuchteten die jungen Augen auf. Er konnte schenken, statt zu bewahren. Er hob sich mit Flügeln auf über Länder und Meere, und er wußte, daß er sein Leben nicht vertan hatte, daß es späte Frucht trug und daß sie süße Speise werden würde in den jungen Händen.

Er erkannte früh, fast mit Erschrecken, welch ein glühender Hunger und Durst unter den dumpfen Rohrdächern sich in Geschlechtern sammeln konnte. Wie die Fron und Unterdrückung des Leibes, durch Jahrhunderte lastend, den Geist im Schlafe lassen konnte, ruhend wie ein tief versenkter Keim, bis die Erde über ihm aufbrach, durch ein Wunder, für das es keine Erklärung gab, und er nun wie eine Flamme herausschlug, die nach Nahrung suchte.

Noch wußte er nicht, woran sie brennen würde. Noch reichte er ihr nicht mehr als die Elemente hin, und seine Augen, wachsam und ängstlich bei allem Rausch, versuchten noch vergeblich zu erkennen, wohin der Geist in diesem Kinde dränge. Er übersah, daß ein Hungriger nur nach Speise verlangt. Doch konnte ihm nicht entgehen, daß das Herz seines kleinen Schülers schon zu unterscheiden begann und daß es bei dem Schicksal von Völkern anders schlug als bei den Bahnen der Sterne. »In der Bibel steht, daß Gerechtigkeit auf dem Acker hausen wird, Herr Stilling«, sagte er einmal, als der Lehrer vom Untergang Karthagos gesprochen hatte. »Aber mein Vater sagt, daß wenig Recht bei den Armen ist.«

Da versuchte der Lehrer, ihm zu erklären, daß das Reich Gottes und das Reich der Könige zweierlei Reiche seien, daß die Welt noch weit von dem entfernt sei, was die Propheten und nach ihnen Christus verkündet hätten; daß sie alle aber so leben müßten, als werde es schon morgen kommen und nur dann kommen, wenn sie ihr ganzes Leben dafür hingäben. Doch erschrak er hier zum erstenmal, indem er erkannte, daß sein Schüler vielleicht einmal »am ersten« nach dem trachten würde, wonach die Armen am leidenschaftlichsten trachteten, nach der Gerechtigkeit. Und da er wußte, daß kein Weg dieser Erde dornenvoller war und kein Schicksal gewisser als das derjenigen, die gegen die Gewalt aufbegehrten, so fragte er sich zum erstenmal, ob er selbst nun auch recht daran tue, ein Kind aus dem Dunkel seines Geschlechtes herauszuführen, es mit unvollkommenen Waffen zu versehen und es dann hinauszuschicken gegen eine Festung, die noch niemand bezwungen hatte, solange die Erde stand, aber vor der die Opfer aller Zeiten mahnend lagen, mit zerbrochenen Helmen und zerschnittenen Schilden.

Es erschreckte ihn so, daß er Jons mit einem Scherzwort nach Hause schickte und vor seiner Lampe sitzenblieb, in verzagten Gedanken den Weg der Menschheit bedenkend, insbesondere der Propheten und Märtyrer aller Zeiten. Er verhehlte sich nicht, ein wie winziger Teil der Welt ihm aus Leben und Anschauung bekannt war und daß alle Bücher, die von dem Ganzen der Welt sprachen, eben von Menschen geschrieben waren, dem Irrtum unterworfen, der Parteilichkeit und der Leidenschaft. Daß die Welt nicht von Büchern regiert wurde, sondern von der Tat, und daß die Taten anders ausgingen, als sie nach den Büchern hätten ausgehen sollen. Daß die Ordnung dieser Welt, wie sie von Gott eingesetzt war, nicht nur Menschengerichte enthielt, sondern ein Weltgericht verkündete, daß sie also schon bei Beginn der Schöpfung das Unvollkommene, ja das Ohnmächtige alles Menschengerichts gewußt haben mußte. Daß das Weltgericht über dem Menschengericht wie das Jenseits über dem Diesseits stand, als eine Tröstung also oder Verheißung, und daß die Gerechtigkeit also ein Traum war wie das Reich Gottes, nie zu erfüllen auf dieser Erde, aber mit Opfern zu bezahlen, als könnte sie erfüllt werden. Eine große Pflicht oder eine große Täuschung, wie alles andre, ein Ungewisses, das nur zu glauben war und in das er das Kind hineinstieß.

Er hätte es im Frieden leben lassen können, als ein Köhler oder Fischer etwa, im Engen und Halbdunklen, aber für den Gang der Erde so notwendig wie seine Väter und Ahnen. Er hatte es aus dem Sicheren herausgenommen und in das Schwankende gestellt und war nun dabei, ihm die Kinderwaffen umzuhängen, mit denen es gegen die Riesen kämpfen sollte. Nicht der Sieg war ihm gewiß, sondern nur der Tod, und vor dem Tode die Leiden aller, die ihr Leben an eine Idee gegeben hatten.

Er stand auf und trat an das offene Fenster so voller Bestürzung, als habe er seinen Dienst versäumt oder eine Urkunde gefälscht. Tat er das Gute um des Guten willen, wie Balk gemeint hatte, oder war nicht auch Eitelkeit dabei? Einsamkeit des Alters und das Begehren, ein Korn aufgehen zu sehen, nachdem er Tausende verstreut hatte?

Die Dächer des Dorfes lagen schwarz unter den entlaubten Bäumen. Kein Licht schien aus einem Fenster, nur die ungeheure Kuppel der Sterne wölbte sich funkelnd über den schlafenden Hütten. Die Luft roch nach Pilzen und verwelkendem Laub, ein bitterer, strenger Geruch, der an weite, entlaubte Wälder erinnerte und an Wolken, in denen schon der Schnee hing.

Der Lehrer sah zu den Sternen auf, und der alte Trost floß wieder von ihnen herab. Es konnte doch nicht unrecht sein. Schon daß sie da waren, erfüllte ihn mit der Gewißheit, daß es nicht unrecht sei. Wenig kam es auf das einzelne, vergängliche Leben an, wenig auf Sieg und Gewinn. Seinem einfachen Sinn schien das Ewige nicht für sich da zu sein, sondern daß der Mensch daran teilhabe, auch der ärmste und niedrigste. Er brauchte nicht die Welt zu bewegen, wie Jakob sagte, aber wenn er nur einmal den Gedanken als einen schönen Gedanken fühlte, daß Gerechtigkeit auf dem Acker sein müsse, dann hatte er sich schon angeschlossen an die Ewigkeit. Er hatte die Grenze des Dorfes überschritten, seine Herkunft und Geburt, ja die Grenzen seiner Zeit, und sich an etwas Grenzenloses hingegeben. Er war aus sich hinausgetreten und in den großen Kreislauf eingeschlossen worden, und vielleicht war es nur dieses, was man »von Gott sein« nannte. Die Pfarrer wußten so viel davon, sie hatten eine ganze Wissenschaft von Gott gemacht, einen großen Bau, in dem sie auf und ab stiegen wie die Maurer auf Leitern und Gerüsten. Aber das einfache Herz fror in diesem Bau und verirrte sich. Es wollte, daß wieder alles so einfach sei, wie es zu den Zeiten der Erzväter gewesen war. Daß sie nur seinen Willen taten und nichts mehr, und das andre würde ihnen von selbst zufallen.

›Wir wollen es wachsen lassen‹, dachte er. ›Es wächst ja doch alles zu Gott.‹

Indessen ging der kleine Jons seinen Weg ohne Zweifel und Bedrückung. Wenn er vom Lehrer heimkam, ein winziges Menschenkind unter der ungeheuren Sternenwelt, und in die Küche trat, wo das Feuer im Herd brannte und die alte Welt so unverändert war wie immer, kam es ihm wohl manchmal wie ein Traum vor, daß er eben weit fort gewesen war, daß die Erde so groß war und die Zeit nach Tausenden von Jahren zählte und daß es so viele Dinge gab, von denen nicht einmal der Großvater wußte. Aber er war noch viel zu jung, als daß er in Hochmut oder Zwiespalt hätte fallen können, und es hätte nicht der Frage seiner Mutter bedurft, ob die alten Babylonier auch Buchweizenbrei zum Abendbrot gegessen hätten. Sie war immer noch der Meinung, daß ihre Kinder gedämpft werden müßten, sobald ein neues Feuer in ihnen zu sehen war.

Gotthold war nun in der Kreisstadt in der Lehre. Er verkaufte nicht mehr Heringe und Peitschenstiele, sondern Hemden- und Kleiderstoffe und mitunter ein seidenes Halstuch. Er kam nicht mehr nach Hause und schrieb auch keine Briefe, aber Jakob hatte ihn einmal in den Straßen getroffen, einen jungen Herrn, der sein Sohn war und der lächelnd die Hand auf seinen Friesärmel gelegt hatte.

Friedrich hatte nun entschieden, daß er ein Fischer werden wolle wie sein Großvater, und Michael kam zum Schlafen nicht mehr ins Haus. Sie waren weniger geworden, auch in der Kammer oben, und wenn sie das Licht gelöscht hatten, konnte Jons ihnen erzählen, was Herr Stilling ihm erzählt hatte. Maria hörte mit verwunderten Augen zu, in denen schon der Traum stand, und noch ehe Jons über die Einleitung hinweggekommen war, hörten sie den tiefen Atem ihres Schlafes. Gina stellte nie eine Frage und äußerte niemals Unglauben oder Verwunderung. Sie lag da, die strengen Augen weit aufgeschlagen, die Hände unter dem Kopf gefaltet, und blickte auf das dunkle Fensterkreuz vor den matten Scheiben. Niemand wußte, was in ihr vorging, Frohes oder Trauriges. Sie war ein gefangenes Tier, das in Erbitterung geradeaus sah.

Aber Christean hörte zu, regungslos, auf einen Arm gestützt, während die Falten in seinem alten Gesicht schärfer und tiefer wurden von der Anteilnahme, die ihn verzehrte.

Hinter den kleinen Fensterscheiben funkelte ein einsamer Stern, oder der Mond legte einen matten Glanz über den dunklen See. Eine Maus arbeitete hinter dem Gebälk, und unten in der Küche zirpte ein Heimchen an der warmen Asche. Es war schon so kalt, daß ihr Atem im Mondlicht zu sehen war und Jons den Arm bisweilen unter die Federn schob, mit dem er Kreise und Zeichen in die Luft geschrieben hatte. Aber er wurde nicht müde, von den Wundern der Welt zu erzählen, so wie Christean niemals müde wurde, ihm zuzuhören.

Keiner von ihnen dachte daran, was in dieser Kammer schon geschehen sein mochte und ob sie wohl die ersten waren, die diese Wunder der Welt unter den sich schon neigenden Balken ausbreiteten. Niemand hatte die Geschichte dieses Hauses geschrieben, und sie wußten nur, daß der Vater des Großvaters hier schon als Kind geschlafen hatte. Nur die schweigende Gina, von der sie glaubten, daß sie schlafe, versuchte sich auszudenken, was für Kinder hier geschlafen hätten, ob sie alle so im Dunklen hätten leben müssen wie sie selbst und ob im Dreißigjährigen Krieg einer der Schweden oder Tatern hier gestanden hätte, nach Mord oder Plünderung, mit blutigen Händen und versengtem Haar, während auf dem gleichen Bett das Opfer seiner Schändung gelegen hätte.

Ihre Gedanken waren nur zur Hälfte bei dem, was der Bruder erzählte, und sie wartete darauf, daß er ihnen erklärte, wie der Schwarzspecht mit der Springwurzel die unterirdischen Höhlen öffnete oder wie man ausziehen könnte, um reich und glücklich zu werden, eine Prinzessin, die von goldenen Tellern aß, während die Mutter in grauen Kleidern und barfuß die schimmernden Fußböden aufwischen mußte.

Aber davon erzählte er nichts, und so fuhr sie fort, den Stern vor dem Fenster zu betrachten, wie er über das Kreuz in der Mitte wanderte und endlich verschwand. Nach zwei Jahren würde sie eingesegnet sein, und dann würde sie in die Stadt gehen, nicht in die winzige Kreisstadt, sondern weiter fort, bis in die Hauptstadt, wo die Frauen keine Strümpfe aus Schafwolle trugen, wo sie ihre Lippen mit roter Farbe malten und auf einem Thron saßen, an dessen Stufen die Herren der Erde knieten. Und keine Kammertür und kein Riegel sollten sie halten, kein Bitten des Vaters und kein Fluch der Mutter.

Noch lange aber, nachdem sie eingeschlafen war und Jons verstummt war, lag Christean wach, der einzige Wachende im ganzen Dorf. Er wußte, daß sein Kopf alle diese Wunder ebenso begreifen würde, wie Jons sie begriff, und daß er vielleicht nur zu fragen brauchte, ob Jons ihn nicht mitnehmen möchte zu diesen Abenden. Und wenn es ihm zu mühsam wäre, den alten Wagen zu schieben, würde er auf seinen Krücken bis zum Schulhaus gehen, ja, er würde hinkriechen, wenn es nötig wäre, nur um dort auf der Schwelle zu kauern und zu lauschen. Aber er wußte, daß er das nie fragen würde. Daß er lieber sterben würde, als das zu fragen. Und daß Jons nun bald fortgehen würde, in die Stadt, auf eine hohe Schule, und niemand mehr in dieser Kammer von den Wundern der Welt erzählen würde. Eine tiefe, grenzenlose Verzweiflung erfüllte ihn dann bis in seine gelähmten Füße, und er lag da wie ein Gefangener im Kerker, zu nichts nütze, als daß die Eltern ihn mitnahmen auf ihr Altenteil und er mit seinen geschickten Händen Figuren aus Holz schnitzte, Rehe und Hasen, Geister und Zwerge, und sie am Rande des Herdes aufstellte, wo die rote Glut sie bestrahlte und ihnen den lebendigen Odem einblies, den er nicht in seiner Macht hatte.

Im Frühjahr schien es einmal, als würde auch Jons sich von Dorf und See und Wald nicht lösen können, wie Michael. Stilling bemerkte es zuerst. Nicht etwa daran, daß Jons es nun an etwas hätte fehlen lassen, aber er hatte nun während ihrer Stunden das, was der Lehrer das Zweite Gesicht nannte. Nicht daß er Tote sah oder dem Tod Geweihte, aber neben der Welt, von der sie gerade sprachen, sah Jons nun noch eine zweite Welt, die der großen Stadt, in die er nach einem Jahr kommen sollte. Sie schwebte wie ein verschleierter Hintergrund hinter der Welt, von der sie gerade sprachen, kaum bewußt, aber sie war immer da, und der Lehrer merkte es aus den Fragen, die Jons in den Pausen an ihn richtete. Ob es dort Wälder gäbe und Seen, ein Moor und eine Schafherde, und ob man am Abend, wenn die Arbeit für die Schule fertig sei, schnell einmal hinlaufen könne und auf einem Grabenrand sitzen.

Noch einmal erschrak Stilling, mehr als damals über Michael, aber er war zu rechtlich, als daß er mit einer billigen Lüge den Fragenden hätte trösten können. »Alles das gibt es nicht, Jons Ehrenreich«, sagte er, »oder wenigstens nicht so nahe wie hier. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Sondern darauf, daß du schon als ein Kind erkennst, daß man für alles bezahlen muß, was man gewinnt. Du wirst mit dem Heimweh bezahlen, das weiß ich, und mit Heimweh zahlt es sich schwer. Aber eines mußt du wissen: wer lieber unter seinem Dach bleiben will, arm und ungekannt, ist nicht wert, daß er die Rüstung des Geistes anlege. Er ist nicht geringer als die andern, er ist nicht einmal zu tadeln, aber die Rüstung ist er nicht wert. Er wird nicht zum Ritter geschlagen, weil er sich vor dem Schlag fürchtet, und er bleibt ein Leibeigener sein Leben lang, oder ein Dorfeigener, oder wie du es nennen willst.«

Darauf sprach Jons lange nicht mehr von der Stadt, aber es war nicht dies Gespräch, das alles entschied. Es war Jakob, der den Ausschlag gab, und niemand wußte, ob er es mit Absicht tat. Es hatte geschienen, als nehme der Vater keinen Anteil an dem, was Jons in dieser Zeit geschehen war. Wenn er vom Meiler oder vom See heimkam, was selten genug geschah, so saß er still am Herd, die Hände zwischen den Knien, und blickte ins Feuer. Er tat keine Arbeit, wenn der Feierabend gekommen war, und man wußte nie, ob er nachdenke oder träume oder schlafe. Kam Jons nun am Abend von der Schule zurück, schweigsam oder eifrig von dem berichtend, was er eben gelernt hatte, so blickte Jakob weiter ins Feuer, und niemand bemerkte, daß er manchmal die Hände zwischen den Knien faltete oder aus seinen tiefliegenden Augen einen schnellen, verstohlenen Blick auf Jons warf. Er war so still, daß sie niemals bemerkt hatten, ob er etwas tat oder nicht.

Aber lange bevor der Lehrer es erfahren hatte, war für Jakob klar gewesen, daß hier eine frühe Entscheidung fiel. Er allein wußte, wie oft Jons bei der Herde war oder auf der Insel beim Großvater oder allein auf dem öden Moor. Er allein bemerkte das Neue und Besondere in seinem Lachen oder Schweigen und ob er nun öfter von Alexander dem Großen oder von dem Hirten Piontek sprach. Er hatte niemanden, mit dem er sich beraten konnte. Er entsann sich auch nicht, daß er jemals jemanden gehabt hätte. Er hatte das alte Buch mit den großen Buchstaben und den Rauch des Meilers. Und es war ihm schwer, nun etwas zu sagen oder zu tun, während das Feuer in einer jungen Brust erglühte oder erlosch.

Er wartete, bis Jons zum Meiler kam, wo er nun seltener war als früher. Der Sommer war schon da, Wind ging über den Wald, und aus dem schweren, zerklüfteten Himmel fiel ein graues Licht in den Abend. Die Rauchsäule des Meilers stieg nicht mehr still unter den Mond, sondern der Wind erfaßte sie und trieb sie über die Lichtung hin und her. Der Kuckuck rief noch aus dem hohen Wald, aber die Schatten zwischen den Fichten waren kalt, und es war gut, die Hände an das Feuer in der Hütte zu halten.

Jakob hatte für sich in der Bibel gelesen und saß nun still am Feuer. »Du bleibst wohl nicht heute nacht?« fragte er.

Seine Stimme war nicht trauriger als sonst, aber in diesem Augenblick sah Jons, wie alt sein Vater geworden war. Sein Haar war noch immer hell, ohne graue Fäden, die Falten um seinen Mund nicht anders als sonst, aber wie er so dasaß, die Hände zwischen den Knien, lag eine solche Verlassenheit über seinen gebeugten Schultern, als sei er an den Meiler gebannt und werde niemals mehr zu den Menschen zurückkehren.

Es durchfuhr Jons so, daß die Tränen ihm in die Augen schossen und er eine Weile warten mußte, ehe er antworten konnte. »Natürlich bleibe ich, Vater«, erwiderte er.

»Es ist nur, weil du lange nicht hier warst«, sagte Jakob scheu.

Sie sprachen nicht mehr, bis sie beide auf ihrer Laubstreu lagen. Das Feuer glühte nur an den Rändern eines schweren Klotzes, den Jakob auf die Asche gelegt hatte. Der Wind wurde stärker und brauste in den hohen Wipfeln und über dem Dach der Hütte. Manchmal schlug der Rauch vom Meiler durch die offene Tür herein, eine schwere Woge von Kohle und Harz, und ging dann durch den Schornstein wieder hinaus. Manchmal auch verstummte der Wind, und sie hörten ihn dann über die Kronen fortgehen, die fernen Hänge hinab, mit einem traurigen Ton, der sich in der Ferne verlor.

Noch niemals hatte Jons darüber nachgedacht, wie es für den Vater sein würde, wenn er fortginge. Nach einem Jahr vielleicht schon würde auch Maria gehen, in den Dienst, vom Dorfe fort. Dann würde er ganz allein sein, Tag und Nacht, den Meiler vor sich und die Sterne über sich. Keines seiner Kinder würde zu ihm kommen und auch die Mutter nicht. Er würde so verlassen sein wie ein Stein, und niemand würde wissen, ob Licht oder Schatten über ihn fallen würde.

Er wußte nicht, wie er es sagen sollte, was sein Herz bewegte. Er streckte nur die Hand aus, ob er den Vater vielleicht erreichen könnte. Aber da sprach der Vater schon: »Schläfst du schon, Jons?« fragte er leise.

»Nein, Vater.«

»Ich wollte dir noch etwas sagen, Jons ...« Eine lange Weile war es still, und nur der Wind kam wieder, warf sich in die Tür und zischte im Grase auf dem Hüttendach.

»Es ist so, Jons, daß ich gemerkt habe, wie es dir schwerfällt, fortzugehen.«

»Ja, Vater, einmal war es so, und leicht wird es nicht sein, aber ich weiß nun, daß ich gehe.«

»Ist es wirklich so, Jons?«

»Ja, Vater.«

Er hörte, wie das Laub sich rührte unter einem tiefen Atemzug, und vielleicht faltete der Vater die Hände.

»Es ist so, Jons, daß ich mich freue darüber ... Siehst du, es war mit Michael schon einmal so. Sie haben mir nichts gesagt, der Lehrer nicht und Michael schon gar nicht. Keiner sagt mir etwas. Aber ich habe es doch gewußt. Auch er sollte fort, aber er wollte nicht. Er wollte nicht von hier fort, und vielleicht war es gut so. Er ist zu stolz für die Stadt und daß man vielleicht über seine Kleider lacht.

Dann war lange nichts, und ich habe meine Hoffnung begraben. Man begräbt nicht nur Kinder. Ich habe gedacht, vielleicht wird es einer von euren Söhnen sein, oder von euren Enkeln. Man muß warten können, aber ich hätte es doch gern erlebt.

Siehst du, was wir damals lasen: ›Und das Recht wird in der Wüste wohnen und Gerechtigkeit auf dem Acker hausen.‹ Ich wollte, daß einer von euch dafür auszieht. Nicht, daß er es gewinnen würde. Das kann kein einzelner Mensch. Aber daß er dafür kämpfen würde, mit anderen zusammen. Daß er ein Streiter werden würde und vielleicht die Welt bewegen. Das wollte ich.

Der Großvater hat es nicht gekonnt und ich auch nicht. Als ich jung war, da war mir das Wort gegeben, und deine Mutter hat wohl gedacht, daß ich etwas Großes werden würde. Aber ich blieb immer nur ein kleiner Mann, auf dem See und am Meiler und im Walde. Ich hatte viele Sorgen, und ich fürchtete mich auch. Nicht vor den Gefängnissen oder dem Tode, aber vor dem Spott der Menschen. Es ist so, daß sie heute nicht mehr mit Schwertern zuschlagen oder aufs Rad flechten, aber daß sie spotten, und das ist schlimmer als das andere. Wenn heute ein Kätner oder ein Köhler in die Stadt kommt und sagt: ›Tut Buße!‹, dann ist das ein schöner Tag für sie. Sie brauchen nicht in die Komödie zu gehen, sie haben es umsonst. ›Sieh mal seine Schuhe!‹ würden sie sagen, oder ›Sieh mal, wie er mit den Händen herumfährt!‹ Und davor hätte ich Angst.

Aber ich habe nun dies Dorf gesehen, wie sie hier leben, und in tausend anderen Dörfern leben sie ebenso. Und ich habe auch den Landrat gesehen und viele Pfarrer, und als ich Soldat war, habe ich auch die Stadt gesehen und einmal auch den Kaiser von weitem.

Und mein Großvater hat noch gesehen, wie der Herr sie peitschen ließ, weil sie ein Wildschwein aus ihrem Hafer getrieben hatten. Und er hat sie so lange peitschen lassen, bis ihre Frauen sie in den Sarg haben legen können. Das hat er gesehen und manches andre, wovon du erst später wissen wirst.

Und das hat mir niemals Ruhe gelassen. Gott hat mir vielleicht eine Waage in die Brust gelegt, neben das Herz. Und ich habe gedacht, wenn einer von euch ein Streiter würde, dann könnte er das alles auslöschen. Nicht ganz auslöschen vielleicht, aber so machen, daß es nicht mehr brennt. Denn es brennt hier drinnen, verstehst du das, Jons?«

»Ja, Vater.«

»Und deshalb war es mir so schwer, daß auch du nicht wolltest. Daß ich in die Grube fahren sollte, und keiner würde es ausgelöscht haben.

Ich weiß, daß es uns hält hier, das Dorf und alles andre. Es ist nicht nur das Land, es ist auch die Armut und daß wir hier im stillen leben. Sie haben uns nicht umsonst gebeugt, so viel Geschlechter lang. Sie können den Strick ruhig loslassen, wir laufen nicht mehr davon.

Ich weiß auch, daß es schwer sein wird. Als ich Soldat war, habe ich viele Nächte an der Mauer gestanden. Es war nicht schwer hinüberzukommen. Es war auch nicht, weil ich nicht die Uniform tragen oder dem Kaiser nicht dienen wollte. Aber es war der Wald und der See und der Ahorn am Giebel und der Ziehbrunnen am Abend. Sie sagen, daß es das Heimweh ist und daß man daran sterben kann.

Aber ich bin nicht gestorben, und auch du wirst nicht sterben, Jons. Ich denke, daß wir erst sterben, wenn Gott nichts mehr zu tun hat für uns. Und ich, siehst du, ich konnte nicht eher sterben, als bis du geboren warst. Du warst der Letzte, und ich erschrak, als die Mutter den Namen für dich aussuchte. Es war zu früh und es hätte dich verderben können. So wie es Gotthold verdorben hat.

Und wenn du nun gehst, Jons, mußt du wissen, daß du einen Baum von meiner Brust wälzest. Auch wenn du an der Mauer stehst in der Nacht, mußt du daran denken. Ein Kind kann das Sterben leicht machen, auch wenn es nichts mit dem Leben gewesen ist. Ein Geschlecht stirbt erst, Jons, wenn keiner mehr die Hände reichen kann. Auch wenn es sieben Kinder sind oder siebzehn. Aber einer muß die Hände reichen. Eine Zuflucht vor dem Wind und ein Schirm von dem Platzregen, weißt du noch?«

»Ja, Vater.«

»Dann wollen wir schlafen, Jons. Es ist eine schöne Nacht. Lange war keine so schön ...«

Leise wühlte die Glut in dem schweren Klotz, und der Regen begann auf das Dach zu fallen. Der Wind wurde still, und ein schweres Rauschen stand über dem ganzen Wald. Es war warm in der Hütte, aber Jons zitterte. Er wäre gern zu dem andern Lager gegangen, aber er wagte es nicht. Er wußte nun, weshalb er fort mußte. Der Lehrer wußte es auch, aber nur der Vater wußte es ganz. Niemand hatte ihm gesagt, was man nun werden müßte, um die Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen, aber das würde er schon sehen. Ein Pfarrer wahrscheinlich, oder ein Richter, oder auch ein Landrat. Oder einer, der nur umherzog und predigte. Und wenn sie über die Schuhe lachten, konnte man barfuß gehen. Und wenn er an der Mauer stand, würde er an den Vater denken, nur an den Vater ...

Einmal erwachte er davon, daß Jakob aufstand und zum Meiler ging, aber nur seine Augen und Ohren erwachten, alles andre blieb im Schlaf. Der Regen rauschte immer noch, ein fernes, stilles Brausen, das wie ein schwerer Vorhang fiel. Gebeugt war der Vater, aber sein Gesicht in der Dämmerung war schön wie eine Blüte, über die der Regen gefallen war.

Nachher stand der Vater noch über seinem Lager und lauschte auf seinen Schlaf. Jons versuchte, eine Hand zu heben, aber sie war zu schwer. »Barfuß kann man gehen ...«, murmelte er, aber Jakob verstand ihn nicht.

Danach war es den Rest des Jahres für Jons leichter. Von allen Jerominkindern hatte er den strengsten Sinn für eine Pflicht, die zu erfüllen war, und als er, schon im Herbst, einmal in schweren Sturm hinausgerudert war, um die Netze, die Friedrich in einer weit entfernten Bucht vergessen hatte, zu holen, hatte der Großvater ihn am Ufer erwartet und nur genickt. Aber nachher, als er sich am Feuer trocknete, hatte der Großvater plötzlich gesagt: »Ein getreuer Knecht bist du, Jons.« Zwar hatte Friedrich aus der Ecke eine fröhliche Fratze geschnitten, aber Jons war doch vor Stolz errötet und vergaß es nicht.

Er hätte gern gewußt, was der Großvater nun dazu meine, daß er fortgehe, aber Michael tat, als wisse er nichts davon. Er war nur ganz wunderlich geworden, antwortete nicht, wenn man ihn fragte, und sah nur immer vor sich hin, als zögen die hundert Jahre seines Lebens immer noch stumm, aber in unaufhörlicher Bewegung vor seinen Augen vorüber. Die Leute fürchteten sich vor ihm, wenn er einmal die Dorfstraße entlangging, auf seinen Stock gestützt, aber immer barhaupt und gerade wie ein Licht. Er erwiderte keinen Gruß, aber jeder sah, daß es nicht aus Hochmut geschah, sondern weil er nicht mehr unter ihnen war. Er ging schon auf die Stufen der goldenen Stadt zu, und sein Kopf war immer leicht zur Seite gewendet, als höre er eine ferne Musik oder einen Ruf aus den Wäldern.

Manchmal blieb er auch für Wochen auf der Insel im See. Dort sahen sie ihn in der Nacht am Feuer sitzen, wie einen Häuptling bei der Totenklage, und oft lauschten sie, ob nicht ein eintöniger Gesang herüberkomme, aber es war alles still. Nur die Taucher riefen, und der Schrei der Rohrdommel kam dumpf aus dem Schilf. Friedrich war nicht gern drüben, allein mit dem Schweigenden. Er brauchte Mädchen und Lieder, ging von Haus zu Haus, scherzte mit den Alten und Kindern und schlief in einer Scheune oder unter dem Boot, noch immer ein Rattenfänger, noch immer die Flöte in der Tasche und noch immer hin und wieder die erschreckte Trauer in seinen hellen Augen.

Jons hatte nicht aufgehört, beim Hirten Piontek zu sitzen oder auf der Insel, aber es war nun anders als früher. Er wußte, daß er dies nun zurücklassen mußte, aber es war ihm nicht mehr die einzige Welt, die es gab, seit sein Vater mit ihm gesprochen hatte. Ja, manchmal war es ihm, als lasse er sie nur für eine Weile zurück, um nachher mit der »Gerechtigkeit« für sie wiederzukommen. Wie es sein würde, wußte er nicht, aber wenn sein Vater daran glaubte, würde es eben sein.

Auch Piontek würde es dann besser gehen. Piontek war alt, fast so wie der Großvater, nur daß er klein und gebeugt war, daß er silberne Ringe in den Ohren trug und ein Gesicht wie eine Wurzel hatte, die man manchmal im Walde fand. Er hatte sein Leben lang nichts anderes getan, als die Kühe und Schafe des Dorfes gehütet, wenigstens wußte er es nicht anders, und sein Leben lang hatte er mit den Förstern des Herrn von Balk im Kampf gelegen, weil er im Walde immer dort weiden wollte, wo sie es nicht wollten. Denn nur er wußte, wo das beste Gras wuchs, von dem die Butter gelb und herrlich wurde. Davon waren seine Augen scharf geblieben und die Bewegungen seines Kopfes wie die eines Vogels, sein Tritt lautlos und die Geheimnisse ohne Zahl, die der Wald ihm verraten hatte. Er strickte lange Strümpfe aus Schafwolle – »über die Knie, Jons, denn in die Knie fährt der Teufel zuerst –«, flocht Körbe aus Birkenrinde und machte Schnupftabakdosen, die in allen Dörfern um den See berühmt waren. Er konnte noch Vögel mit Leimruten fangen, und er hatte schon die Kühe gehütet, als der Wolf noch in den Wäldern lebte und die Hirten ihm mit einem Feuerbrand und einem Stab mit einer Eisenspitze zu Leibe rückten.

An seinem Feuer zu sitzen, war für Jons dasselbe wie eine Reise zum Orinoko. Und hier ging ihm wohl zuerst der Sinn dafür auf, daß nicht nur die Welt in Herrn Stillings Büchern voller Wunder war. »Ja«, sagte Piontek, »das war damals, als Kuba Gawlik hier Schulze war. Damals hieß es ›Woit‹, und der alte Kaiser war noch lange nicht auf dem Thron. Der Kuba war ein Mann wie ein Baum, und damals fanden wir am Morgen jedes Kalb, das sich verlaufen hatte, mit gebrochenem Genick, die Augen nach hinten. Und jedesmal hatte einer geheult, im Moor oder auf dem Feld, und sie sagten alle, daß es ein Wolf war. Aber ich wußte, daß es kein Wolf war. Ich hatte noch Hosen, die hinten zu knöpfen waren, aber ich wußte schon, daß es kein Wolf war. Ich war es auch, der merkte, daß Kuba nicht auf dem Hof war nach solcher Nacht, und sonst stand er immer am Tor und zog mir mit der Peitsche eins über. Da wußte ich, daß er ein Werwolf war.

Da nahm ich ein Eisen aus dem Wald, das dem Förster gehörte und mit dem er den Fischotter fing. Das waren zwei lange Stangen mit spitzen Eisen dazwischen, und das stellte ich zwischen zwei Torflöcher und versteckte mich. Und als der Mond aufgegangen war, brüllte ich wie ein Kalb, das sich verlaufen hat. Ich konnte das gut. Und da sah ich ihn über das Moor kommen.«

»Ach, Piontek ...«

»Da sah ich ihn über das Moor kommen, und keiner hat solch einen Wolf gesehen. Ich betete das Vaterunser und den ersten Artikel, aber ich brüllte immer weiter. Und da trat er in das Eisen. Er schrie, aber wie ein Mensch schreit und nicht wie ein Wolf. Da warf ich die Ringschleuder und traf ihn gegen die Stirn, und ich hatte sie in die Farbtonne gelegt, wo die Frauen ihre Röcke färbten.

Da sprang er mit dem Eisen davon, quer durch die Birken, und es war eine breite Spur, und Feuer war in der Spur. Ich aber blieb ohne Sinne, bis der Tau in meine Augen fiel.

Am Morgen aber führte ich sie in sein Haus, und sie ließen sagen, daß ein fremder Mann erschlagen auf dem Moor lag. Da kam er heraus aus seiner Kammer, und sie sahen, daß seine Kleider zerfetzt und voll Blut waren und daß er auf der Stirn ein blaues Mal trug, zwei Ringe ineinander, wie ein Zauberzeichen. Da wollten sie ihn binden, aber er sprang durchs Fenster, ein schwerer Mann, und das Fensterkreuz nahm er gleich mit. Und keiner hat ihn mehr gesehen.«

Er schüttelte eine Prise in die Höhlung über seinem linken Daumen und zog sie auf. »Ja, das waren noch Zeiten, Jons«, sagte er nachdenklich.

Und Jons, der dazu erzogen wurde, die Welt zu bewegen, glaubte jedes Wort und starrte über das kleine Feuer auf das Moor und lauschte auf den Tropfenfall hinter sich im Wald. Es war ihm, als müßte er tausend von solchen Geschichten hören und sie mit sich nehmen in die Stadt, damit sie ihn wie ein Panzer gegen das umgäben, was der Vater das Heimweh nannte. Er meinte, wenn auch der Großvater solche Geschichten erzählen wollte, der doch noch älter war, nur ein paar, so würde er das ganze Dorf mit sich nehmen können in seinem Herzen, und sie könnten dann ruhig über seine Schuhe lachen.

Aber Michael sprach nicht. Auch er saß mit Jons an seinem kleinen Feuer, und auch hier ging der Mond auf und schien in des Großvaters Augen, aber er sprach nicht. Nur vor dem Schlafengehen legte er jetzt seine welke, kühle Hand auf den Scheitel seines Enkels und ließ sie dort eine Weile, während seine Lippen sich lautlos bewegten, als spreche er einen Zauber oder ein Gebet. Und die Kühle der alten Hand floß tief in Jons hinein, zwischen den Schulterblättern hindurch, und noch auf seinem Lager zitterte er, als sei er zu lange im Wasser gewesen und das Dunkel der Tiefe erfülle noch sein Blut.

Einmal aber erfaßte ihn Angst. »Großvater«, sagte er »wenn du nun aber gestorben bist, ehe ich wiederkomme?«

Da lächelte der alte Mund, und Jons schien es, als lächle er zum erstenmal, seit er ihn kenne. »Hab keine Angst, Enkelkind«, sagte er, »ich sterbe nicht ...«

Und so feierlich war Jons das Ganze, die Anrede, das Lächeln und das so Gewisse der Worte, daß er nur nickte und dann scheu zu den Booten ging.

Es war nun nichts mehr zu sagen danach.

Im Frühjahr, noch vor dem Osterfest, bekam Jons einen Anzug, den seine Mutter gewebt hatte, und einen aus blauem Tuch, den der Lehrer aus der Stadt mitbrachte. Der Schuster hinter dem See maß ihm Schuhe an und ein Paar Schuhe, wie man sie auf den Dörfern trug. Sie waren sauber und fest, und man konnte ruhig bis zum Orinoko in ihnen gehen.

Aber erst als die Mutter seine Wäsche in die Holzkiste mit dem schweren Schloß zu legen begann, begriff er, daß es nun keine Umkehr mehr gab. Im Dorf machte man nicht viel Aufhebens davon, nur daß sie ihm auf der Straße nun auf eine besondere Weise zunickten und Gogun ihn mit einem Zwinkern seiner fröhlichen Augen vor den Mädchen warnte. Am meisten aber erstaunte ihn die Mutter. Einmal sah er sie vor seiner Holzkiste sitzen, die müden Hände im Schoß gefaltet und mit einer so tiefen Schwermut in den Augen auf den zurückgeschlagenen Deckel blicken, daß es ihm war, als blicke sie in einen Kindersarg, und er lautlos wieder aus der Küche schlich. Keiner von ihnen wußte jemals, was sie dachte. Sie fragte ihn nicht mehr nach den alten Babyloniern, aber er wußte nicht, ob sie nun mit Verachtung, mit Zorn oder mit Trauer an seinen Fortgang denke.

Von den andern war nur Christean auf seinen hellen Krücken, soviel er konnte, an seiner Seite. Er fragte ihn nach den lateinischen Deklinationen und nach Geschichtszahlen, und es war zu merken, daß er Angst hatte, Jons könnte vor jener fremden Welt nicht bestehen, wenn er nicht noch in letzter Stunde an seiner Rüstung herumputzte. Und er bat ihn, doch nicht zu vergessen, ihm seine Bücher mitzubringen, sobald er in eine andere Klasse komme und sie nicht mehr brauche.

Das Osterfest fiel früh in diesem Jahre, und als der Reisetag herankam, lag an den Hängen und Waldrändern noch Schnee. Doch blühten die Weiden schon, und die Wildgänse zogen schon in langen Keilen über das Moor.

Am letzten Abend saßen sie in der Küche wie sonst, und es wurde von seiner Reise nicht gesprochen, als sei der nächste Tag nicht anders als alle Tage. Aber als Jakob aufstand und meinte, daß es nun Zeit sei, zur Ruhe zu gehen, wandte der Großvater seine Augen vom Feuer, sah Jons an und sagte: »Höre nun zu, Enkelkind!« Und während die anderen von ihren Plätzen aufstanden und auch Christean sich erhob, auf seine Krücken gestützt, begann er die Geschichte Davids und Goliaths aus dem Ersten Buch Samuelis zu sprechen, da wo Saul den Knaben mit seinen eigenen Waffen rüstet und David spricht: »Ich kann nicht also gehen, denn ich bin's nicht gewohnt; und legte es von sich, und nahm seinen Stab in seine Hand, und erwählte fünf glatte Steine aus dem Bach, und tat sie in die Hirtentasche, die er hatte, und in den Sack, und er nahm die Schleuder in seine Hand, und machte sich zu dem Philister.«

Und er sprach die Geschichte bis zum Ende, bis zu Sauls Frage: »Wes Sohn bist du, Knabe?«, und es war kein Wort anders, als es im Testament geschrieben stand.

Sie waren so still wie in der Kirche und hörten der alten Stimme zu, die von so weit herkam, als spreche sie noch dort im Lande der alten Könige, im Eichgrund zwischen Socho und Aseka. Und danach kniete Jons vor dem Feuer nieder, und der Großvater legte ihm die Hand auf den Scheitel und sagte: »Gehe nun, Enkelkind!«

Dann gingen sie alle aus der Küche.

Es war beschlossen worden, daß der Lehrer Jons begleiten sollte, weil keiner von ihnen geeignet war, eine solche Reise zu bestehen. Denn Stilling hatte es durchgesetzt, daß Jons nicht in die Schule der Kreisstadt ging, sondern in ein Gymnasium in der Hauptstadt der Provinz. Er machte den ersten Schritt in eine neue Welt, hatte er gesagt, und so solle es ein ganzer Schritt sein, den man nicht mehr zurückmachen könne. Und dort, wo er ankomme, solle die Erde des Dorfes schon von seinen Stiefeln abgefallen sein. Das könne aber nicht in der Kreisstadt sein, und sie sei auch gar keine Stadt, sondern nur ein großes Dorf und ein schmutziges dazu ...

Es dämmerte noch, als Gogun mit dem Korbwagen auf den Hof fuhr. Stilling trug einen schweren schwarzen Mantel mit einem Umhang, den man damals einen Hohenzollernmantel nannte, und einen alten Zylinder, den Elise spiegelblank gebürstet hatte, und als sie die Holzkiste hinten in das Stroh setzten, sah es aus, als führen sie zu einem Begräbnis.

Jons reichte allen die Hand. Er war blaß und sah die Gesichter wie in einem Nebel. Doch erschrak er bei aller Benommenheit, als die Mutter ihn umarmte und so fest an sich drückte, daß es ihn schmerzte. Sie sprach aber kein Wort.

Dann ließ Gogun die Peitsche knallen, und sie fuhren aus dem Tor.

Hinten am Waldrand, wo die Straße zwischen den Bäumen noch einmal an die Felder trat, sahen sie schon zwei Pferde vor einem Pflug und einen Mann, der nach dem Dorfe hinüberblickte. Der Mann sah im Nebel wie ein Riese aus und die Pferde wie zwei Urwelttiere, aus deren Nüstern der Dampf schoß.

Als sie im Walde die Stelle erreichten, standen die Pferde noch immer vor dem Pflug, aber der Mann stand unter den Bäumen, trat nun an den Wagen und reichte Jons etwas, das mit einem Tuch verhüllt war und das leise vor sich hin zwitscherte. Der Mann war Michael.

Jetzt erst schossen Jons die Tränen in die Augen, und er ergriff die Hand, die Michael ihm schweigend reichte, mit beiden Händen, »Bruder, lieber Bruder ...«, sagte er, und er hatte es noch niemals gesagt.

Aber Michael nickte nur, sah ihn mit seinen dunklen Augen fest, beinahe drohend an und verschwand dann wieder wie ein Schatten unter den Bäumen.

So fuhr Jons hinaus, um die Welt zu bewegen, eine Holzkiste im Wagen, die schweren Stiefel an den Füßen und das Bauer mit dem Buchfinken in den Händen. Er weinte nun still vor sich hin, die Augen auf die Pferdeköpfe gerichtet, indes Herr Stilling schweigend und feierlich neben ihm saß, im hohen Hut, den linken Arm unter der schweren Pelerine um die Schulter des Weinenden gelegt.


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