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»Wir haben einen Neuen, Herr Oberlehrer«, sagte der Primus und lächelte vertraulich, »einen aus dem Walde.«
»So? Aus was für einem Walde? Wie heißt er?«
»Josua Ehrwürden Jeromin, Herr Oberlehrer.«
»Nun, keine Dummheiten, bitte. Wo ist er?«
Jons stand auf. Er trug den selbstgewebten Anzug und das Haar über der breiten Stirn sauber gescheitelt. Seine Augen waren verstört, aber er hatte die Lippen fest geschlossen wie seine Mutter, wenn sie den Steuerbescheid in der Hand hielt.
»Ah, mein Lieber, da bist du ja«, sagte der Ordinarius. »Laßt eure Witze unterwegs. Dieser kleine Mann aus dem Walde wird euch alle schlagen. Und wie heißt du, mein Sohn?«
»Jons Ehrenreich Jeromin.«
»Richtig, ich erinnere mich. Ein litauischer Vorname und ein Wunschvorname. Und bist du nun auch an Ehren reich, Jeromin?«
»Nein, Herr Oberlehrer. Mein Vater sagt, vielleicht ist man bei seinem Tode an Ehren reich.«
»So ... das ist recht von deinem Vater. Und was ist dein Vater?«
»Mein Vater ist Fischer und hat einen Meiler für den Herrn von Balk.«
»Einen Meiler, sieh mal an! Und wer ist der Herr von Balk?«
»Der Herr von Balk hat ein Schloß hinter dem Walde, und ihm gehört alles, was wir haben, der See und der Wald und das ganze Dorf.«
»So, und ist er ein guter Herr, der Herr von Balk?«
»Ja, er ist ein guter Herr, aber er ist traurig, und er hat einen Affen, der Pferdeäpfel wirft, und einen Papagei, der sprechen kann. ›Otto, sei doch nicht komisch‹, sagt er.« Die Klasse wand sich vor Vergnügen, aber Oberlehrer Carl, genannt »Charlemagne«, sah ihn nachdenklich an. »Eine neue Welt bringst du uns, Jons«, sagte er, »und wir können sie brauchen ... wir sind ein bißchen versteinert hier ...«
So begann der erste Tag in der Schule für Jons, aber nur in der Schule, denn das andre hatte lange vorher begonnen. In der Dämmerung schon, als er erwacht war und die graue Mauer vor seinem Kammerfenster gestanden. Er hatte die Vorhänge nicht zugezogen, weil er Vorhänge nicht kannte und an den Seiten des Fensters so viele Schnüre herunterhingen, daß er Angst hatte, sie anzufassen.
Zuerst glaubte er, daß er träume und daß Nebel über dem Walde liege, so daß die Fichten wie eine graue Mauer aussähen. Aber dann erinnerte er sich, und die Erinnerung stürzte wie ein Stein auf seine Brust. Herr Stilling hatte ihn hierhergebracht und war wieder abgefahren, und nun war er allein, so allein wie der Vogel über einem fremden Wald. Nur daß er keine Flügel hatte. Sein Herz brannte ihm, aber immer wenn die Tränen kommen wollten, dachte er an seinen Vater, wie er am Meiler zu ihm gesprochen hatte. Keiner würde auf ihn warten, daß er die Welt bewege, nicht einmal Christean. Aber der Vater würde warten, und jetzt würde er auf der Schwelle am Meiler sitzen und an ihn denken, ob er schon angefangen hätte mit seinem Werk. Auch der Vater würde traurig sein, wie er es immer war, aber er würde nicht vergessen, nach seinem Meiler zu sehen. Nie vergaß der Vater etwas, was ihm aufgetragen worden war, und auch er würde es so halten.
Das Bauer mit dem Buchfink stand in der dunklen Ecke, mit seinem Rock zugedeckt, und der Vogel rührte sich nicht. Sie beide würden nun auf die graue Mauer sehen statt auf den Wald, aber sie würden zeigen, daß sie das Singen nicht verlernen würden. Sie würden zeigen, daß man sich auf sie verlassen könnte. Der Vater und auch Michael, und auch Herr Stilling und das ganze Dorf.
Nebenan rührte es sich leise. Dort schliefen die drei schwarzen Töchter hinter einem Vorhang. Und auch weiter hinten gab es nun Lärm und Gelächter, wo die anderen in einem großen Zimmer wohnten und schliefen, fünf Jungen aus Gütern und kleinen Städten der Provinz, von denen er noch nicht viel mehr bemerkt hatte als wirre Haarschöpfe, halbgeleerte Koffer und einen Geruch, der nach Pferdestall und billigem Tabak schmeckte.
Als er fertig war und seine Bücher mit einem alten Riemen zugeschnürt hatte, den Gogun ihm geschenkt hatte, nahm er das Tuch von dem Buchfink, säuberte das Bauer, streute Futter hinein und stellte es auf den Tisch neben dem Fenster. Der Vogel sah ihn an, aber sein Blick war traurig, und Jons dachte mit Sorgen an seine Zukunft. Er wußte nicht genau, ob die Sonne hier am Abend scheinen würde, wie die schwarzen Damen gesagt hatten. Sie hatten den Vogel mißmutig betrachtet, und eine von ihnen hatte gemeint, Tiere verstießen gegen die schriftliche Vereinbarung. Aber Herr Stilling hatte gesagt, auch Buchfinken habe der Herrgott geschaffen, und es sei besser, ein Kind habe solche Freuden, als daß es sich andere aussuche, die man ihm in der Stadt anbieten könne.
Dann öffnete eine der schwarzen Schwestern die Tür und sagte, daß der Kaffee fertig sei. Auch müsse er etwas unter das Bauer unterlegen, von seiner eigenen Wäsche natürlich, damit die Politur des Tisches nicht beschädigt werde. Jons sah keine Politur, aber er nahm eines der selbstgewebten Handtücher aus der Holzkiste und gehorchte. Es schien ihm, als könnten die drei Töchter sehr gut die Töchter der Witwe Kroll sein.
Um den großen Tisch im Eßzimmer standen und saßen die anderen Pensionäre. »Hallo, der Prärieläufer!« sagte der Größte von ihnen. »Komm her, mein Sohn, und atze dich an dem, was die Hexenküche uns zubereitet hat.«
Die anderen lärmten weiter, und nur einer fragte ihn, ob er mal versuchen wolle, seinen ausgestreckten Arm zu biegen. Sie sprachen in erschreckenden Ausdrücken von ihren Lehrern, ihren Pferden und ihrer Zigarrensorte. Sie waren alle älter als Jons, und der, der ihn angeredet hatte, trug schon den Anflug eines Schnurrbartes und hatte eine tiefe Stimme wie der Krugwirt Czwallinna. »Iß ordentlich, mein Sohn«, sagte er. »Wenn etwas übrigbleibt, prügeln sich die Parzen darum, und wenn nichts übrigbleibt schimpfen sie nur auf uns.«
Wer die Parzen seien, fragte Jons bescheiden.
»Die Parzen, mein Sohn, sind die drei Damen in Schwarz, denen dieser Saftladen hier gehört. In der Mythologie waren es diejenigen, die mit der Schere auf die menschlichen Lebensfäden losgingen, soweit ich mich erinnere.«
Alles war verwirrend und schwer zu begreifen, aber sie waren freundlich und herablassend, und Jons dachte, daß es mit ihnen schon gehen würde.
Dann war er zur Schule gegangen. Er hatte sich den Weg gut gemerkt, und er vergaß keinen Weg, den er einmal gegangen war. Es gab viele Dinge zu sehen außer der Pferdebahn, und am seltsamsten schienen ihm die großen Steinplatten, auf denen er ging und auf denen seine eisenbeschlagenen Stiefel so deutlich zu hören waren wie die Hufeisen eines Pferdes. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand sah ihn an, und nur ein blasser schielender Bäckerjunge, der vom Brötchenaustragen kam, schien Mißfallen an ihm zu empfinden, spuckte durch eine Lücke in seinen Vorderzähnen und sagte: »Na, du Singbüdel?«
Jons wich etwas zur Seite aus und dachte während des ganzen übrigen Weges nach, was wohl ein Singbeutel sein könne. Es war ihm nur klar, daß es keine Freundlichkeit bedeutete.
In der Schule wußte er bald, daß die Stunden besser waren als die Pausen. Zwar war keine so wie bei Herrn Stilling, und auch keiner der Lehrer war so, Herrn Charlemagne vielleicht ausgenommen. Sie waren alle so schrecklich verschieden, wie sie aussahen, wie sie sprachen, was ihnen gefiel oder mißfiel. Einige waren wie Götter, vor denen man opfern mußte, aber die meisten waren freundlich, wenn man auch nicht immer erkannte, was in ihnen schlummerte. Nur der Lehrer der Mathematik fand, daß Jons zu langsam denke. Es fiel ihm nicht auf, daß die meisten der anderen gar nicht dachten oder daß sie schnell, aber falsch dachten. Er war ein beweglicher, unruhiger Mann, und seine Augenlider zuckten so, daß Jons dachte, er sei krank. »Wunderdinge haben sie von dir erzählt«, sagte er, »aber du machst immer so, als ob du die vierte Dimension erfinden sollst, wenn du eine Linie zu ziehen hast. Bremser beim Leichenwagen warst du wahrscheinlich zu Hause, was?«
»Wir haben keinen Leichenwagen«, sagte Jons. »Wir tragen die Särge auf den Schultern.«
»So ... vielleicht kommt es auch daher.«
Die Klasse lachte, aber der Professor sah Jons noch eine Weile nachdenklich und mißvergnügt an, ehe er fortfuhr.
Von der ersten Stunde an saß Jons wie eine gespannte Feder da. Er sah mit Erstaunen, daß die anderen spielten oder unter der Bank lasen oder Unfug trieben. Sie hatten kein Bedürfnis zu lernen, aber er wollte nichts anderes, als alles das begreifen und behalten, was diese Männer lehrten, die so aussahen, als wüßten sie alles, was seit der Erschaffung der Welt geschehen war. Er wußte, ohne darüber nachgedacht zu haben, daß ein schreckliches Heimweh ihn überfallen und zerbrechen würde, sobald er nur für eine Minute aufhörte, in dieser Welt des Geistes mit allen Fasern zu graben und zu arbeiten. Er war jünger als alle anderen in der Klasse, aber wer auf seinen Mund und seine Augen blickte, sah, daß er der älteste unter ihnen war, nicht nur an Eifer und Denken, sondern auch an Einsamkeit und stillem Leid.
In den Pausen fühlte er es selbst. Er ging wohl mit den andern auf und ab, er spielte auch und setzte sich zur Wehr, wenn es nötig war. Aber er war nicht zu Hause bei ihnen. Er kam aus einer andern Welt, in der das Spiel eine Sache des Sonntags war und in der der Alltag mit Dingen gefüllt war, die man hier nicht kannte. Auch hier gab es Arme, aber es war eine städtische Armut, die in geflickten Kleidern noch mit Hochmut auf seinen gewebten Anzug blickte. Er war ihnen zu ernst, zu streng, zu gerecht, selbst bei ihren Spielen, und der Name »Ehrwürden« blieb nun bei ihm, solange er auf der Schule war.
Als die ersten Wochen vorübergegangen waren, ohne daß man ihn entlassen oder gesteinigt hätte, begann er, sich freier umzublicken. Er sah, daß ihm alles leicht wurde, was man ihm in den Stunden vortrug, und er wußte, daß er darin bestehen würde. Er schrieb an Herrn Stilling, daß er keine Sorgen zu haben brauche, und an seinen Vater, daß die Armen doch nicht so arm seien. Auch sei es in der Schule nur selten, daß man die Reichen bevorzuge. Was ihn mitunter behindere, sei, daß er zu langsam denke, wie der Professor der Mathematik sage. Aber das komme vielleicht vom Meiler her, wo man alles verderbe, wenn man nicht langsam und gründlich sei.
Er schrieb nicht, daß die Menschen ihm mehr Sorge machten als die Dinge. Schon mit den Lehrern war es nicht einfach. Es war ihm vom Dorfe her selbstverständlich, daß er zu ihnen aufblickte wie zu den Propheten, an die sein Vater glaubte, und Herr Stilling war ihm immer ein heiliger Mann gewesen. Er lebte nach den Geboten und der Heiligen Schrift, und er tat nie etwas anderes, als was er sie lehrte. Aber hier taten nicht alle so. Es gab einige, die so eitel waren wie Mädchen, und einige, die wie ein Apriltag waren, fröhlich und zornig nach Laune, einige, die unsauber und träge waren, einige, die ungerechte Richter waren, und einen, der trank. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Es machte ihn nicht fröhlich wie seine Kameraden, an seinen Lehrern einen Mangel zu entdecken, sondern verwirrt und traurig. Es stimmte nicht mit dem Leben überein, das er geführt hatte. Er wußte nicht, daß sie im Walde um hundert Jahre zurück waren und daß die Zeit schon über viele Dinge lächelte, die ihnen dort noch unberührt und heilig waren. Er merkte aber, daß der Acker, auf den er die Gerechtigkeit bringen sollte, größer war, als sein Vater gemeint hatte.
Auch mit seinen Kameraden fiel es ihm schwer. Sie waren wohl nicht schlechter als die im Dorfe, aber sie lebten in einer fremden Welt. Von den meisten wußte er nicht, weshalb sie zur Schule gingen. Manche waren unsauber in ihren Gedanken, und manche waren roh, und diejenigen, die es nicht waren, erfüllten ihre Tage mit Dingen, von denen er nichts wußte. Am meisten bedrückte ihn, daß der Spott ihnen so lose in den Augen und auf den Lippen saß. Er glaubte, daß er aus einem kalten Herzen kommen müßte, und es erschreckte ihn, daß er auch vor den Leidenden nicht haltmachte, vor den Törichten, den Betrunkenen, den Alten und Hilflosen. Er dachte manchmal, wie es sein würde, wenn sein Großvater ihn besuchen käme und auf dem Schulhof stände, und seine weißen Haare und seine hellen Augen, die so viel gesehen hatten, würden nun ein Spott und ein billiges Vergnügen für seine Kameraden sein. Oder gar der Hirt Piontek mit seiner Ringschleuder und dem Rindenhorn, und er hatte doch einen Werwolf gebannt.
So schien es ihm besser, still für sich zu sein und immer daran zu denken, daß für jeden Tag, den er hier war, Herr Stilling viele Jahre gespart und sich vieles hatte entgehen lassen, was er niemals wiederbekommen würde.
Nur zweimal in diesem ersten Jahr erwies es sich, daß mit dem stillen Leben allein nicht alles bezwungen werden konnte.
Das erstemal war es der Bäckerjunge, der ihn am ersten Morgen angesprochen hatte. Jons wußte nun längst, was ein »Singbüdel« war und daß damit keine Liebkosung ausgesprochen wurde, und es erbitterte ihn, daß ein fremder Mensch, und anscheinend keiner von den besten, seinen Spott mit ihm treiben sollte, als sei er ein Betrunkener oder ein Hergelaufener, den die Hunde anbellen durften. Er überlegte lange, und auch in solchen Dingen gingen seine Gedanken langsam und schwerfällig. Dann beschloß er es an einem Abend, schlief ruhig wie sonst, und am nächsten Morgen, als die schlottrige graue Gestalt mit dem üblichen Gruß an ihm vorüberschlich, ließ er seine Bücher plötzlich aus der linken Hand fallen, ergriff den Feind mit »Untergriff«, wie er es gelernt hatte, hob ihn auf und schleuderte ihn so auf das Pflaster, daß der Besiegte noch dalag, als er schon längst seine Bücher wieder aufgenommen und seinen Weg fortgesetzt hatte, mit stillem, etwas blassem Gesicht, während seine Absätze wie immer laut und regelmäßig auf das Pflaster schlugen.
Ein paar Menschen blieben stehen und starrten ihn an, und ein alter Herr, den er jeden Morgen traf, ein Rentner anscheinend, der seinen Frühgang machte, nahm die Pfeife aus dem Munde, sah ihn verwundert an und sagte bloß: »Na?«, als erwarte er, daß dieser merkwürdige Junge mit der breiten Stirn und dem schmalen Mund nun auf ihn losgehen werde.
Doch geschah nichts weiter, kein Mordbericht stand in der Zeitung, kein Polizist kam in die Schule, aber in der großen Pause legte auf der Treppe Charlemagne den Arm um seine Schulter und sagte: »Nun, Jons, was war denn heute früh?«
Da erzählte Jons die Vorgeschichte und daß er es nicht ertragen könne, wie ein Strolch behandelt zu werden.
Charlemagne strich ihm über das Haar und sagte, es sei in Ordnung. Nur gebe er ihm den Rat, nun auf einem anderen Wege zur Schule zu kommen. Es sei nicht gut, sich auf der Straße zu prügeln, wenn man eine bunte Mütze trage, nicht wahr? Übrigens habe er nicht sehr klug ausgesehen, sein Feind, als er wieder aufgestanden sei, das habe er gerade noch gesehen. Weder wie der geblendete Polyphem noch wie der rasende Ajax.
Das zweitemal, als es mit dem stillen Leben nicht gehen wollte, war Chuchollek der Anlaß, und er brachte Jons tief in das Elend hinein.
Chuchollek kam im Herbst aus einer kleinen Stadt auf die Schule, und da neben Jons ein Platz auf der Bank frei war, wurde er ihm zugewiesen. »Chuchollek heiße ich«, sagte er vor Beginn des Unterrichts. »Eigentlich von Chuchollek, aber mein Vater hat den Adel abgelegt, weil er Äußerlichkeiten verachtet.«
Er sah Jons durchdringend an, ob ein Zweifel in seinen Augen zu lesen sei, aber Jons blätterte in seinen Heften. Er dachte an Herrn von Balk und wie doch auch der Adel so verschiedene Gestalten hervorbringe. Sein Nebenmann war klein und stämmig. Schwarze, ölige Haarsträhnen fielen in sein blasses, breites Gesicht, und seine schmalen Lippen konnten auf eine furchterregende Weise lächeln. Sein Vater mußte den Adel vor langer Zeit abgelegt haben, denn die Kleider seines Sohnes waren voller Flecken, seine Schuhe aufgeplatzt, seine Bücher ohne Einband. Am schlimmsten aber schienen Jons seine Hände, kurz und sehr breit, mit Fingern, deren Nägel so abgekaut waren, daß Jons eine Weile glaubte, er komme aus einer Folterkammer.
Aber Chuchollek war ein heimatlicher Laut. Der Zimmermann im Nachbardorf hieß so, der bei ihnen das Scheunendach gemacht hatte. Zwar war er immer betrunken und sah nicht wie ein Graf aus, aber er hatte doch auf dem Hof gesessen und den Holzhammer auf das Stemmeisen niederfallen lassen. »Unser Zimmermann heißt so«, sagte Jons. »Vielleicht seid ihr verwandt?«
In vier Wochen war Jons ein Sklave seines Nebenmannes. Er war niemals eines Menschen Sklave gewesen, und sein ganzes Wesen empörte sich gegen diese Erkenntnis, aber er unterlag der Macht des Bösen. Er hatte das Böse niemals kennengelernt, es war so neu in seinem Leben, daß es wie ein Dämon alles lähmte, was er bisher gewesen war und besessen hatte. Es trank alle Kraft aus seinen Adern, und es ging ihm zum erstenmal auf, daß die Welt ganz anders sein konnte, als die Bücher sie beschrieben.
Chuchollek wurde sein Herr und Vogt, der nicht mit Ruten herrschte, sondern mit Skorpionen. »Zeig mal deinen Federkasten her«, sagte er. »Mir scheint, du weißt nicht, was hier vorgeschrieben ist.« Er betrachtete die vorbildliche Sauberkeit, in der Jons seine Sachen hielt, nahm die Dinge einzeln in die Hand und verteilte sie in zwei Haufen. »Faber Nr. 3 ist verboten«, sagte er, »zu weich ... ich will dir aushelfen.« Und er schob Jons ein abgebrochenes Bleistiftende zu, das so aussah, als sei eine Pferdebahn darüber hinweggegangen. »Federhalter? Geht an. Aber sieh mal her! Ein synthetischer Halter, verstehst du? Künstlicher Rubin, glaube ich. Das Ende ist nur abgebrochen, damit man die Maserung an der Bruchstelle besser sieht. Ich will tauschen, weil wir aus derselben Gegend sind. Keine falsche Bescheidenheit, junger Freund ... hast du einen Penter?«
Jons hatte keinen Penter.
Chuchollek lächelte ironisch mit dem linken Mundwinkel, wo immer ein graues Speichelbläschen saß. »Ohne Penter bist du geliefert, Freundchen. Wo wohnst du? Herzogsacker? Herzlichen Glückwunsch. Am Herzogsacker können nur Männer wohnen, verstanden?« Und er zog seinen Penter aus der Tasche. Einen vielfach geflochtenen Riemen, dessen Endschlinge einen Stein oder eine Bleikugel enthielt. »Ohne diesen Tröster bist du in drei Tagen eine Leiche, junger Freund. Hier ist Großstadt und kein Hinterwald. Überlege bis morgen, was du mir als Anzahlung bringen kannst, verstanden?«
Jons erwarb einen Penter. Er erwarb synthetische Federhalter mit Bruchstellen, Bleistiftspitzer mit Altertumswert, verbogene Zirkel, gespaltene Lineale, eingerissene Briefmarken, Stollwerckbilder mit Fettflecken. Er mußte teuer erwerben, und schon wenn er Chucholleks Stimme von ferne hörte, zitterte er vor Haß. »Schwache Nerven hast du, junger Freund«, sagte Chuchollek. »Wer weiß, ob du überhaupt aus dem Walde stammst? Alle Aristokraten leiden, ohne mit der Wimper zu zucken.«
In der zweiten Woche besuchte er Jons in der Pension. »Nett haben Sie es hier«, sagte er im Korridor zu einer der schwarzen Schwestern. »Hübsche alte Bilder ... direkt gemütlich ...« Sie öffnete ihm verblüfft die Tür zu der kleinen Kammer. Jons hatte ein Paket mit Äpfeln bekommen. »Gravensteiner?« sagte Chuchollek und nahm den größten in die Hand. »Gute Sorte, wenn auch nicht allererstes Aroma. Übrigens ist meine Mutter krank. Du könntest ihr ein paar mitgeben, nicht wahr? Ich sehe, du hast deine Arbeiten schon fertig. Der Ordinarius hat mir aufgetragen, mich ein bißchen um dich zu kümmern ... wollen mal sehen ...«
Er setzte sich zu Jons an den Tisch, zog aus der Hosentasche ein paar verknüllte Hefte heraus und begann die Arbeiten abzuschreiben. »Etwas umständlich diese Konstruktion«, meinte er, »aber für jemanden aus Sowirog nicht übel ... übrigens können wir zusammen deinen Atlas benützen. Meiner ist ein Weltatlas, hundertdreißig Blätter, zu schwer zum Mitschleppen ...«
Nach einer Stunde ging er, den Atlas unter dem Arm, drei Gravensteiner in jeder Hosentasche, einen Magneten in der Hand, um ihn wieder »stark« zu machen.
Von da ab kam er täglich. Die schwarzen Schwestern sahen ihn wie einen Aussätzigen an, der Buchfink schwieg, wenn er da war. Er trug Jons' Turnschuhe, er hatte seinen Atlas, sein Gesangbuch, seinen Federhalter, seine Bleistifte. Er war kein Doppelgänger, aber er war ein Parasit, der das Blut aus Jons heraustrank.
Es war wohl so, daß Jons sich vor ihm fürchtete, wie ein Vogel sich vor der Schlange fürchtet. Er hatte nicht gewußt, daß ein Mensch so sein konnte, und er unterlag dem Unbekannten. Manchmal glaubte er, daß Chuchollek ihn ermorden würde.
Sein Ansehen in der Klasse sank. Selbst Charlemagne sah unruhig auf das seltsame Paar. Jons erkundigte sich vorsichtig nach Chucholleks Vater. Er war Schreiber bei einem Winkelkonsulenten, und einige hatten ihn morgens im Rinnstein liegen sehen. Jons begann, von Chuchollek zu träumen. Es war ein kahles Zimmer mit einer grünlichen Tapete, die über der Bodenleiste dunkle Löcher hatte. Eine Lampe brannte fahl, als sei es tief auf dem Meeresgrund. Aber man sah sie nicht. Jons stand atemlos und sah sich um. Es knisterte an den Löchern, aber er wußte nicht, an welchen. Und dann kam es herausgekrochen, vielgliedrig, dunkel, gestaltlos. Es kam auf Jons zu. Jons lief. Es kam schneller. Es trieb ihn in die Ecke. Seine Zangen öffneten und schlossen sich gespenstisch. Und Jons schrie, bis der Buchfink ängstlich zu flattern begann und die schwarzen Schwestern hinter ihrem Vorhang wisperten.
Ein halbes Jahr lag Jons unter Chuchollek und fühlte seine dicken, nagellosen Hände um seine Kehle. Er konnte ihn nicht abschütteln. Es war, als sei in seinem Blut das Blut der Leibeigenen wieder auferstanden. Dreimal stand er vor der Tür von Charlemagne, und dreimal kehrte er wieder um. Sein Leben war vergiftet, und er konnte das Gift nicht aus seinem Körper treiben.
Im Frühjahr machten sie den ersten Schulausflug, und Chuchollek hing wie eine Klette an ihm. Sie kehrten in einem Forsthaus ein. Hinter dem Garten floß ein Bach, und dort fing Chuchollek einen Maulwurf. Am Bach stand ein Eimer, und Jons mußte ihn mit Wasser füllen. Dann warf Chuchollek den Maulwurf hinein und sah zu, wie er um sein Leben kämpfte. »Laß das sein!« sagte Jons und stieß nach dem Eimer. Chuchollek pfiff durch die Zähne und stieß Jons die Faust unter das Kinn. »Laß das sein!« schrie Jons verzweifelt. Aber der andre pfiff von neuem und beugte sich tief über den Eimer.
In diesem Augenblick wurde Jons erlöst. Er warf sich so plötzlich über den Tierquäler, daß sie alle hinstürzten, Jons, Chuchollek, der Eimer. Jons sah das breite Gesicht unter sich, in dem sich weiße Flecken der Wut bildeten, und er schlug hinein. Chuchollek biß und kratzte. Aber Jons schlug, bis der andre sich nicht mehr rührte.
Charlemagne riß ihn von ihm fort. Sein Gesicht war blaß vor Zorn und Entsetzen, aber Jons sah es nicht. Er sah einen rötlichen Nebel vor sich. »Er hat mich vergiftet!«, schrie er, »er hat mich vergiftet!« Dann brach er zu den Füßen des Lehrers zusammen.
Es war gut, daß es Charlemagne war. Er hob Jons auf und sah Chuchollek an. »Nach Hause!« sagte er kurz. Und sie sahen ihn fortschleichen, am Gartenzaun entlang, die Hände in den Taschen. Trotzig und höhnisch in der Haltung seiner Schultern, seines kurzen Nackens, aber ein geschlagener Tyrann. Er war entthront. Er schleppte seinen Mantel noch mit, seine Rüstung, eine eilig geraffte Beute. Er würde vielleicht noch den Kopf über die Schulter wenden und eine Drohung seiner Wiederkehr zurückschreien. Aber er war entthront, ohne Stachel, ohne Macht.
Charlemagne nahm Jons mit in seine Wohnung. Eine Frau im hellen Kleid war da und zwei Töchter, die mitleidig um ihn herumstanden. Er wurde in das Arbeitszimmer gelegt, auf ein altes Ledersofa, und mit einer Decke zugedeckt. Die Frau ließ die Vorhänge herunter, legte die Hand auf seine Stirn und sagte, er möge nun schlafen. Nachher bleibe er bis zum Abend bei ihnen.
Jons wollte nicht schlafen. Sein Herz hämmerte immer noch in seiner Brust, und er hatte noch nichts erklärt. Vielleicht hielten sie ihn für einen Wahnsinnigen oder für einen Mörder. Aber die Ruhe war so schön, die Dämmerung, die langen, hohen Bücherreihen. Draußen fuhr ein Wagen die Straße entlang, und die Hufe des Pferdes verklangen auf dem Pflaster. So wie seine eigenen Stiefel mit den eisenbeschlagenen Absätzen. Er seufzte ein paarmal tief auf und schlief dann ein.
Es war schon dunkel, als er erwachte. Hinter den Vorhängen stand der Schein einer Laterne, und Schatten waren im Zimmer. Auch Charlemagne war da. Er saß in einer Ecke in einem tiefen Stuhl und rauchte. »Nun erzähle, Jons«, sagte er.
Als er geendet hatte, machte der Lehrer Licht und setzte sich zu ihm aufs Sofa. »Es ist nun zu Ende«, sagte er. »Er kommt fort, und du wirst ihn nicht wiedersehen. Auch ist er schon jetzt fort aus dir, du hast ihn vertrieben. Sei nun ruhig. Du hast zum erstenmal das Böse gesehen, Jons, und das Böse hat eine dunkle, gefährliche Gewalt. Man muß es ausbrennen, und du hast es getan.
Ich will dir sagen, Jons, daß du noch zu scheu bist. Du hast dort am Meiler gelebt, und es war fast aus der Welt. Du hättest zu mir kommen sollen, so wie du zu deinem alten Lehrer gegangen wärest. Ich habe immer Zeit für dich, Jons. Es ist gut, daß du zu uns in die Schule gekommen bist. Wir sind hier alt und müde und satt geworden, alle zusammen. Es wird eine Zeit kommen, da wird man dich und deinesgleichen brauchen. Du verstehst das noch nicht, aber einmal wirst du dich an diese Worte erinnern. Du kommst aus dem Walde, und aus dem Walde ist uns noch immer Gutes gekommen. Nimm nichts von dem an, was sie dir hier als herrlich vorzeigen. Was du hast, ist besser. Lerne, aber verlerne nichts. Werde kein Städter, spotte nicht, prahle nicht. Dein Blut ist gut, bewahre es dir!«
Alle Last fiel von Jons ab. Er war nicht mehr allein, er war aufgenommen in einen Tempel. Er würde tun, was von ihm erwartet wurde.
Er blieb bis zum Abend, bedankte sich und ging als ein Neugeborener in seine Kammer, wo der Buchfink noch leise zwitscherte.
Von da an wurde es leichter für ihn. Er hatte das Böse gesehen, und nun schmerzten die kleinen Bosheiten der Menschen ihn nicht mehr so wie früher. Auch seine Kammer mit der hohen Mauer vor dem Fenster war nun nicht mehr ohne Luft und Licht. Er war in einem tiefen Schacht gewesen, und Erde hatte auf seiner Brust gelegen. Danach konnte auch eine Kammer wie ein Himmelreich sein. Natürlich schien die Sonne am Abend nicht hinein, aber er hielt deshalb die Schwestern nicht für Betrügerinnen. Er sah nun mit verwandelten Augen auf ihr Dasein.
Die alte Frau Holstein war die Witwe eines kleinen Beamten, und nach dem Tode ihres Mannes, und nachdem sie erkannt hatte, daß ihre Töchter niemals Witwen sein würden, hatte sie, um leben zu können, den Plan gefaßt, eine Pension einzurichten. Es war besser gegangen, als sie gefürchtet hatte. Der große Ehrgeiz erfüllte damals das Land, die Schulen waren überfüllt, und viele kleine Leute waren der Meinung, daß ihre Söhne über sie hinaussteigen müßten. So war ihre Pension immer gefüllt, aber Jons sah, daß es ein bitteres Brot war. Der Tag war von Lärm und Widersetzlichkeit erfüllt, die Nacht von Müdigkeit und Sorge, und der Anblick von so viel Jugend und Zukunft machte die Schwestern bitter und erfüllte sie mit Haß gegeneinander. Sie waren so groß, daß nur ein Riese gewagt haben könnte, sie zu heiraten, und es war nicht nur ihre Größe allein, die sie von der Bestimmung der Frau ausschloß.
Oft, wenn Jons zu seiner Kammer kam oder sie verließ, hörte er hinter dem Vorhang den erbitterten Streit der Unglücklichen, gezischte Beleidigungen, höhnischen Schimpf, und einmal war er Zeuge, wie sie gleich kümmerlichen Furien aufeinander losgingen, mit Kratzen und Kneifen, ein groteskes und schauerliches Bild, indes die klagende Stimme der Mutter sie an ihren Vater erinnerte und was er dazu sagen würde.
Nun, Herr Holstein brauchte nichts mehr dazu zu sagen, aber Jons war tief erschrocken und dann von Mitleid erfüllt. Er stellte sich vor, was für ein Schauspiel das für die andern gewesen wäre, aber er war schon alt genug, um zu wissen, daß dies traurig und nicht lustig war. Er dachte mit einer jähen Liebe an seine Mutter und seine Schwestern und daß er wohl noch vieles würde erfahren müssen, ehe er imstande sein würde, diese verwirrende Welt zu »bewegen«. Es kam ihm erst nachträglich zum Bewußtsein, daß damals, in der letzten Szene mit Chuchollek, der Zorn seiner Mutter in ihm aufgelodert war, eine jäh aufschießende und ganz und gar blinde Wut, und daß er somit nicht nur das Erbe seines Vaters in sich trage, sondern auch einen Teil ihres dunklen, einsamen und unerkennbaren Wesens.
Er wurde noch stiller als früher, duldete niemanden für längere Zeit in seiner Kammer und ging mit zusammengebissenen Zähnen daran, einzuholen, was er im letzten halben Jahr verloren hatte. Er konnte nun alle Bücher lesen, die Charlemagne besaß, und wenn er auch immer noch langsam dachte, so behielt er doch jedes Wort, und sein Wissen war so sorgfältig geschichtet wie das Holz im Meiler, ehe die Zeit kommen würde, in der es zu glühen beginnen sollte.
Auch war er nun, von diesem Winter an, nicht mehr so verlassen wie bisher. In einem entfernten Zimmer der Pension, das erst später ausgebaut worden war und das man durch einen dunklen Gang erreichte, wohnte der einzige Student dieses jungen Männerstaates, eine in hohem Ansehen stehende Person, die ganz für sich blieb, von Sagen umwoben, und die in der Umgangssprache der Pensionäre den Namen »Jumbo« führte. Jons war ihm ein paarmal auf der Treppe begegnet, einem nicht großen, schon etwas beleibten jungen Mann, mit einer Brille vor freundlichen, aber etwas abwesenden Augen und einem nachdenklichen, etwas traurigen Mund, der »Guten Morgen« sagte, ohne Jons zu sehen. Er schien in einer besonderen Welt zu leben, in der es einige Sorgen gab und einige Fröhlichkeit, auch etwas Spott und etwas überlegene Gleichgültigkeit, und Jons dachte, daß er wohl bald ein großer Gelehrter werden würde oder ein Mann der Regierung, der eine Stadt oder einen Kreis zu verwalten haben würde.
Aber eines Nachmittags, als es schon zu dämmern begann, trafen sie in der Haustür zusammen. Der erste Schnee fiel, und sie waren beide vor den Toren gewesen, um ihn zu sehen. »Ja, kleiner Mann«, sagte Jumbo und reinigte seine Brille mit einem Taschentuch, »nun schneit es zu Hause, und das Heimweh kommt, nicht wahr?«
Er setzte seine Brille wieder auf, legte den Arm um Jons' Schultern und stieg mit ihm zusammen die Treppen hinauf. »Auch auf Chuchollek wird es nun schneien«, fuhr er fort, »es schneit immer auf Gerechte und Ungerechte. Möchtest du, daß er im Schnee umkommt?«
»Nein«, erwiderte Jons, »nicht mehr. Aber woher wissen Sie es?«
»Ach, kleiner Mann, ich weiß viel von dir. Ich lebe in meiner Bude wie eine Spinne im Netz, und wenn ihr euch rührt, merke ich es. Ich höre deine ordentlichen Absätze, und es ist mir so wie zu Hause. Die andern sind alle Statisten, weißt du, Statisten der Bildung, aber mit dir ist es richtig. Du kommst aus dem Wald, und du wirst etwas werden, Pfarrer oder Landrat oder so was. Und du willst es nicht werden, um einen Titel und Gehalt zu haben, sondern um den Menschen zu helfen, das sehe ich dir an den Augen an. Ein schwerer Gang, Mönchlein, ein schwerer Gang ...«
Er atmete hastig, weil die Treppen steil waren, und steckte dann den Schlüssel ins Schloß. Er war der einzige, der einen Schlüssel besaß. »Komm noch etwas zu mir, Mönchlein«, sagte er, »und erzähle mir von deinem Meiler. Ich will uns einen Punsch brauen, weil es schneit.«
So kam Jons in Jumbos Reich. Es war behaglicher als in seiner Kammer, viele Bücher, ein altes Sofa und ein kleiner Ofen, in dem das Feuer brannte. Jumbo hatte kein Gaslicht, sondern eine Petroleumlampe, er zog die Vorhänge zu, nahm Wasser aus dem Kessel auf dem Ofen und suchte unter seinen Flaschen, die unten im Kleiderschrank standen. Es schienen Jons sehr viele Flaschen zu sein.
Jons dankte, aber er bekam doch ein paar Tropfen aus einer Flasche in sein Glas. »Trink nur«, sagte Jumbo, »das wirft dich nicht um. Mein Vater ist Gastwirt in einer kleinen Stadt, und alle Söhne von Gastwirten trinken. Ich auch. Teils dieserhalb, teils außerdem. Das Leben ist nicht sehr schön, weißt du, wenn man etwas näher zusieht, und deshalb haben sie auch das Jenseits erfunden, damit die Menschen sich nicht alle umbringen.«
»Aber ist es nicht schön, Student zu sein, Herr Jumbo?« fragte Jons verwirrt. »Und alles zu lernen, was es gibt? Und einmal die Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen?«
Jumbo setzte sein Glas ab und sah Jons mit seinen runden, bekümmerten Augen an. »Was hast du da gesagt, Mönchlein? Die Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen? Wo hast du denn das her?«
»Das ist von meinem Vater, und es steht beim Propheten Jesaias, im zweiunddreißigsten Kapitel.«
»Siehst du, hab' ich nicht gewußt, daß du ein Weltverbesserer werden willst? Alle haben sie solche Augen, die im Alten Testament und im Walde leben, und dann kommen sie in die Stadt, aufs Gymnasium, und lassen sich mit Bildung füllen. Und wenn sie erkannt haben, daß es nur Zinnober ist oder Schiet, wie sie bei uns zu Hause sagen, dann glauben sie, daß es nun auf der Universität kommen wird, die große Weisheit. Und wenn sie erkannt haben, daß es auch da nur Zinnober ist oder Schiet, dann fangen sie an, Punsch zu trinken, so wie ich.«
»Aber Herr Jumbo ...«
»Nun höre mal zu, Mönchlein. Es gibt sehr wenig Herren auf dieser Erde, verstehst du, und ich bin keiner von ihnen. Und wenn du auch der erste höfliche junge Mann bist, den ich kennengelernt habe, so sage nur ruhig ›Jumbo‹ zu mir. Und sage auch ruhig ›aber‹. Das ist ein gutes Wort, und ich denke, daß wir beide auch damit sterben werden. Nur daß der gute Gevatter Tod sich nicht sehr darum kümmern wird.«
»Und was wollen Sie denn werden ... Jumbo?«
»Ich? Ja, siehst du, ich soll Pfarrer werden, wie du wahrscheinlich auch. Mein Vater ist Gastwirt, weil sein Vater Gastwirt war, und er trinkt auch, weil sein Vater getrunken hat. Aber wenn er die nötige Menge intus hat, dann geht er in sein Kämmerlein und weint und betet zu Gott und verflucht seine Gäste. Solch ein Gastwirt ist das, siehst du. In Rußland gibt es das noch, aber bei uns ist es ein Unikum. Ein Sünder ist er, und er weiß, daß er einer ist. Und deshalb soll ich Pfarrer werden. ›In Gottes Namen‹, habe ich gesagt, und ich habe es auch versucht. Aber dann war es aus. Die Alma mater, weißt du, ist ja schon an und für sich ein komisches Huhn, aber die Küchlein, die sie in der theologischen Fakultät ausbrütet, die sind eine besondere Nummer. Die Theologie ist nämlich eine Wissenschaft, verstehst du? Eine Wissenschaft! Mit Hebräisch, Griechisch und Latein, mit Seminaren und Examen, mit Professoren und Studenten, mit Kollegs und Übungen. ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹ Besinnst du dich? Aber nun, du lieber Gott! Christus wählte seine Jünger aus den Fischern aus, aber nun wählt der liebe Gott seine Diener aus den Abiturienten aus. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Mönchlein, daß du ein Seelsorger nur werden kannst, wenn du das Abitur hast? Und zwar von einem humanistischen Gymnasium?«
Er füllte sich wieder ein Glas mit heißem Wasser und holte eine andere Flasche aus dem Schrank. Dann stopfte er den Kopf einer ungeheuren Pfeife aus einer Schweinsblase mit Tabak, zündete ihn an und rauchte, und Jons dachte, daß er nun aussehe wie ein trauriger Gott auf einer Wolke.
»Und nun?« fragte er bedrückt.
»Nun? Nun studiere ich Jura, Mönchlein, heimlich, weil mein Vater immer noch glaubt, daß ich in seiner Kirche einmal auf der Kanzel stehen werde. Aber in einem Jahr, denke ich, werde ich Medizin studieren und dabei wohl bleiben. Denn auch mit deiner Gerechtigkeit auf dem Acker ist es Zinnober, kleiner Mann. Wenn du Richter bist, bekommst du ein kleines Amtsgericht in einer kleinen Stadt, und das ist alles, was von deinem Acker übrigbleibt. Machst du die Gesetze, Mönchlein? Die sind längst gemacht. Ein kleiner Diener bist du an einer ungeheuren Maschine, und das ist alles. Aber wenn du Arzt bist, in einem eurer Waldwinkel da, dann gibt es keine fertigen Gesetze für dich. Dann hast du nur deine Hand, dein Auge und dein reines Herz. Wenn es dir gelungen ist, es in den Hörsälen und Kliniken rein zu bewahren. Und das ist nicht einfach, Mönchlein.«
Jons hörte zu. Die Lampe warf einen hellen Schein auf die dunkle Tischdecke, die Bücherregale standen in der Dämmerung, und der blaue Tabakrauch zog wie ein schwerer Nebel über Jumbos Gesicht. Draußen schneite es, und auch Herr Stilling würde an seiner Lampe sitzen und an die Gerechtigkeit denken. Ganz von fern hörte er den Lärm aus der großen Stube in der Pension, und es war ihm, als habe der Student ihn tief in den Berg geführt, in eine verzauberte Welt, von der er nichts gewußt hatte.
»Du mußt nicht glauben, daß ich faul bin, Mönchlein«, sagte er nun. »Das bin ich nicht. Ich bin sogar sehr fleißig, und ich trinke auch nur am Abend, um mich von all den Gesichtern zu erholen. Und weil ich eines Gastwirts Sohn bin. Aber du kannst nun am Abend immer ein Weilchen zu mir kommen, hörst du? Es tut mir gut, deine Augen anzusehen. Auch ich hatte mal solche Augen, und mein Vater vielleicht auch. Die Welt ist kein gutes Objekt für unsere Augen, und es ist eine große Weisheit, daß man sie uns im Tode zudrückt. Und nun erzähle von deinem Meiler, Mönchlein, und was dein Vater für ein Mann ist, wenn er im Propheten Jesaias liest. Wunderliche Leute leben da unten in euren Wäldern, und ich höre gern von ihnen. Sie riechen noch nach Brot und Rauch, weißt du, und Gott hat für sie noch einen weißen Bart.«
Jons erzählte, aber hinter seinen Worten hörte er immer Jumbos Stimme und wie sie ohne Bitterkeit seine Welt entzauberte. In seiner Schule wurden solche Dinge nicht gesagt, außer daß Charlemagne sie unter seinen Büchern einmal andeutete. In seiner Schule wurde viel von »Idealen« gesprochen, und es war immer ein großes Wort für ihn gewesen, wenn auch nicht viel mehr als ein Wort. Aber er dachte, daß er noch zu jung sei, um es zu verstehen. Jumbo aber mit seinen stillen Augen schien ihm mehr von der Welt zu wissen als die Professoren mit grauen Bärten. Er hatte vielleicht keine Ideale, aber er wollte den Leuten im Walde helfen. Er hatte es aufgegeben, Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen, aber er wollte ihnen Gesundheit bringen, er wollte ihre Schmerzen lindern, und vielleicht war das nötiger als Gerechtigkeit.
»Ich kann nicht mehr erzählen«, sagte Jons plötzlich. »Ich muß erst nachdenken über das, was Sie mir gesagt haben.«
»Siehst du, Mönchlein, ich wußte doch, daß es mit dir lohnt. Nach den Staatsexamen wird bei uns wenig gedacht, in allen Fakultäten. Du aber bist ein kleiner Faust und willst ›an dich nehmen Adlers Fittiche‹. Ein paar von den grauen Gestalten hast du schon kennengelernt, den Mangel, die Sorge, die Not. Auch die letzte wirst du kennenlernen, Mönchlein. Wir alle lernen sie kennen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten vor ihr, du nicht ... und komm bald wieder, Mönchlein.«
Er winkte mit der Hand, und Jons schien es, als verschwinde er immer weiter und tiefer hinter dem blauen Nebel, ein junger, etwas beleibter Prophet, der mit Spott und Liebe hinter seinem kleinen Adepten hersah.