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»Wie gern, huldloser Freund,
Wie gerne hätt' ich sanfter dich gebettet!
Doch du, du wehrtest mir und rissest selbst,
Du selbst aus Wolken dies Geschick herab.
O schrecklicher als dich der scharfe Stahl,
Traf mich dein Trug, und was ich litt durch dich,
War mehr als Tod!«
Halb träumend, halb wachend hatte Kornelia die Worte vor sich hingesprochen.
Das grelle Sonnenlicht, das durch das vergitterte Fenster hereinfiel, zeigte ihr die furchtbare Wahrheit.
Die schmerzdurchbebten, erschütternden Worte der Brunhild, die sie auf der Bühne der Hofburg hatte sprechen wollen, heute rezitierte sie sie unbewußt in der kahlen Zelle des Untersuchungsgefängnisses.
Heute, – wo man über ihre Tat verhandeln wollte, heute, da die Geschworenen sich über die vom Staatsanwalt auf Totschlag erhobene Anklage entscheiden mußten!
Schwerer fast als das Bewußtsein des vergossenen Blutes lastete auf der Künstlerin der Gedanke an die unglückliche Mutter Roberts, die man, wie sie von ihrem Verteidiger wußte, als Zeugin geladen, und der sie nun neuen Seelenschmerz bereiten sollte.
Unbegreiflich war es ihr nach ihrem Wiedererwachen gewesen, daß diese edle, großmütige Frau, die einen Sohn zu rächen hatte, der Mörderin Roberts hatte verzeihen und alles verschweigen wollen.
Aber als Kornelia aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht war, das Erlebte deutlich wieder vor ihren Blicken stand, wollte sie nichts davon wissen. Nun die Schuld einmal gebeichtet war, mußte sie auch gesühnt werden. Die Gerechtigkeit auf Erden und über den Wolken wollte ihr Recht, und das Geheimnis, das bisher nur der Tote und sie gekannt, verlangte, seit es ein Dritter wußte, gebieterisch an das Licht der Öffentlichkeit.
Ihr Entschluß, dem Staatsanwalt alles zu offenbaren, war unerschütterlich gewesen. Nach Wien sandte sie selbst ein Telegramm ab, daß ihr Auftreten unmöglich geworden sei. Dann trat sie den schwersten Gang ihres Lebens an. Und da er ihre ganze Kraft erforderte, war es für lange ihr letzter. Kaum hatte sie die Wahrheit bekundet, die Freilassung Menachers und des Hypnotiseurs bewirkt, da brach sie an Körper und Geist zusammen.
Im Krankenzimmer des Untersuchungsgefängnisses kam sie erst nach Wochen, nachdem sie, schon dem Tode nahe, ein schweres Nervenfieber überstanden, zum Bewußtsein. Zu Anfang des Monats erst hatte man sie in die Zelle zurückführen können, in der sie nunmehr, nur zuweilen von ihrem Verteidiger besucht, der heute herangekommenen Entscheidung entgegensah.
Eine gewisse dumpfe, seelische Ruhe war nach all den durchlebten, qualvollen Tagen, nach so viel schlaflosen Nächten über sie gekommen.
Nicht göttliche Vorsehung, ein stumpfes, blödes Schicksal hatte das alles gefügt, hatte ihn der Versuchung seiner leidenschaftlichen Gefühle unterliegen, sie an der Ehrlichkeit derselben zweifeln lassen. Für seine Schwäche hatte er sterben müssen, sie sollte büßen für ihre Stärke, für die Raschheit der unüberlegten Tat, und auf keiner Seite war dabei eine todeswürdige verdammungswerte Schuld gewesen.
Dennoch wollte der Trost sie nicht beruhigen. Raunte doch eine andere Stimme immer wieder anklagend in ihr Gewissen. Ihre Schuld begann mit ihrem Schweigen. Um sie hatten andere unschuldig gelitten, und dafür mußte sie geduldig hinnehmen, was man zur Sühne über sie verhängen würde.
Gefaßter, als sie es von sich selbst erwartet, folgte sie um acht Uhr morgens den Schutzleuten, die sie aus dem Untersuchungsgefängnis zu der bereitstehenden Droschke geleiteten.
Der Wagen war fest geschlossen, die dunklen Vorhänge dicht herabgezogen, so daß kein Blick in das Innere dringen konnte.
Nur so ließ sich die Ruhe in der Stadt einigermaßen aufrechterhalten, eine allgemeine große Verkehrsstörung verhindern. Standen doch auch so noch in allen zum Gerichtsgebäude führen Straßen die Leute Spalier und ließen das schnell auf lautlosen Gummirädern dahinjagende Gefährt nur mit Mühe passieren.
Seit dem 70er Kriege wußten sich die ältesten Bewohner nicht zu erinnern, daß es eine ähnliche Sensation in der Residenz gegeben hatte. Alle späteren, weltbewegenden Ereignisse hatten die Bevölkerung nur äußerlich berührt. Diese Verhandlung aber schnitt tief in ihr tägliches Leben, – denn jeder kannte die Heinloth, verehrte sie mit schwärmerischer Begeisterung.
Auch heute noch. Man wollte das Unerhörte nicht glauben, nicht eher, als man das Geständnis aus ihrem eigenen Munde gehört, eine Entschuldigung für die furchtbare Tat gefunden. Sie mußte gefunden werden, denn was war allen den Tausenden der eine Fremde, jener Rivinius, gewesen, um den sie ihre beste, beliebteste Künstlerin verlieren sollten. –
Im Gerichtsgebäude erwartete die Angeklagte ihr Verteidiger, Rechtsanwalt Ostertag.
Als Menacher, sowie der mit Unrecht bezichtigte Spiritist infolge von Kornelias überraschender Selbstanklage wieder in Freiheit gesetzt wurden, war des Chemikers erster Gang zu Ostertag gewesen, um ihn dringend zu bitten, nunmehr statt der seinen die Verteidigung der neuen Angeklagten zu übernehmen.
Von Herzen gern hatte der Rechtsanwalt, schon um Antons und seiner Hoffnungen willen, zugesagt. Aber sein anfangs so freudiger, siegesgewisser Eifer war bald ein wenig abgekühlt worden durch Kornelias eigene Schuld.
Was das Nötigste in ihrer Lage gewesen, Offenheit, erwartete er vergebens. Sie sprach sich nicht aus. Immer nur das Eingeständnis der Tat, aber kein Motiv, das sie hätte menschlich erklären oder rechtfertigen können.
»Das Warum wird offenbar, wenn die Toten auferstehen,« hatte sie ihm einmal auf seine eindringlichen Ermahnungen mit dem Zitat aus einer Müllnerschen Schicksalstragödie geantwortet. »Irdische Richter, und noch dazu Männer, können die geheimsten Regungen einer weiblichen Seele nicht verstehen. Ich verlange keine Gerechtigkeit. Die Tat will Sühne, nach dem uralten Gebote Auge um Auge, Zahn um Zahn, darum soll man mich richten, darum füge ich mich, – denn die Tat habe ich begangen.«
Weiter war nichts aus ihr herauszubringen gewesen, und so setzte Ostertag, dem andernfalls die Verteidigung schwer werden mußte, seine letzte Hoffnung auf die heutige Verhandlung, auf etwaige Zwischenfälle, die sie bringen konnte, und die vielleicht den eigensinnig starren Mund der Künstlerin lösten.
Fieberhafte Spannung herrschte in dem überfüllten Schwurgerichtssaal. Da ein offenes Geständnis vorlag, waren verhältnismäßig nur wenige Zeugen geladen, und die Verhandlung versprach keine überlange Dauer. Gerade der Umstand aber, daß die Sensation sich auf ein paar Stunden zusammendrängen würde, hatte um so mehr Neugierige angelockt und seit dem frühen Morgen einen gewaltigen Andrang des Publikums bewirkt.
Immer wieder mußten Schutzleute die Zudringlichen, die den Aufgang zum Gerichtssaal belagerten, zurückweisen, denn bei dem beschränkten Raume hatte nur eine kleine Anzahl angesehener Personen gegen Karten Zulaß erhalten, und lange vor acht Uhr schon waren alle Plätze im Hintergrund des Saales von erwartungsvoll flüsternden Zuhörern dicht besetzt.
Eine Viertelstunde nach der angesetzten Zeit führten zwei in Zivilkleidung befindliche Kriminalschutzleute die Angeklagte herein. Draußen in den langen Gängen brandete noch einmal die fieberhaft erregte Woge der Sensation dumpf auf, die Presseberichterstatter hasteten an ihre Plätze, Rechtsanwälte in Barett und Robe eilten hin und her, und die letzten, zu spät gekommenen Damen. Frauen aus den besten Kreisen, doch aufgeputzt wie zum Theater, schoben sich neuigkeitslüstern in den reservierten Raum.
Hunderte von Köpfen reckten sich auf, Hunderte von Augen waren auf den gleichen Punkt gerichtet.
»Da sieh nur, wie blaß sie ist.«
»Fehlt halt die Schminke.«
»Aber so kalt und stolz wie immer.«
»Wie eine Königin!«
»Als ob sie Richter wäre und die andern die Angeklagten.«
»Warten wir's ab.«
»Wer weiß, was der Indier von ihr gewollt.«
Die Stimme des Vorsitzenden machte dem tuschelnden Geflüster ein Ende.
Die zwölf Geschworenen waren in den Saal getreten und hatten vor dem erhöhten Richtertisch Aufstellung genommen. Der Sekretär legte sein Schreibzeug zurecht, und während Kornelia sich leise und ruhig mit ihrem Verteidiger unterhielt, eröffnete Oberlandesgerichtsrat Escher die Sitzung.
Tiefe Stille folgte der Verlesung des Anklagebeschlusses. Denn Kornelia Heinloth erhob sich und gab, frei und stolz dastehend wie eine Heroine auf dem Theater, den üblichen Aufschluß über ihre persönlichen Verhältnisse.
»Wollen Sie sich auf die Anklage verantworten?« fragte der Präsident.
Kornelias Augen irrten einen Moment durch den Saal. Auf Menacher und seiner Schwester, die auf der Zeugenbank saßen, blieben sie haften. Ihr Blick schien eine Dritte zu suchen, – aber sie war noch nicht da.
»Nein,« antwortete sie mit fester Stimme.
»Sie bleiben also bei dem in der Voruntersuchung abgelegten Geständnis?«
»Ja. Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen. Was soll ich sonst noch sagen, als daß ich Robert Rivinius mit der vorgefundenen Waffe erstochen habe.«
Eine Bewegung ging durch den Saal. Wußte man auch schon manches, diese Antwort schien man doch nicht erwartet zu haben.
Die Geschworenen sahen sich an, sie schienen befriedigt, nur die Stirn des grauhaarigen Vorsitzenden legte sich in ernste Falten.
»Bei einem offenen, unumwundenen Geständnis bleiben, ist das Beste, was Sie in Ihrer Lage tun können. Aber wenn wir Ihnen glauben sollen, so müssen Sie uns das doch auch näher erklären.«
»Genügt die Wahrheit nicht?« Es klang wie leise Ironie aus der Gegenfrage, die die Angeklagte zu stellen wagte.
Der Oberlandesgerichtsrat überging das Ungehörige und suchte vorsichtig weiter zu forschen, indem er in ruhigem Tone erwiderte:
»Es hat Fälle gegeben, daß Leute sich selbst eines Verbrechens beschuldigten, ohne es begangen zu haben.«
»Halten Sie mich für wahnsinnig?« fuhr Kornelia auf.
Der Präsident behielt auch jetzt seine Gelassenheit, während der Staatsanwalt nervös an seinem rötlichen Kinnbart zupfte.
»Die Ärzte haben es nicht getan. Aber wir, Fräulein Heinloth, wir müßten trotzdem an Ihrem gesunden Verstande zweifeln, wenn Sie ohne jedes Motiv einen Menschen, der Sie verehrte, dem Sie nahestanden, getötet hätten.«
»Ohne Motiv, wer sagt das?«
»Sie haben uns bisher kein solches genannt.«
»Und Sie zwingen mich, es zu tun?«
»Das Gericht zwingt niemand. Nur zu Ihrem eigenen Besten, um die Tat zu begreifen, wünschen wir den Grund zu kennen.«
Kornelia richtete ihre königliche Gestalt noch höher und stolzer auf, ihre dunklen Augen blitzten drohend.
»Nun denn, Sie wollen es wissen. Die Ehre, – meine jungfräuliche Ehre! Eine ganze Stadt ist mein Zeuge, daß ich sie fleckenlos bewahrt habe. Sie war mir das Heiligtum der Priesterin im Tempel der Kunst. Nur in ihrem Schutze glaubte ich mich den Altären des Höchsten nähern zu dürfen, – und er wollte sie in den Staub ziehen, er wollte mich beschmutzen und beflecken. Mag sein, daß ich verblendet gewesen bin, daß ich, von menschlicher Täuschung befangen, ihn falsch, ja zu streng beurteilte, – aber ich kann nur das eine sagen, daß der Tote in jener Stunde mein Todfeind war, daß ich ihn haßte wie einen Räuber, der den wehrlosen Wanderer überfällt.«
Die schwüle Stille des Saales mischte sich mit atemloser Spannung. Selbst das bisherige gedämpfte Flüstern im Hintergrund erstarb.
Eine auffallend gekleidete Dame spielte mit dem Opernglas. Die Versuchung war zu groß, eine Schauspielerin mit so unglaublichen Anschauungen näher zu betrachten. Aber ein strenger Blick des Vorsitzenden ließ sie den Operngucker wieder einschieben. Es war ja die Heinloth – sagte sie sich – und die hatte immer so etwas Märchenhaftes gehabt.
Auch der Präsident hatte unwillkürlich eine Pause gemacht. »Sie wollen also Notwehr geltend machen?« fragte er jetzt.
»Gewissermaßen, ja.«
»Dann muß ich Sie ersuchen, uns den Hergang der noch völlig unaufgeklärten Sache genau zu erzählen. Wie sind Sie überhaupt zur Nachtzeit in die Wohnung des Herrn Rivinius gekommen?«
»Mit ihm selbst.«
Ein Ah des Erstaunens ging durch die Zuhörer. Man schien diese Antwort am wenigsten erwartet zu haben.
»Das heißt, er zog Sie mit Gewalt hinein, wie ich nach Ihren vorherigen Aussagen annehmen muß?«
»Nein, es geschah auf meine Bitte.«
Die Sensation im Publikum nahm zu. Sie verstärkte sich noch, als sich jetzt auch der Staatsanwalt mit der schrill schneidenden Stimme des Reserveoffiziers einmischte.
»Seinerzeit haben Sie dem Sie vernehmenden Kriminalkommissar Schild eine ganz anders lautende Angabe gemacht. Nämlich, daß Herr Rivinius Sie an das Union-Hotel begleitet habe und, dort angekommen, nach seiner Wohnung umgekehrt sei.«
Die Angeklagte biß sich auf die erbleichende Unterlippe; sie holte tief Atem, als mache es ihr Mühe, die kurzen Worte hervorzustoßen:
»Das war die Unwahrheit –«
Wieder ging ein Ah des Erstaunens durch die Reihen der Zuhörer. Aber diesmal klang es anders, und die Empfindung schnitt Kornelia in das Herz. Man begann an der Reinheit derer, die man wie eine Heilige betrachtete, zu zweifeln.
Nur der Vorsitzende wahrte die unparteiische Ruhe des wahren Richters. »Sie haben sich vorhin auf Ihre Ehre berufen, Fräulein Heinloth,« sagte er in fast feierlich klingendem Tone, »wollen Sie uns in Rücksicht darauf auch angeben, was Sie veranlaßte, – vom geraden Wege abzuweichen?«
»Der Selbsterhaltungstrieb,« antwortete die Angeklagte rasch und gefaßt. »Doch nicht der meine, sondern der meiner Kunst, – für die ich bereit war, jedes Opfer zu bringen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, meine Herren Richter –«
Der Präsident machte eine entgegenkommende Geste: »Wir wollen uns bemühen. Sprechen Sie.«
»Ein schwerer Kampf war es, den ich um der Kunst willen gegen mein Gewissen kämpfte,« fuhr die Angeklagte fort. »Meine Laufbahn näherte sich dem Höhepunkt, aber der Gipfel war noch nicht erreicht, ich hatte mir selbst noch nicht genug getan.
Nicht Furcht vor Kerker und Tod, nur die entsetzliche Angst, mitten aus allem herausgerissen zu werden, ließ mich schweigen und Unschuldige für mich leiden.
Das war mir das Schrecklichste, denn anfangs hatte ich gehofft, daß die Tat in ewiges Dunkel gehüllt bleiben werde. Und die falschen Spuren, die man verfolgte, ließen diese Hoffnung immer aufs neue aufleben.
Mein Gastspiel in Wien stand unmittelbar bevor. Nur dieses Eine, Höchste, die Rolle der Brunhild, die ich schon im Leben hatte spielen müssen, noch in der Burg zu gestalten, das Werk meines Lebens zu krönen, hatte ich mir gelobt.
Es sollte nicht sein.
Mein Vertrauen, daß sich die Unschuld des verhafteten Herrn Menacher bald herausstellen werde, schlug in das furchtbarste Gegenteil um, indem er sich selbst zu einer Tat bekannte, die er nicht begangen. Und dann –«
Auf den Rand des Tisches sich stützend, stand sie plötzlich regungslos, erblaßten Gesichts, und blickte mit großen, starren Augen nach der Zeugenbank, in die eben die greise Frau Rivinius getreten war. »Und dann, – dann kam jene ehrwürdige Dame zu mir,« stieß sie mit versagender Stimme hervor, – »und wenige Tage zu früh hat Gottes Wille mir das Geständnis entrissen.«
Kornelia verstummte erschüttert, und die tiefe Stille im Zuschauerraum verriet die Ergriffenheit, die sich aller Hörer bemächtigt hatte. Nicht nur die Richter, auch das Publikum hatte sie verstanden. Nichts als künstlerischer Ehrgeiz war es gewesen, der sie verhindert hatte, ein Verbrechen zu bekennen, das sie selbst für kein solches halten wollte.
Nach einer kurzen Pause nahm der Vorsitzende wieder das Wort: »Sprechen Sie sich nunmehr über die Tat selbst aus. Was also hat Sie in die Wohnung des Herrn Rivinius geführt?«
»Eine lächerliche Zufälligkeit. Beim Passieren der Hallerbrücke hatte ich mir an dem eisernen Geländer das Kleid zerrissen. So konnte ich unmöglich auf dem Lilienfeste auftreten. Darum bat ich meinen Begleiter, da sonst zur Nachtzeit nirgends mehr eine Möglichkeit gegeben war, den Schaden in seiner nahegelegenen Wohnung rasch, und so gut es ginge, auszubessern.
Mit sichtbarer Freude führte er mich auf sein Zimmer, zündete die Lampe an und öffnete, da eine schwüle Luft herrschte, ein wenig das Fenster.
Nach wenigen Minuten war ich fertig und wollte gehen, aber er ließ mich noch nicht, – zeigte mir erst die Einrichtung der Wohnung und auch einige Antiquitäten, für die ich stets Interesse hatte.«
»Hat sich darunter auch der von Ihnen benutzte orientalische Dolch befunden?« unterbrach sie der Vorsitzende.
»Ja, – er gefiel mir besonders, und indem Robert ihn vor mich auf den Tisch legte, erzählte er auch, daß er ihn von seinem, ihm meinetwegen jetzt verfeindeten Freunde Menacher erhalten habe. Dabei zog er mich wie in plötzlich erwachter Leidenschaft neben sich auf das Sofa.«
»Wenn Ihnen das auffiel und Sie etwas befürchteten, warum blieben Sie dann noch, nachdem Sie doch mit Ihrer Arbeit fertig waren und man Sie auf dem Feste jedenfalls schon erwartete?«
»Sie vergessen, Herr Präsident, daß ich Robert liebte, daß ich seit Wochen auf das entscheidende Wort wartete, das mich zu seinem Weibe machen sollte. Jetzt glaubte ich die Stunde gekommen, denn nie hätte ich an etwas anderes denken können. Wie auf das Evangelium hätte ich auf seine Ehrlichkeit geschworen, nie habe ich einem Menschen so ohne Maß und grenzenlos vertraut. Und dann diese gräßliche Enttäuschung!«
Ein schweres Aufstöhnen hob ihre Brust, die bebende Stimme ward heiser, und die Erinnerung an das Geschehene ließ es noch jetzt wie von wilder Empörung in ihren dunklen Augen auffunkeln.
»Meine Hände fassend, ließ er die Zigarre fallen. Fürchtend, daß sie den Teppich verbrenne, wollte ich mich bücken, da umschlang er mich plötzlich mit beiden Armen, sein heißer Atem schlug in mein Gesicht, und während er mich wie wahnsinnig an sich preßte, flüsterte er mir glühende Worte ins Ohr: »Sei mein, – ganz mein. Beweise mir's, wie lieb du mich hast! Jetzt endlich ist der Augenblick gekommen, wo du's kannst!«
Eine rasende Wut ergriff mich und gab mir die Kraft der Verzweiflung. ›Elender – ‹, schrie ich auf, ›das also war der Zweck, – darauf hattest du's abgesehen! Ein Heuchler und Betrüger auch du! Jetzt habe ich dich erkannt!‹
Einen Moment gelang es mir, mich loszureißen, aber schon suchten seine Arme mich von neuem zu packen. Vor meinen Augen wurde es dunkel, ich fühlte, daß ich schwach wurde, daß ich nicht lange mehr widerstehen konnte. Ich haßte mich selbst ob dieser Empfindung und mich in ihm. Er oder ich! Eines mußte unterliegen. Aber ich durfte es nicht sein, das Heiligtum, das ich so lange gehütet, konnte ich nicht einem Betrüger zum Opfer bringen!
Da fiel mein Blick auf die Waffe, und ich hatte nur noch einen Gedanken. Töte ihn, wie er es verdient!
Blitzschnell, ehe er meine Absicht erraten konnte, hatte ich den Dolch ergriffen und, meiner Sinne nicht mächtig, ihm den Stahl tief in die Brust gestoßen.
Es war nur das Werk einer Sekunde. Mit dem Blitzen der Waffe mischte sich schon das röchelnde Stöhnen des Sterbenden, der mit brechenden Augen wie schlafend zurücksank. Da erst, als ich ihn tot sah, kam mir das volle Bewußtsein meiner Tat, und lähmendes Entsetzen packte mich.
Doch nur für einen Augenblick.
Dann siegte der Trotz meines Gewissens, das sich nicht schuldig bekennen wollte. Gegen einen Räuber hatte ich mich gewehrt, sonst nichts, – und die höheren Aufgaben, zu denen ich mich berufen fühlte, verlangten, daß ich mein Leben rettete.
Es gelang mir leichter, als ich gedacht, – alle Türen waren offen geblieben, – unbemerkt kam ich auf die Straße und noch rechtzeitig ins Union-Hotel.
Nur die Lampe hatte ich in der Erregung zu löschen vergessen, und als sie am Morgen zur Entdeckung meiner Tat führte, da überwältigte es mich, daß ich besinnungslos zusammenbrach, überwältigte mich, wie Monate später die Behauptung der unglücklichen Mutter, daß ihr Sohn es ehrlich mit mir gemeint, und daß, wie ich nun glauben muß, nur die Leidenschaft des Augenblicks ihn hinriß.
Das vernichtende Bewußtsein, den, den ich liebte, mißverstanden und, in Täuschung befangen, getötet zu haben, das, meine Herren Richter, ist es gewesen, was mir das Geständnis vor der gewollten Zeit entriß, – das mich als Schuldige vor Ihnen stehen läßt, die bereit ist, ihre rasche Tat zu sühnen.« –
Die Tragödin schwieg erschöpft, und während ein herber Schmerz um ihre Mundwinkel zuckte, ließ sie sich langsam auf die Bank zurückgleiten.
Unter den Zuhörern hatte die anfängliche fieberhafte Spannung nachgelassen. Die Damen schienen enttäuscht. Man mochte pikantere Enthüllungen erwartet haben. Was jetzt noch kam, interessierte weniger – und das Urteil erfuhr man ja aus den Zeitungen. Einige Unbefriedigte verließen bereits möglichst unauffällig den Saal, was sie wenige Minuten später wahrscheinlich bereut haben würden.
Der Präsident, der eine kurze Pause hatte eintreten lassen, sah unschlüssig zu Staatsanwalt und Verteidiger hinüber. »Bei dem jetzt völlig aufgeklärten Sachverhalt wird es kaum nötig sein, die wenigen Zeugen, die höchstens über den Charakter der Angeklagten aussagen könnten, noch zu vernehmen. Oder wünschen die Herren –«
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, der Verteidiger wollte sich zu einer Bemerkung erheben, aber auf der Zeugenbank kam ihm eine andere, in tiefes Schwarz gekleidete Gestalt zuvor.
»Ich muß bitten, Herr Präsident –«
»Sie wünschen, Frau Rivinius?«
»Ich bitte vernommen zu werden, – denn ich muß zeugen für die Mörderin meines Sohnes.« –
Erstauntes Flüstern ging durch den Saal. Der Staatsanwalt, der nicht recht verstanden zu haben glaubte, legte die Hand ans Ohr. Auch die Geschworenen sahen einander verwundert an.
»Wie haben Sie gesagt, – für die Angeklagte?« wiederholte der Vorsitzende.
»Ja – denn jetzt erst, nachdem ich sie gehört, verstehe ich die Tat, was sie herbeiführte, warum sie geschehen mußte,« antwortete die ergraute Dame mit bebender Stimme und zuckendem Munde, doch in würdiger Fassung und feierlichem Ton. »Um das Leben meines unglücklichen Sohnes hat es sich gehandelt. Ich, die es ihm gab, sollte es ihm nehmen. Mein unheilvoller Rat hat es ihm geraubt. Nicht Robert, – nicht Fräulein Heinloth, – sind zu verdammen, – hier, meine Herren Richter, hier steht die Schuldige.«
Aller Blicke waren plötzlich auf die greise Frau gerichtet, die, sich selbst anklagend, so rätselhafte Worte sprach. Auch der Präsident blickte ungläubig auf. »Bitte, sprechen Sie sich deutlicher aus.«
Einen Augenblick preßte sich der Mund der Gefragten wie in stummem Schmerze zusammen, eine schwere Atemwelle hob ihre Brust, dann begann sie mit schwankender Stimme:
»Ich bin es gewesen, die lange Zeit von Roberts Vorhaben nichts wissen wollte. Lange hielt ich seine in ausführlichen Briefen geschilderte Begeisterung für die Angeklagte für eine vorübergehende Leidenschaft.
Ich dachte, offen gesagt, nach vielem, was ich früher gehört und gelesen, nicht gut von den Bühnenkünstlerinnen, und riet, als ich allmählich merkte, daß es meinem Sohne bitterer Ernst mit seiner Liebe war, ihm dringend ab, ein Verhältnis anzubahnen, das er später sicher bereuen werde.
Aber er antwortete mir nur mit seinem festen Entschlusse, die Heinloth zu heiraten oder immer ledig zu bleiben. Zuerst versagte ich ihm rundweg meine Zustimmung.
Doch auch das nützte nichts, seine Briefe wurden immer dringender, und schließlich mußte ich fürchten, er tue sich ein Leid an, wenn ich mich dauernd seinem stürmischen Wunsche widersetzte.
Da versuchte ich ein Letztes, das nun die Blutschuld lastend auf mein eigenes Gewissen wirft. Ich träufelte Gift in sein Vertrauen.
›Die Künstlerin, deren Schönheit dich betört hat,‹ – schrieb ich ihm, – ›sie meint es nicht ehrlich. Nur auf dein Geld hat sie es abgesehen. Darum heuchelt sie dir Liebe, darum besteht sie vor allem auf ein Eheversprechen. Nur als dein Weib wird dein großes Vermögen auch das ihre, und das ist der Grund ihrer Zurückhaltung. Irre ich aber, ist diese Schauspielerin wirklich das, wofür du sie hältst, ist sie dir in hingebender, alles opfernder Liebe zugetan, so will ich meine Einwilligung nicht versagen. Aber auch nur dann kannst du glücklich werden. Darum prüfe sie zuvor, ob sie wirklich dich selbst und ohne jeden selbstsüchtigen Hintergedanken liebt. Wie und auf welche Weise, – das kann ich dir nicht sagen, – aber du wirst schon Mittel und Wege finden, bei irgendeiner Gelegenheit ihre wahren Gefühle zu erforschen. Besteht sie die Prüfung, – und ich wünsche, es möge so bald wie möglich geschehen, – dann soll deine Kornelia auch in mir eine liebende Mutter finden, die eueren Bund von Herzen segnet.«
»Griseldis!« klang ein stöhnender Schmerzensschrei durch den Saal und unterbrach in unerwarteter Weise die Zeugin.
Vorgebeugten Leibes, mit glühenden Augen hatte die Künstlerin nach der Zeugenbank hinübergehorcht, unwillkürlich preßte sie die Hand aufs Herz, und während ein Zittern ihre Glieder überlief, die Wangen sich jäh verfärbten, rang sich plötzlich der leidenschaftliche Aufschrei bitteren Verstehens von ihren Lippen.
»Haben Sie eine Bemerkung zu machen, Angeklagte?« Kornelia erhob sich. »Verzeihung – Herr Präsident, – es entfuhr mir unwillkürlich, und wenn Sie mir gestatten wollen, den Ausruf zu erklären – –«
Ein stummer Wink des Vorsitzenden ließ sie fortfahren:
»Zu erklären, – was in der Seele des Unglücklichen vorgegangen und mich sein Blut schuldlos und doch schuldig vergießen ließ, – so lassen Sie mich an diesen Namen anknüpfen. –
Griseldis, – die Rolle, die ich an jenem Abend spielte, – sie zeigt mir wie in blitzartiger Beleuchtung alles bisher noch Dunkle. Den Gedanken, meine Liebe auf die Probe zu stellen, die Echtheit meiner Gefühle zu prüfen, hat, nachdem er den Brief seiner Mutter empfangen, gerade dieses Stück in Robert bestärkt. Und dann, als mich der Zufall allein, zu später nächtlicher Stunde, in seine Wohnung führte, – da glaubte er plötzlich auch den sichersten Weg zu sehen. Unseliger Einfall, mich gerade in solcher Weise zu versuchen, frevelhaft unser beider Glück und Leben zu verscherzen!«
Der Staatsanwalt mischte sich ein. »Wann haben Sie den bewußten Brief in Ihrer Heimat abgesandt?« wandte er sich an die Zeugin.
Frau Rivinius sann einen Augenblick nach. »Ende April,« erklärte sie dann bestimmt.
»Spätestens Mitte Mai mußte er also in den Händen des Adressaten sein. Kurz vor jener ›Griseldis‹-Aufführung. Hm. Nur ist es sonderbar, daß man trotz genauester Durchsuchung unter den Effekten des Verlebten nichts von diesem Briefe gefunden hat.«
Frau Rivinius selbst beseitigte diesen Zweifel des Staatsanwalts. »Soweit ich meinen Sohn gekannt habe, wird er, seiner Vorsicht und kühlen Überlegung entsprechend, den Brief sofort nach Empfang vernichtet haben, – jedenfalls aus Furcht, daß derselbe einmal in die Hände seiner Braut fallen und Unheil stiften könne.«
In unerwarteter Weise bestätigte diese Vermutung Kriminalkommissar Schild, der die im Ofen der Wohnung vorgefundene Asche genau untersucht hatte. Es mußte damals außer der mit dem Komödianten gewechselten Korrespondenz noch ein anderer Brief verbrannt worden sein, denn ein winziger, noch lesbarer Papierrest hatte die Unterschrift der Mutter getragen, ein Umstand, dem indessen der Beamte als unwichtig keine weitere Beachtung geschenkt hatte.
Der Staatsanwalt, ein harter, strenger Mann von der alten Schule, beharrte bei der Anklage. In seinem Plädoyer, in dem er sie energisch aufrechterhielt, donnerte er gegen alle übertriebenen Humanitäts-Empfindeleien der neuen Zeit. Jeden Verbrecher als geisteskrank erklären, bedeute, den Staat untergraben, müsse zum völligen Ruin der Gesellschaft führen. Auch von einer momentanen Geistesstörung könne in diesem Falle keine Rede sein. Die Angeklagte sei durchaus normal, – habe die Tat nicht nur mit vollem Bewußtsein begangen, sondern auch in raffinierter Weise zum Schaden vieler anderer verheimlicht, und von einer Unfreiheit des Willens, die überhaupt ein Märchen sei, könne gar keine Rede sein. Jeder müsse für sich selbst verantwortlich bleiben, und darum könne er nur ersuchen, auch im vorliegenden Falle einen Schuldspruch zu fällen.
Ihm gegenüber hatte Rechtsanwalt Ostertag leichtes Spiel. Seit Beginn der Verhandlung schon waren die Sympathien der Geschworenen, wie des Publikums auf seiten seiner Klientin gewesen, und indem er in seiner Verteidigung alle, wenn auch menschlich erklärbare Schuld auf Robert und seine Mutter abwälzte, bewirkte er, daß am Schluß Kornelia Heinloth mehr als deren bedauernswertes Opfer, denn als eine schwerer Bluttat Angeklagte dastand.
Als die Geschworenen sich zurückzogen, um das Urteil zu fällen, schien man bereits zu wissen, wie es ausfallen werde.
Die Beratung war kurz.
Nach kaum einer halben Stunde öffnete sich die schmale Tür wieder, und die feierlichen, dunklen Gestalten schritten eine nach der anderen ihren Plätzen zu.
Mit lauter Stimme verkündigte der Präsident das Urteil, das Kornelia Heinloth mit allen zwölf Stimmen von der Anklage des Totschlags freisprach.