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»So, jetzt setzen Sie sich nur dahin und beruhigen Sie sich.«
Amtsrichter Euler wies auf den Stuhl, den der Gerichtsdiener unweit seines Tisches aufstellte.
Aber Nettchen Meiners, die die längliche Vorladung mit dem Gerichtsstempel, die ihr der Schutzmann am Morgen gebracht, noch immer krampfhaft wie ein besiegeltes Todesurteil in der Hand hielt, sah ihn nur mit mißtrauischer Angst an.
»Ach Gott nee doch, hoher Herr Gerichtsrat, wie können Sie man bloß so was von mir denken, ich bin es doch wahrhaftig nich gewesen.«
Der Untersuchungsrichter konnte ein Lächeln nicht verbeißen. »Das traut Ihnen auch niemand zu. Im übrigen lassen Sie alle ungehörigen Titel weg und antworten Sie mir einfach und klar auf meine Fragen.«
Euler erkannte bald, daß es damit schlimm bestellt war. Das Mädchen mochte den besten Willen haben, die Wahrheit zu sagen, war aber so konfus und verschüchtert, daß sie, in beständiger Furcht, irgend etwas zu ihrem Nachteil zu bekunden, teilweise ganz schwieg, teilweise die Tatsachen offenbar verdrehte.
»Fräulein Heinloth haben Sie natürlich von der Sache erzählt?« fragte er, als er mit Mühe und Not die Geschichte von der gefundenen Brieftasche aus ihr herausgebracht hatte.
Nettchen besann sich schon wieder. »Darf ich das sagen?«
»Das müssen Sie sogar.«
»Also dann gebe ich's zu,« räumte die Zofe mit einem Stoßseufzer ein.
»Und was hat Ihre Gnädige gesagt?«
»Daß Herr Rivinius ein sehr freigebiger Herr sei, und daß ich allen Grund hätte, ihm dankbar zu sein.«
»Haben Sie sonst noch zu jemandem von dem Funde und der erhaltenen Belohnung gesprochen?«
Nettchen tat entrüstet. »I, wo werde ich denn!«
»Auch nicht zu Ihrem Schatz?«
Das Mädchen errötete beschämt. »Der Herr Gerichtsrat beleidigen mir.«
Euler biß sich abermals auf die Lippen. Dem albernen Geschöpf gegenüber grob und zornig zu werden, widerstrebte ihm.
»Sie werden doch einen Liebsten haben?«
»Freilich, den Thia,« platzte die Zofe in triumphierendem Tone heraus, fühlte aber im selben Augenblick ihre Dummheit und erblaßte.
»Warum sagten Sie denn eben, daß Sie keinen Schatz besäßen?«
Er sah sich mit tadelndem Blick nach dem das Protokoll führenden Sekretär um, der das Lachen nicht unterdrücken konnte.
Nettchen, die nach einer Ausrede suchte, hatte bereits etwas gefunden. »Das is doch was anderes, Herr Gerichtsrat, einen Liebsten hat man gern, und einen Schatz heiratet man. Aber so weit sind der Thia Niederwieser und ich noch nich.«
Die Gewandtheit im Lügen amüsierte trotz der Unverschämtheit der Ausrede den Richter. »So – so –« meinte er, als habe er nichts durchschaut, »dieser Unterschied war mir nicht bekannt. Und wer ist denn der Thia Niederwieser?«
»Der Ausgeher von Herrn Menacher,« erwiderte Nettchen diesmal ohne Bedenken.
Einen um so stärkeren Eindruck machte die Antwort auf den Untersuchungsrichter. Derselbe Bursche also, der im Auftrag des früheren Freundes wiederholt das Zimmer des Ermordeten betreten und wahrscheinlich dessen Gewohnheiten kannte. Was sich da ganz unerwartet ergab, schien von höchster Wichtigkeit und Bedeutung zu sein.
»Also dem Liebsten haben Sie auch nichts erzählt?«
»Den habe ich heute noch gar nicht gesehen.«
»Es handelt sich doch um gestern.«
»Nee, daß ich nich wüßte –«
Der Amtsrichter zog es vor, die vielsagende Spur im Augenblick nicht weiter zu verfolgen, um das Mädchen nicht noch scheuer zu machen. So änderte er das Thema seiner Fragen:
»Herr Rivinius soll mit Fräulein Heinloth gut bekannt gewesen sein. Hat er sie vielleicht auch besucht?«
»O ja, – sehr oft,« gab die Zofe diesmal unbedenklich zu. »Gewöhnlich hat er ihr Blumen gebracht.«
»Auch ins Theater?«
»Gewiß. Wenn die Gnädige eine neue Rolle gespielt hat, hat er immer einen Lorbeerkranz geworfen.«
»Das wird auch gestern abend der Fall gewesen sein. Nicht wahr, Herr Rivinius war im Theater?«
Nettchen nickte nur.
»Haben Sie ihn auch nachher noch gesehen?«
»Er verließ mit dem Fräulein das Theater.«
»Und dann?« fragte der Richter interessiert.
»Dann haben sie sich Adje gesagt, und das Fräulein is noch mal in die Garderobe zurück, weil sie eine Nadel vergessen hatte.«
»Und dann haben Sie sie nach Hause begleitet?«
»Das Fräulein wollte noch auf das Lilienfest und schickte mich heim.«
»Und Herrn Rivinius sahen –«
Er wurde durch den Gerichtsdiener unterbrochen, der meldete, daß ein Herr ihn in dringender Angelegenheit zu sprechen wünsche.
»So sagen Sie, daß ich zur Zeit dienstlich beschäftigt bin,« rief Euler unwillig.
»Habe ich schon gesagt. Aber er läßt sich nicht abweisen, weil es sich eben um die Untersuchungssache handelt.«
Der Amtsrichter wurde stutzig. »Das wäre etwas anderes. Hat er seinen Namen genannt?«
»Der, – er soll eintreten. Nein, – warten Sie, – ist noch jemand im Wartezimmer?«
»Niemand, Herr Amtsrichter.«
»Gut, er soll dort bleiben, – ich komme selbst hinüber. Rufen Sie den Schutzmann Rast, er soll inzwischen hier bei der Zeugin bleiben.«
Nettchen begann aufs neue zu heulen und zu schluchzen, als der uniformierte Diener des Gesetzes, während er den Raum mit langsamen Schritten durchmaß, sie mit offenem Mißtrauen immerfort im Auge behielt. Aber ihr Entsetzen steigerte sich noch, als schon nach wenigen Minuten der bisher so wohlwollende und gütige Untersuchungsrichter mit zornigem, empörtem Gesicht in das Amtszimmer zurückkam.
»Warum haben Sie mich belogen?« schnob er sie an.
Nettchen knickte förmlich zusammen. Sie weinte herzzerbrechend. »Herr hoher Gerichtsrat, das hab' ich in meinem Leben noch nich getan.«
»Aber heute, vor einer Viertelstunde! Was haben Sie gestern abend, als Sie mit dem Matthias Niederwieser auf Ihre Herrin warteten, zu diesem gesagt?«
Nettchens Augen weiteten sich schreckhaft. »Das wissen Sie?«
»Ich weiß alles. Durch Herrn Menacher, der soeben hier war und mich auf eine Spur des vermutlichen Täters führen zu können glaubte. Er hat gestern abend ein verdächtiges Gespräch belauscht zwischen Ihnen und Ihrem Liebsten –«
Das Mädchen war ganz blaß vor Schreck geworden. »So is er's doch gewesen,« murmelte sie.
»Sie haben Herrn Menacher selbst gesehen?«
»Ich hab's gemeint. Hinter der Säule hat er gestanden. Aber der Thia hat's ja nich glauben wollen –«
»Und was haben Sie dem Thia gesagt?«
Nettchen sah ein, daß nunmehr alles Leugnen umsonst war. »Daß Sie das wissen wollten, hab' ich ja gar nicht gedacht,« stotterte sie.
»Nun also!«
»Ich hab's ihm halt erzählt, das von dem Funde und von meinem Glück –«
»Und daß Sie noch oft ein solches haben müßten, bis Sie heiraten könnten?«
»Das kann wohl möglich sein.«
»Ihr Liebster soll darauf eine gehässige Bemerkung gemacht haben, daß die Reichen zuviel hätten, und daß man's ihnen nehmen müsse oder so etwas Ähnliches.«
Nettchen fuhr in gut gespielter Entrüstung auf. »Nee, so was sagt mein Thia nich.«
»Herr Menacher bezeugt es aber, und gerade die Äußerung hat seinen Verdacht erregt.«
»Dann muß ich es gar nicht gehört haben,« meinte die Zofe, die sich nicht mehr zu helfen wußte, kleinlaut.
»Herr Menacher hat es eben um so besser gehört und hat dem Burschen, zu dem er hinfort das Vertrauen verloren hat, bereits zum Ersten gekündigt. Als er von dem Morde in der Mauerstraße gehört, hat er sich der verfänglichen Reden sofort erinnert und es für seine Pflicht gehalten, die Behörde davon in Kenntnis zu setzen.«
»Das ist schlecht von ihm,« schluchzte Nettchen, – »er gönnt keinem ein Glück. Mein gnädiges Fräulein hat ganz recht gehabt, daß sie ihn nimmer mögen hat. Der arme Thia! – Man wird ihn doch nich verurteilen, nich gar zum Tode, – ach Gott, nee, – das überlebte ich nich –«
Martin Euler zuckte die Achseln. »Wenn seine Schuld erwiesen wird, wird er sie nach der ganzen Strenge des Gesetzes büßen müssen.«
Das mitleidige Wohlwollen, das ihn anfangs der Zeugin gegenüber erfüllt hatte, war verschwunden. Für eine einfältige Gans hatte er sie gehalten, und jetzt erschien sie ihm als raffinierte Komödiantin. Diese gespielte Unschuld widerte ihn an. Was der ehrliche Menacher ihm mitgeteilt, war jedenfalls das Wenigste. Das Weitere hatten die beiden erst nachher besprochen. Der ganze raffinierte Mordplan war zwischen ihnen ausgeheckt und ihr die Rolle der blöden Unschuld zugeteilt worden. Das eingewurzelte Vorurteil des konservativ gesinnten Mannes gegen die Schauspieler regte sich wieder. Nicht umsonst war dieses Mädchen die Dienerin einer Komödiantin!
»Sie werden ihn doch nicht verhaften?« stieß Nettchen in der Angst ihres Herzens weinerlich heraus.
»Vorläufig einmal vernehmen.« Euler drückte zweimal auf den Knopf der elektrischen Klingel. »Rast,« rief er dem eintretenden Schutzmann zu, »begeben Sie sich sofort in die Auenstraße in das Menachersche Drogengeschäft und zitieren Sie den Diener Matthias Niederwieser als Zeugen hierher. Der Bursche ist zu Hause, wie mir der Prinzipal versichert hat. Sollte er sich verbergen oder weigern, so bewirken Sie die Vorführung mit Gewalt.«
»Sehr wohl, Herr Amtsrichter.«
»Noch eins. Der Gerichtsdiener soll die Zeugin in das Wartezimmer nebenan zurückführen. Sie hat dort bis auf weiteres zu bleiben.«
Die Zwischenzeit benutzte der Amtsrichter, das bisher vorliegende Material zu prüfen.
Die Gipsabgüsse, die man von den gefundenen Fußspuren genommen, und auf denen sich deutlich die fehlenden Nägel ausprägten, waren bereits in Schilds Händen. Stimmte auch das Maß zu den Schuhen, so war dieser Matthias Niederwieser so gut wie überführt, und er zweifelte nicht, nach dem Verhör des Burschen die Sache sofort dem Staatsanwalt übergeben zu können.
Ob die Zofe der Schauspielerin als Mitschuldige in Frage kam, würde sich bald genug herausstellen, und es erübrigte nur noch, auch ihre Herrin, die berühmte Tragödin, die die letzte zu sein schien, die mit dem Ermordeten, wenn auch nur vorübergehend, zusammen gewesen, zu vernehmen. Hatte sie wirklich in intimeren Beziehungen zu demselben gestanden, so konnte sie jedenfalls noch manche, das Dunkel lüftende Aufklärung geben, und er beschloß deshalb, auch Fräulein Heinloth näher befragen zu lassen.
Matthias Niederwieser, der schon nach einer Viertelstunde mit dem Schutzmann erschien, war gutwillig, seine Unschuld beteuernd, bevor ihn jemand anklagte, mitgegangen, aber er machte dem Untersuchungsrichter keinen guten Eindruck. Der unstete, scheue Blick, mit dem er schon beim Eintritt den Boden suchte, deutete nicht auf ein reines Gewissen.
Martin Euler, der ihm nichts Gutes zutraute, ließ ihn hinter der Schranke stehen und Rast in seiner unmittelbaren Nähe bleiben.
»Sie wissen schon, über was ich Sie vernehmen will?«
»Wegen dem Mord in der Mauerstraße, hat der Schutzmann gesagt, aber da weiß ich doch nischt davon.«
»Das eben möchte ich feststellen. Sie sind früher oft in die Wohnung des Herrn Rivinius gekommen?«
»Weil mein Herr mich hingeschickt hat,« entgegnete der Bursche diesmal in etwas trotzigem Tone.
»Sie kannten also das Zimmer, den Garten genau, wußten auch, daß Herr Rivinius Türen und Fenster unverschlossen zu lassen pflegte?«
»Darauf hab' ich nicht achtgegeben.«
»Wie lange sind Sie denn nicht mehr dort gewesen?«
»So Wochen sechser. Bis mein Herr und der andere sich nich mehr gut gewesen sind.«
»Sie kamen auch häufig in die Wohnung zu Fräulein Heinloth?«
»In die Wohnung und ins Theater. Da mußte ich ihr Blumen bringen.«
»Und dabei lernten Sie das Zimmermädchen der Dame kennen?«
»Nettchen Meiners ist meine Braut,« bemerkte der Bursche nicht ohne Stolz.
»Aber ans Heiraten können Sie noch nicht denken, weil es Ihnen an Geld fehlt. Wenigstens sprachen Sie gestern abend vor dem Theater in diesem Sinne mit dem Mädchen.«
Niederwieser sah erbleichend auf, er schien zu überlegen, ob er das zugeben sollte. »Das ist alles Quatsch,« stotterte er.
»Vergessen Sie nicht, mit wem Sie reden,« mahnte der Amtsrichter streng, »und drücken Sie sich dementsprechend aus. Es ist mir fast wörtlich bekannt, was Sie gesagt haben.«
»Wenn uns irgendein schlechter Kerl belauscht hat –«
Der Richter schnitt ihm das Wort ab: »Es ist ein durchaus einwandfreier Zeuge, Ihr Prinzipal, Niederwieser.«
Jetzt zuckte der Bursche erschrocken zusammen. »Der Herr Menacher? Da hat das Nettchen doch recht gehabt.«
Euler nickte befriedigt zu dem halben Geständnis. »Sie waren der Ansicht, daß man den Reichen nehmen solle, was man selbst nicht besitze?«
Der Bursche antwortete nicht, aber seine Knie zitterten, und er stützte sich mit der Hand gegen die Brüstung.
»Wo sind Sie denn die letzte Nacht gewesen?« fragte der Richter, ihm fest in die Augen blickend.
»Zu Hause.« Niederwieser suchte wieder den Boden.
»Nach dem Theater sind Sie gleich nach Hause gegangen?«
»Ich, – das heißt, das Nettchen –«
»Sie trennten sich von dem Mädchen?«
»Als das gnädige Fräulein kam, ging ich fort, weil sie's nicht gern sieht –«
»Und da schlugen Sie den nächsten Weg zur Auenstraße ein, nach dem Menacherschen Geschäft?«
»Ja, –« kam es zögernd zurück.
»Besinnen Sie sich genau. Machten Sie nicht einen Umweg über die Prinzenpromenade und die Mauerstraße?«
Dem Burschen schien es die Stimme zu verschlagen, er konnte nur stumm den Kopf schütteln.
»Wie kam es denn, daß man im Schöllerschen Garten Ihre Fußspuren gefunden hat?« fragte jetzt der Richter geradeheraus.
Die erwartete Wirkung blieb nicht aus. Niederwieser verfärbte sich jäh, ein Zucken ging durch seinen Körper.
»Meine Spuren?« würgte er heraus.
Im selben Augenblick trat Kriminalkommissar Schild herein, einen in ein Tuch geschlagenen Gegenstand in der Hand.
»Sie bringen den Abdruck?«
»Jawohl, Herr Amtsrichter.« Sein Blick fiel auf den blassen Burschen. »Und wie ich sehe, werden wir uns gleich von der Richtigkeit überzeugen können. Heben Sie einmal den Fuß auf.«
Mechanisch gehorchte Niederwieser.
»Den nicht, den andern.«
Ein Blitz des Triumphs erhellte das Gesicht des Kommissars. »Es stimmt, Herr Amtsrichter, eine weitere Probe ist kaum mehr nötig.«
»Wie?« fragte Euler überrascht.
»Die Nägel fehlen genau an der gleichen Stelle. Setzen Sie einmal den rechten Fuß hierher.«
Schlotternd vor Angst leistete Niederwieser Folge.
Wieder leuchtete es in den Augen des Kommissars auf. »Bis auf den Millimeter genau,« sagte er, den Abdruck der Spur vom Boden aufhebend. »Herr Amtsrichter, wir haben den Mörder.«
»Den Mörder?« schrie Matthias Niederwieser mit der schrillen Stimme des Entsetzens auf. Der starke Bursche drohte in die Knie zu brechen. Mit starren Augen, blauen Lippen, erdfahlen Wangen stand er da, ein Bild des Schreckens, und kalter Schweiß brach in dicken Tropfen aus seiner Stirn. Die Hände, die er abwehrend ausstreckte, zitterten wie im Fieber. Erst jetzt schien er die ganze Größe der Gefahr zu begreifen, in der er schwebte.
»Herr Amtsrichter, – Sie wollen doch nicht sagen, – daß ich den Herrn Rivinius, – beim heiligen Gotte schwör' ich's –«
Martin Euler hob abwehrend die Hand. »Ersparen Sie sich den Falscheid. Sie sind so gut wie überführt, und ich kann Ihnen nur raten, Ihr schwerbelastetes Gewissen durch ein offenes Geständnis zu erleichtern.«
»Das will ich auch,« schluchzte der Bursche, – »alles will ich gestehen. Bloß das Nettchen is schuld. Ohne die wär' ich ja gar nich drauf gekommen.«
Euler und Schild sahen sich fragend an.
»Wie, das Mädchen hätte Sie zu dem Verbrechen angestiftet?«
»Ohne ihr hätt' ich ja gar nich dran gedacht, über den Zaun zu steigen.«
»Schreckte Sie denn die im Zimmer des Herrn Rivinius brennende Lampe nicht ab?« fragte der Kommissar, der die plötzliche Wendung nicht begriff und an seiner Überzeugung irre wurde.
»Wie ich eingestiegen bin, is alles finster gewesen. Erst wie ich schon ganz nahe bei's Fenster gekommen bin, is mit einmal Licht geworden, und ich habe Stimmen gehört.«
»Und trotzdem der Herr nicht allein war, sind Sie durch das Fenster eingedrungen?« meinte verwundert der Amtsrichter.
Verständnislos starrte ihn der Bursche an. »Was sollte ich durch's Fenster? Da drin konnte ich doch keene Blumen stehlen.«
»Was, Blumen wollten Sie stehlen?« riefen die beiden wie aus einem Munde.
»Na ja, – weil Sie mich in so 'nen schrecklichen Verdacht haben, muß ich's ja gestehen. Weil heute dem Nettchen ihr Geburtstag is. Und weil sie gesagt hat, sie habe die Blumen so gern, und ihr bringe keiner so schöne, wie ich sie dem Fräulein habe werfen müssen. Da hab' ich mir gedacht, holst sie am Heimweg im Schöllerschen Garten, da is leicht über den Zaun zu kommen, und gerade unter dem Fenster, wie ich beim Herrn Rivinius gesehen hab', stehen die schönsten –«
»Und nachher sind Sie wieder über das Gitter auf die Straße?«
»Wie ich das Licht gesehen hab', hab' ich an keine Blumen mehr gedacht, bin ganz erschrocken fortgelaufen und gerade auf die Pforte los. Die is offen gewesen, und da bin ich hinaus.«
Amtsrichter Euler schüttelte unwillig den Kopf. »Sie werden doch nicht im Ernste denken, daß wir ein solches Märchen glauben sollen.«
Niederwieser hob beschwörend die Hände. »Es is wahr, Herr Amtsrichter, wahrhaftigen Gott, es is wahr. Fragen Sie das Nettchen, ob sie nich heute Geburtstag hat.«
Der Kommissar sagte nichts und machte sich Notizen. Nach einer Weile aber meinte er: »Wann soll das gewesen sein, daß die Lampe angezündet wurde?«
»Das weiß ich nich genau. So zwischen elfe und zwölfe muß es gewesen sein.«
»Und die Stimmen, die Sie hörten, – kannten Sie die?«
»Dem Herrn Rivinius seine schon.«
»Und die andere?«
»Das kann ich nich sagen. Aber gedacht hab' ich mir, mein Herr is's.«
»Herr Menacher?« staunte der Amtsrichter. »Sie haben doch selbst gesagt, daß sie sich böse waren!«
»Aber sie konnten sich doch ausgesöhnt haben.«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen?«
»Weil ich nachher meinen Herrn wieder um das Haus habe herumgehen sehen.«
Der Bleistift des Kommissars glitt hastiger über das Papier. »Nachher, wann war das?«
»Oh, viel später, schon lange nach Mitternacht.«
»Wo waren Sie denn so lange? Wollten Sie da immer noch Blumen stehlen?«
»Nee doch. Aber wie ich zur Pforte hinaus auf die Gasse bin, is am Brunnenplatz ein Schutzmann gestanden und hat scharf herübergeschaut. Da hab' ich mir nich vorbeigetraut, weil er's vielleicht gesehen hat, bin nach der andern Seite und hab' mich lange im Prinzenpark versteckt gehalten, bis ich dann wieder an der Mauerstraße vorbei nach Hause gegangen bin.«
»Das müßte uns Herr Menacher ja bezeugen können,« meinte mißtrauisch der Amtsrichter, »vorher aber hat er mir nichts davon gesagt, obwohl Ihr nächtliches Herumtreiben ihm doch als recht verdächtig hätte auffallen müssen.«
»Aber der Herr hat mich ja gar nich gekannt.«
»Wie?« fragte scharf der Kommissar.
»Er ist ganz wie von sich gewesen, hat vor sich hingesprochen und dann wieder in die Wolken geguckt. Ich hab' gemeint, daß er bei die ›Freimütigen‹ eins zuviel erwischt hat.«
»Sie selbst wollten sich doch jedenfalls auch nicht sehen lassen?«
»Das hätt' mir ja gar nischt genutzt. Denn grad, wie ich ums Eck gebogen bin, hat er vor mir gestanden, mich angestarrt wie einen ganz Fremden und is weitergegangen.«
Der Kommissar schloß nach einer letzten, kurzen Notiz sein Buch.
»Möchten Sie nicht die Zeugin draußen im Wartezimmer noch einmal befragen, ob die Aussagen des Burschen stimmen, Herr Amtsrichter?«
Euler gab dem Schutzmann einen Wink, und Nettchen wurde zum zweitenmal hereingeführt.
Beim Anblick des Geliebten schluchzte sie laut auf. »Thia, um Gottes willen, sie werden dir doch nischt tun?«
Der Schutzmann mußte ihr Schweigen gebieten und sie von Niederwieser, an dessen Brust sie sich werfen wollte, zurückreißen. Erst das Zureden des Amtsrichters beruhigte sie so weit, daß sie die gestellten Fragen rasch und verständlich beantwortete.
Den Gedanken, daß ihr Geliebter den Mord begangen haben könne, entrüstet zurückweisend, bestätigte sie alles, was Niederwieser sowohl wie Menacher über ihr Gespräch angegeben. Bei dem Wunsche nach schönen Blumen zu ihrem heutigen Geburtstag habe sie gar nicht daran gedacht, daß der Thia sich auf unerlaubtem Wege solche verschaffen könne, wenn er aber die Absicht gehabt habe, ihr eine Freude zu machen, so sehe ihm das nur ähnlich, denn er sei der beste und bravste Bursche von der Welt.
Martin Euler ließen die überschwenglichen Lobesworte kalt. Mit offenbarem Mißtrauen betrachtete er das Mädchen, das seine Rolle so gut zu spielen wußte. Die Ausrede Niederwiesers mit den Blumen erschien ihm lächerlich, und nichts konnte ihn von seiner einmal gefaßten Meinung, in ihm den Täter zu sehen, abbringen.
So stellte er, während Netti Meiners mangels genügender Verdachtsmomente einstweilen noch in Freiheit belassen wurde, für den Burschen einen Haftbefehl aus, und Niederwieser wanderte gleich von dem Amtsbureau ins Untersuchungsgefängnis.
Von der gleichzeitig angeordneten Haussuchung in der Kammer des Verdächtigen versprach sich der Amtsrichter nicht viel. Denn er hatte, bei Erteilung des Befehls den Burschen scharf beobachtend, nicht das geringste Erschrecken an ihm wahrgenommen, vielmehr eine höhnische Sicherheit in seinem Gesicht gelesen.
Kein Zweifel, daß er seine Beute anderswo verborgen und sich in voller Sicherheit wähnte, wie man ja auch in seinen Taschen nur eine kleine, seinem Monatslohn entsprechende Summe gefunden hatte.
Die schnelle Rückkehr Rasts, der mit einem Kollegen im Menacherschen Hause gewesen, bestätigte ihm, daß er sich nicht getäuscht. Man hatte bei genauester Durchsuchung auch nicht das geringste Verdächtige, vor allem aber keine größere Summe in Papiergeld gefunden.
Der Amtsrichter bereute es schon, die Zofe so voreilig wieder entlassen zu haben. Konnte sie nicht bei der Beiseiteschaffung der Scheine behilflich gewesen sein, sie nicht irgendwo versteckt oder vergraben haben?
Doch der Schlauheit des Mädchens, von der er fest überzeugt war, traute er solch plumpes Verfahren nicht zu. Leichter schien es möglich, daß sie oder auf ihr Anraten der Bursche gleich am Morgen das geraubte Geld an irgendeinen auswärtigen, vielleicht eingeweihten Bekannten geschickt hatten, um vor jeder Entdeckung sicher zu sein.
Gegen Abend noch ließ er bei sämtlichen Postämtern der Stadt nachfragen. Aber nirgends war eine Anweisung oder ein deklarierter Geldbrief von einem unbekannten Absender aufgegeben worden, dessen Wert der geraubten Summe auch nur annähernd entsprochen hätte.
»Wir stehen vor einem Rätsel,« meinte er, als am Abend Andreas Schild noch einmal auf seinem Bureau erschien, um wegen der Vernehmung der Heinloth, die er persönlich zu übernehmen wünschte, das Nötige zu besprechen. »Ein schwieriger Indizienbeweis, mehr wird bei der ganzen Sache nicht herauskommen.«
Der Kommissar zuckte leicht die Achseln, ohne zu antworten. Er schien in dem Falle Rivinius eine andere Meinung zu haben, die er vorläufig nicht aussprechen wollte.