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Achtes Kapitel: Mein utopisches Ich

I

Wenigen von uns wird es zuteil, daß sie ihr besseres Selbst zu sehen bekommen. Mein utopisches Ich ist natürlich mein besseres Selbst – meinem besten Streben entsprechend – und ich muß gestehen, daß ich die Schwierigkeiten der Sachlage recht wohl empfinde. Als ich in dieses Utopien einzog, dachte ich an keine so innerliche Selbstprüfung.

Der ganze Bau jenes andern Weltalls schwankt einen Augenblick, als ich in sein Zimmer trete, in sein helles und geordnetes Arbeitszimmer. Ich zittre. Eine Gestalt, etwas größer als ich, steht vor dem Licht.

Er tritt auf mich zu, und wie ich ihm entgegengehe, stolpere ich an einen Stuhl. Dann drücken wir uns die Hand, immer noch, ohne ein Wort zu sagen.

Jetzt stehe ich so, daß das Licht auf ihn fällt, und ich kann sein Gesicht besser sehen. Er ist ein wenig größer als ich und sieht jünger und gesünder aus. Er hat wohl die eine oder andre Krankheit weniger gehabt, auch fehlt ihm die Narbe über dem Auge. Seine Erziehung ist eine sorgfältigere und feinere gewesen als die meinige; so hat er sich ein besseres Gesicht geschaffen als ich ... Auf das alles hätte ich rechnen können. Ich kann mir vorstellen, daß er über meine handgreifliche Minderwertigkeit schmerzlich berührt ist in mitfühlendem Verständnis. Wie ich hier eintrete, ziehe ich ganze Wolken irdischer Verwirrung und Schwäche hinter mir her und schleppe alle Mängel meiner Welt mit mir herum. Ich sehe, er trägt jene weiße Tunika mit dem Purpurstreif, die mir schon als das eigentliche utopische Gewand für ernste Männer vertraut geworden ist; sein Gesicht ist glatt rasiert. Ganz in die gegenseitige Prüfung versunken, vergessen wir zunächst etwas zu sagen. Wie ich endlich meine Stimme wieder finde, sage ich etwas, das sehr verschieden ist von der schönen, bedeutsamen Eröffnung des vorher überlegten Dialoges.

»Sie haben ein freundliches Zimmer,« bemerke ich und blicke mich ein wenig fassungslos um, weil ich keinen Kamin finde, um den Rücken daran zu lehnen, und keinen Kaminteppich, um mich darauf zu stellen. Er schiebt mir einen Sessel hin, in den ich mich fallen lasse. Wir zögern noch, denn die unzähligen Gesprächsmöglichkeiten verwirren uns.

Endlich wage ich den Sprung und sage:

»Was halten Sie von mir? Glauben Sie, ich sei ein Betrüger?«

»Jetzt nicht mehr, da ich Sie gesehen habe. Nein.«

»Sehe ich Ihnen so ähnlich?«

»Mir und Ihrer Geschichte – genau.«

»Sie haben keinen Zweifel mehr?«

»Nicht den geringsten mehr, seit ich Sie eintreten sah. Sie kommen aus der Welt jenseits des Sirius, aus der Zwillingswelt der unseren. Nicht wahr?«

»Und Sie möchten nicht wissen, wie ich hieherkam?«

»Ich wundre mich sogar darüber nicht mehr, wie ich selbst hieherkam,« sagt er, und sein Lachen klingt wie das Echo des meinen.

Er lehnt sich in seinen Stuhl zurück, ich mich in den meinen, und die tolle Parodie unserer Haltung fällt uns beiden auf.

»Nun?« sagen wir gleichzeitig und lachen gemeinsam.

Ich will gestehen, daß diese Begegnung noch schwieriger ausfällt, als ich mir dachte.

II

Unsere Unterhaltung bei der ersten Begegnung könnte nur wenig dazu beitragen, die moderne Utopie in meinem Geiste zu entwickeln. Sie erstreckt sich auf den Austausch persönlicher Verhältnisse und Empfindungen. Er sagt mir, wie er in seiner Welt dasteht, und ich ihm, wie ich in der meinigen. Dabei habe ich ihm allerlei zu sagen und zu erklären.

Nein, die Unterhaltung kann zu einer modernen Utopie nichts beitragen.

Daher lasse ich sie aus.

III

In einem Zustand der Gefühlserschlaffung kehre ich zu meinem Botaniker zurück und beachte zuerst gar nicht, daß auch er in Erregung ist. »Ich habe ihn gesehen,« sage ich unnötigerweise; es ist, als wollte ich dem Unsagbaren Worte leihen. Dann aber begnüge ich mich zu sagen:

»Es ist höchst sonderbar.«

Er unterbricht mich mit seinen eigenen Gedanken: »Wissen Sie, ich habe jemanden gesehen.«

Ich halte inne und sehe ihn an.

»Sie ist in dieser Welt,« sagt er.

»Wer ist in dieser Welt?«

»Mary!«

Ich habe ihren Namen noch nie gehört, verstehe aber natürlich sofort.

»Ich habe sie gesehen,« erklärt er.

»Gesehen?«

»Ich bin sicher, daß sie es war. Ganz sicher. Sie war weit jenseits dieser Gärten hier – und ehe ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, war sie fort! Aber es war Mary.« Er faßt meinen Arm. »Wissen Sie, ich hatte dies nicht verstanden,« sagt er. »Wenn Sie Utopien sagten, so verstand ich nicht recht, daß Sie damit meinten, ich würde sie hier – im Glück antreffen.«

»Das hatte ich auch nicht gemeint.«

»Es läuft auf dasselbe hinaus.«

»Haben Sie noch nicht mit ihr gesprochen?«

»Ich werde es tun. Nun ist alles anders. Die Wahrheit zu sagen, habe ich dieses Ihr Utopien bisweilen gehaßt. Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, wenn ich es sage, aber es liegt etwas vom Gradgrind – –«

Jetzt fluche ich wohl.

»Was?« sagt er.

»Nichts.«

»Sie sprachen doch?«

»Ich brummte. Ich bin ein Gradgrind – ganz richtig. Alles, was Sie über Herbert Spencer, Vivisektoren, materialistische Wissenschaft oder Atheisten sagen können, paßt ohne Korrektur auf mich. Jetzt denken Sie also besser von einer modernen Utopie? Sah die Dame gut aus?«

»Es war ihr wirkliches Selbst. Gewiß. Nicht die gebrochene Frau, der ich – in der wirklichen Welt begegnet bin.«

»Und als sehnte sie sich schmerzlich nach Ihnen.«

Er sieht verwirrt drein.

»Sehen Sie, dort!« sage ich.

Er sieht hin.

Wir stehen hoch oben in der Galerie, auf die unsere Zimmer hinausgehen, und ich zeige durch den weichen Nebel der öffentlichen Gärten auf eine hohe, weiße Masse von Universitätsgebäuden, die sich frei und kühn erheben, um grüßende Zinnen zum klaren Abendhimmel zu erheben. »Finden Sie das nicht schöner als – sagen wir – unsere Nationalgalerie?«

Er sieht kritisch hin. »Es ist eine Menge Metall drin,« wendet er ein ... »Was?«

Ich brummte. »Aber, wenn Sie auch nichts darin sehen können, so werden Sie doch auf jeden Fall bemerken, daß es anders ist als irgend etwas in Ihrer Welt. Es fehlt das freundlich Menschliche einer roten Backstein-Villa im Königin-Anna-Stil mit den Giebeln und Ausbauchungen, den Bogenfenstern und farbigen Fächerfenstern und so weiter. Es fehlt die selbstgefällige Unvernunft des staatlichen Klassizismus. Aber in den Proportionen ist etwas, als hätte sich ein Mensch mit Gehirn gehörige Mühe gegeben, es ganz recht zu machen, jemand, der nicht nur wußte, was das Metall leisten kann, sondern auch, was eine Universität sein sollte, jemand, der den Geist der Gotik in einer Kathedrale verzaubert, versteinert gefunden, und ihn befreit hat.«

»Aber,« fragte er, »was hat das mit ihr zu tun?«

»Sehr viel. Dies ist nicht dieselbe Welt. Wenn Sie hier ist, wird sie jünger sein im Geiste und weiser und auf viele Arten verfeinerter – –«

»Niemand – –« beginnt er mit deutlicher Entrüstung.

»Nein, nein! Sie könnte ja nicht. Ich hatte unrecht. Aber sie wird anders sein, geben Sie wenigstens das zu. Wenn Sie hingehen, um mit ihr zu reden, entsinnt sie sich vielleicht nicht mehr all dessen, was Sie noch wissen. Was sich in Frognal ereignete – liebe, romantische Spaziergänge durch die Sonntags-Sommerabende, Sie beide allein, Sie in Ihrem Jünglingszylinder und Ihren eleganten Handschuhen. ... Vielleicht ist das hier nicht so gewesen! Und sie hat andere Erinnerungen – an manches – was da unten nicht geschehen ist. Sie sahen ihre Kleidung. Sie gehört doch nicht etwa zu den Samurai

Er antwortet im Ton der Befriedigung: »Nein! Sie trug grau-grüne Frauenkleidung.«

»Wahrscheinlich unter der Geringeren Regel.«

»Ich weiß nicht, was Sie mit der Geringeren Regel meinen. Sie gehörte nicht zu den Samurai.«

»Übrigens, wissen Sie – ich erinnere Sie fortwährend daran, und Sie verlieren die Tatsache immer wieder aus den Augen: diese Welt enthält Ihren Doppelgänger!«

Er wird bleich und nimmt einen verstörten Ausdruck an. Endlich habe ich ihn gefaßt, Gott sei Dank!

»Diese Welt enthält Ihren Doppelgänger. Aber wahrscheinlich ist hier alles anders. Die ganze romantische Geschichte kann hier einen anderen Verlauf genommen haben. So wie sie in unserer Welt vor sich ging, war sie die Folge der gesellschaftlichen und verwandtschaftlichen Verhältnisse. Die Zeit des Reifens ist eine schutzlose und bildsame Zeit. Sie sind der Mann dazu, große Zuneigungen zu fassen – edle, große Zuneigungen. Sie hätten um jene Zeit jeder andern begegnen können und die gleiche Zuneigung gefaßt.«

Über diese Gedanken ist er eine Weile erstaunt und verwirrt.

»Nein,« sagt er, ein wenig im Zweifel, »Nein. Sie war es selber.« ... Und dann mit Nachdruck: »Nein!«

IV

Wir schweigen eine Weile, und ich versinke in Nachdenken über die merkwürdige Begegnung mit meinem utopischen Doppelgänger. Ich denke an die Bekenntnisse, die ich ihm soeben gemacht habe, seltsame Geständnisse vor ihm und mir. Ich habe mein eigenes stockendes Gefühlsleben aufgerührt, den schlummernden Stolz, die Hoffnungen und Enttäuschungen, die mich seit Jahren nicht mehr beunruhigt hatten. Mir sind im Jünglingsalter Dinge begegnet, die keine noch so strenge Vernunft je in ein rechtes Verhältnis zu mir bringen wird: die ersten Demütigungen, die man mich erdulden ließ, die Vergeudung all der schönen Gefühle der Hingebung und Leidenschaft meiner Jugend. Die stumpfe, niedrige Kaste meiner kleinen persönlichen Tragikomödie – ich habe ihr ja vergeben, ich habe sie fast ganz vergessen – und doch, wenn ich daran denke, hasse ich immer noch jede einzelne Person darin. So oft sie mir vor den Sinn kommt – ich gebe mir alle Mühe, dies zu verhüten – steht sie so vor mir, und diese abscheulichen Menschen löschen mir die Sterne aus.

Diese ganze Geschichte habe ich meinem Doppelgänger erzählt, und er hat mit verständnisvoller Miene zugehört. Aber noch wollen diese schmutzigen Erinnerungen nicht wieder in die Tiefe versinken.

Wir lehnen uns nebeneinander über den Balkon, verloren in solche egoistischen Gedanken und nicht achtend des großen Palastes edler Träume, in den unser erstes Unternehmen uns geführt hat.

V

Ich verstehe den Botaniker heute nachmittag; für diesmal sind wir auf denselben Ton gestimmt. Meine eigene Laune ist für heute dahin, und ich weiß, was es heißt, verstimmt zu sein. Hier steht eine Welt, eine glorreiche Welt, und es steht bei mir, sie zu fassen, mich an sie zu wagen, gleich hier und jetzt, sieh nur! Ich kann nur daran denken, daß ich verbrannt bin und voll Narben, und da frißt nun die elende Geschichte um sich, der gemeine, phantasielose Triumph meines Gegners – –

Ich möchte wissen, wieviele Menschen wirkliche Geistesfreiheit besitzen und in Wahrheit von solchen Gedankenverbindungen ungehindert sind; wievielen alles Große und Edle im Leben nicht wenigstens manchmal, wenn auch nicht immer, nebensächlich erscheint gegenüber von niedrigen Rivalitäten und Erwägungen, von kleinlichem Haß, der wie ein Keim im Blute steckt, von der Lust nach Selbstbehauptung, gegenüber von zwerghaftem Stolz und jenen Neigungen, die sie verpfändeten, noch ehe sie Männer waren.

Der Botaniker neben mir träumt von Vergeltung für jene Frau.

Diese ganze Welt vor uns mit ihrer Ordnung und Freiheit ist ihm nicht mehr als die gemalte Szene, vor welcher er endlich jener Frau begegnen soll, die von »dem Schurken« befreit ist.

Er erwartet, »der Schurke« werde tatsächlich zugegen sein und sich gleichsam unter ihren Füßen winden ...

Ich möchte wissen, ob jener Mensch ein Schurke war. Zweifellos ist er auf Erden in eine falsche Richtung geraten, gescheitert und entartet. Was aber hat ihn in diese falsche Richtung getrieben? Lag das Scheitern in seinem Wesen, oder schlang sich ihm ein Netz widerstrebender Zwecke um die Füße? Wenn er nun in Utopien nicht gescheitert ist?

Ich wundre mich, daß dies dem Botaniker nie in den Sinn gekommen ist.

Er kann – trotz meiner erbarmungslosen Mahnungen – mit seinem lastenden Geiste über alles Hinweggleiten, was seine unbestimmten Ahnungen stören könnte. Auch darüber würde er, wenn ich es ihm nahelegte, hinwegkommen und er würde es mißachten. Er hat eine höchst erstaunliche Widerstandskraft gegen unsympathische Ideen; erstaunlich ist sie wenigstens für mich. Er haßt den Gedanken, daß er seinem Doppelgänger begegnen soll, und sobald ich nicht mehr davon rede, verblaßt dieser Gedanke fast ohne Willensanstrengung in seinem Geist.

Unten in den Gärten verfolgen zwei Kinder einander; das eine wird eben erhascht, kreischt dabei laut auf und weckt mich aus meinen Träumen.

Ich folge ihren kleinen Schmetterlingspossen, bis sie hinter einem Dickicht blühender Rhododendren verschwinden. Dann schweifen meine Blicke zurück auf die große Fassade des Universitätsgebäudes. Aber ich bin nicht in der Laune, Architektur zu kritisieren.

Weshalb sollte eine moderne Utopie durchaus den Händen ihres Schöpfers entschlüpfen und zum Hintergrund eines persönlichen Dramas, und zwar eines so albernen, kleinen Dramas werden wollen?

Der Botaniker will Utopien nicht anders sehen. Er prüft es nur in Beziehung darauf, was dort mit den einzelnen Personen und Dingen, die er kennt, geschehe. Er mag Utopien nicht, weil er es in Verdacht hat, es wolle das »liebe, alte Hündchen« seiner Tante töten, und er versöhnt sich mit ihm, weil eine gewisse »Mary« hier viel jünger und besser aussieht als auf der Erde. Und nun stehe ich hier und sehe, daß ich fast derselben Art, die Dinge zu beurteilen, verfallen bin!

Wir nahmen uns vor, diesen Staat und all seine Menschen von Überlieferungen, Zusammenhängen, Neigungen, Gesetzen und künstlichen Verwirrungen zu befreien und dann von vorn zu beginnen; aber wir haben die Kraft nicht, uns selbst zu befreien. Unsre Vergangenheit, selbst ihre Zufälle, ja vor allem ihre Zufälle, und wir selbst sind eins.


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