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Jetzt aber sind wir besser in der Lage, die Häuser und Straßen der utopischen Stadtsiedelungen um den Vierwaldstätter See zu beschreiben und die vorübergehenden Leute uns etwas genauer anzusehen. Wir haben uns also erwartungsvoll in Utopien niedergelassen und arbeiten um niedern Lohn bei den Holzschnitzern, bis die Behörden beim Zentralregister in Paris das verblüffende Problem lösen, das wir ihnen aufgegeben haben. Wir wohnen in einem auf den See hinausgehenden Gasthof, von wo wir an unsere täglich fünfstündige Arbeit gehen, unter dem wunderlichen Eindruck, als geborene Utopier angesehen zu werden.
Unser Gasthof gehört zu jenen Gasthöfen und Absteigequartieren, die Mindestpreise haben und zum Teil vom Weltstaat näher bestimmt, in Ermangelung privater Unternehmungen auch von ihm über die ganze Welt hin unterhalten und beaufsichtigt werden. Luzern besitzt noch mehrere solcher Einrichtungen. Er umfaßt viele hundert praktischer, sich selbst säubernder Schlafzimmer, die ganz in der Art ausgestattet sind wie unsere Zimmer in dem ähnlichen, aber viel kleineren Gasthof zu Hospental, nur daß sie sich in der Ausschmückung ein wenig unterscheiden. Es findet sich derselbe Ankleideraum mit dem Bad, dasselbe anmutige Verhältnis in der gedrängten Einfachheit der Möbel. Dieser Gasthof ist ein Viereck etwa wie ein College zu Oxford, er ist vielleicht vierzig Fuß hoch und hat ungefähr fünf Stockwerke mit Schlafzimmern über den unteren Gemächern. Die Zimmerfenster gehen entweder nach außen, oder nach innen auf den viereckigen Hof, die Türen auf künstlich beleuchtete Gänge mit auf und nieder führenden Treppen. Die Gänge sind mit einer Art Korkteppich belegt, sonst aber kahl. Das Erdgeschoß enthält wie ein Londoner Klubhaus Küchen und andere Wirtschaftsräume, Speisesaal, Schreibzimmer, Rauch- und Gesellschaftszimmer, Friseurstube und Bibliothek. Ein Säulengang mit Bänken läuft um den viereckigen Hof, in dessen Mitte sich ein Rasen befindet. Im Mittelpunkt ruht eine Bronzefigur, ein schlafendes Kind, über einem kleinen Brunnenbecken, in dem Wasserlilien wachsen. Das Ganze ist von einem Baumeister entworfen, der zum Glück frei ist von der hemmenden Überlieferung des Stiles der griechischen Tempel, der römischen und italienischen Paläste; es ist einfach und von natürlicher Anmut. Als Material diente ein künstlicher Stein von der matten Oberfläche und etwa dem gelben Tone gelblichen Elfenbeines. Die Farbe ist ein wenig unregelmäßig; Balken und Pfeiler durchbrechen teilweise die zartgetönte Fassade mit grünlichgrauen Linien und Formen, die sich verschmelzen mit den vom hellroten Dach herabgeführten bleiernen Rinnen und Abflußröhren. Nur an einem Punkt tritt ein ausdrückliches Streben nach künstlerischer Wirkung hervor, nämlich in dem meinem Fenster gegenüberliegenden großen gewölbten Tore. Zwei oder drei üppige Stämme gelber Rosen klettern über die Fassade des Gebäudes, und wenn ich am frühen Morgen aus meinem Fenster blicke – denn der utopische Arbeitstag beginnt eine Stunde nach Sonnenaufgang –, sehe ich den Pilatus rosig in den Morgenhimmel hineinragen.
Diese viereckige Bauart herrscht im utopischen Luzern vor, und man kann unter Gängen und gedeckten Säulenreihen von einem Ende zum andern durch die Stadt gehen, ohne jemals durch ein Tor auf die offenen Straßen zu gelangen. In diesen Säulengängen finden sich kleine Läden; die großen Warenhäuser aber sind meist in Gebäuden untergebracht, die man dem Bedürfnisse eigens angepaßt hat. Die Mehrzahl der Wohnhäuser ist viel schöner und reicher ausgestattet als unsere bescheidene Unterkunft. Aber gelegentliche Einblicke in ihre Einrichtung lehren uns, daß das Ideal der Arbeitsersparnis in dieser Welt ohne Dienstboten auf jeder Stufe herrscht, so daß, was man in England eine vollständige Hauseinrichtung nennt, hier kaum bekannt ist.
Der häusliche Lebenskreis ist durch Gasthäuser, Klubs und alle Arten genossenschaftlicher Anstalten weit unter die irdischen Verhältnisse eingeschränkt. Wer nicht in einem Hotel lebt, scheint in der Regel in einem Klub zu leben. Der wohlhabende Utopier gehört gewöhnlich einem oder zwei Wohnklubs gleichgestimmter Männer und Frauen an. Hier findet man außer möblierten Schlafzimmern auch Wohnungen mit einer mehr oder weniger vollständigen Einrichtung. Wer will, kann sich eine davon nehmen und nach seinem persönlichen Geschmacke ausstatten. Ein hübsches Boudoir, Bibliothek, Arbeitszimmer und Garten für private Zwecke gehören zum gewöhnlichsten Luxus. Entwürfe zu Dachgärten, Laubengängen, Veranden und ähnlichen abgeschlossenen Räumen im Freien für die vornehmeren Wohnungen geben der utopischen Baukunst Interesse und Abwechslung. Bisweilen enthalten die Stockwerke kleine Küchenecken – so würde man sie auf Erden nennen –, aber der Utopier würde im allgemeinen ebensowenig daran denken, für seine Mahlzeiten eine eigene Küche zu halten, als er eine eigene Mühle oder Milchwirtschaft unterhält. Geschäfte, Privatarbeit und Berufstätigkeit gehen zuweilen in den Wohnungen vor sich, oft aber auch in besonderen Geschäftszimmern in eigenen großen Stadtvierteln. Ein gemeinsamer Garten, eine Kinderschule, Spielzimmer und ein Spielplatz für die Kinder findet man allgemein in den Klubgebäuden.
Zwei oder drei Hauptstraßen ziehen sich mit ihren Trambahnen, Radfahrwegen und Pfaden für den Schnellverkehr nach der Mitte der Stadt, wo die öffentlichen Gebäude nahe bei den zwei oder drei Theatern und den größern Läden zusammenstehen. Hier münden in Luzern auch die Schnellzüge von Paris, England und Schottland, dem Rhein und Deutschland. Wenn man die innere Stadt verläßt, kommt man zu jenem Gemisch von Heimstätten und freiem Feld, das für alle bewohnbaren Gegenden des Planeten so charakteristisch sein wird.
Hier und dort stehen ganz einsame Heimstätten, die aber gleichwohl durch Kabel von der elektrischen Zentralstation aus beleuchtet und geheizt werden, an die gemeinsame Wasserleitung angeschlossen sind und in vollkommener telephonischer Verbindung mit der übrigen Welt stehen, mit dem Arzt, den Läden und so weiter, die sogar eine pneumatische Röhre für kleine Pakete und Bücher nach der nächsten Poststation haben. Das einsame Wohnhaus ist aber als ständiger Aufenthalt eine Art von Luxus – die Zufluchtsstätte reicher Gartenliebhaber. Die meisten Leute, die Neigung zur Absonderung haben, können sich wahrscheinlich ebensoviel Einsamkeit verschaffen, als sie nur wünschen, indem sie eine Feiertagshütte in einem Walde mieten, an entlegenen Seen oder hoch oben in den Bergen.
Das einsame Haus wird in der Tat auch in Utopien sehr selten sein. Dieselben Kräfte, dieselben Verkehrserleichterungen, welche die Städte auseinanderziehen, veranlassen auch über das Land hin kleinere Sammelpunkte der bäuerlichen Bevölkerung. Die Feldarbeiter nehmen wahrscheinlich ihre Speisen mit sich zur Arbeit während des Tages. Um aber eine behagliche und anziehende Hauptmahlzeit und gebildeten Verkehr zu haben, wenn das Tagewerk vorbei ist, leben sie ohne Zweifel in einem viereckigen Hofgebäude mit gemeinsamem Saal und Klub. Ich glaube nicht, daß es in Utopien noch ländliche Lohnarbeiter geben wird, sondern glaube eher, daß der Ackerbau von Pachtgesellschaften betrieben wird, kleinen demokratischen Gesellschaften mit unbeschränkter Haftung, die unter gewählten Geschäftsführern arbeiten und dem Staate keine feste Pacht, sondern einen Teil des Gewinnes zahlen. Solche Gesellschaften könnten sich ja jedes Jahr neu umbilden, wobei träge Mitglieder ausgeschieden werden. Entwürfe für zusammenwirkende Gesellschaften der Produzenten findet man bei Dr. Hertzka: Freiland. Eine unterste Grenze der Leistungsfähigkeit ließe sich für den Ackerbau dadurch sichern, daß man einen Betrag festlegte, unter den die Rente nicht sinken darf, vielleicht auch durch Beaufsichtigung. Die allgemeinen Gesetze über die Lebensführung fänden natürlich auch Anwendung auf solche Gesellschaften. Diese Art der Zusammenarbeit erscheint mir sozial als die beste Einrichtung für die produktive Land- und Gartenwirtschaft. Solche Unternehmungen aber, wie es Viehzucht, Saatzucht, das Bereithalten und Ausleihen landwirtschaftlicher Geräte wahrscheinlich, Forschungen und Versuche auf landwirtschaftlichem Gebiete aber sicher sind, werden am besten unmittelbar von großen Gesellschaften, der Gemeinde oder dem Staate, in die Hand genommen.
Aber dieser Frage könnte ich nur wenig nachspüren, und das Gesagte geht nur aus gelegentlichen Eindrücken hervor. Man bedenke, daß unsere Spazier- und Beobachtungsgänge meistens innerhalb der mehr städtischen Viertel von Luzern bleiben. Aus einer Anzahl schön gedruckter Plakate an den Straßenecken, die mit beißenden Karikaturen versehen sind, entnehmen wir, daß eine wunderliche kleine Wahl im Gange ist. Es handelt sich um die Auslese des häßlichsten Gebäudes am Ort durch eine Abstimmung auf streng demokratischer Grundlage, die jeden dauernd ansässigen Einwohner des Weichbildes von Luzern über fünfzehn Jahren umschließt. Die alten kleinen Regierungskörperschaften der Stadt und des Kantons sind für alle bedeutenderen Zwecke der Verwaltung längst ersetzt worden durch große Provinzialbehörden; aber noch bestehen sie für eine Anzahl kleinerer Obliegenheiten, unter denen die genannte Art eines ästhetischen Scherbengerichts nicht die geringste ist. Alljährlich legt jede örtliche Regierungsbehörde ein durch öffentliche Abstimmung ausgewähltes Gebäude nieder, die übergeordnete Regierung zahlt dem Besitzer eine kleine Entschädigung und nimmt das Grundstück wieder in Besitz. Der Gedanke mag uns zuerst als eine gewöhnliche Grille auffallen, in Wirklichkeit aber stellt er sich als eine ebenso wirksame wie billige Art dar, auf Baumeister, Ingenieure, Geschäftsleute, Reiche und das Publikum insgesamt einen ästhetischen Erziehungseinfluß auszuüben. Wenn wir aber an die Anwendung dieser Maßregel auf unsere eigene Welt dächten, so müßte dies als das Utopistischste erscheinen, was uns bisher begegnet ist.
Die Fabrik, die uns beschäftigt, ist sehr verschieden von der durchschnittlichen irdischen Fabrik. Unsere Aufgabe besteht darin, kleine Holzspielzeuge für Kinder – Bären, Hirten und ähnliches – vollends fertig zu machen. Die Gegenstände werden im groben von Maschinen hergestellt und dann mit der Hand fertiggemacht. Man hat nämlich gefunden, daß die Arbeit ungeübter, aber interessierter Menschen – es ist in der Tat eine äußerst unterhaltende Arbeit – diesen Dingen etwas Persönliches und ein Interesse verleiht, wie es keine Maschine je erreichen kann.
Wir Schnitzer – die wir der Ausschuß Utopiens sind – arbeiten zusammen in einem langen Schuppen, und zwar nach der Stunde. Wir müssen während der Arbeitsschicht dableiben, sollen aber auch jedesmal eine gewisse Anzahl der Spielzeuge anfertigen. Die Arbeitsregeln, die in dieser besonderen Industrie zwischen Arbeitern und Arbeitgebern gelten, hängen hinter uns an der Wand. Sie werden in einer Konferenz des Ausschusses der Lohnarbeiter mit den Arbeitgebern aufgestellt, ein Ausschuß, der aus den alten Gewerkschaften hervorgegangen ist und nun zu einer verfassungsmäßigen Gewalt geworden ist. Wer aber Geschick und Lust zur Arbeit hat, schließt mit dem Arbeitgeber bald zu einem mehr oder minder höheren Lohne ab.
Unser Arbeitgeber ist ein ruhiger, blauäugiger Mann mit humorvollem Lächeln. Er kleidet sich ganz in Indigoblau, was wir später als eine Art freiwilliger Uniform für utopische Künstler erkennen. Wenn er durch die Werkstatt geht, um über dieses Erzeugnis zu lachen, um jenes zu loben, wird man unfehlbar an eine Kunstschule erinnert. Hin und wieder schnitzt er auch selber ein wenig, macht eine Skizze oder geht zu den Maschinen, um eine Änderung in den groben Modellen anzuordnen, die sie drechseln. Unsere Arbeit ist keineswegs auf Tiere beschränkt. Nach einiger Zeit muß ich ausschließlich ein komisches Pony mit römischer Nase anfertigen, mehrere der besser bezahlten Schnitzer arbeiten karikierende Nachbildungen hervorragender Utopier aus. Über diese sinnt unser Arbeitgeber am liebsten nach, und von ihnen schießt er am häufigsten fort, um das Modell zu verbessern.
Es ist Hochsommer, und unser Schuppen steht auf beiden Seiten offen. Auf der einen erhebt sich eine steile Berglehne, über welche die Wassergleitbahn aus dem dunkeln Walde hoch oben die Stämme herabbringt, indem sie bald einen Spalt überbrückt, bald als eine bloße gerade Rinne quer über eine Wiese, bald verborgen in grünen Zweigen herunterführt. Über uns, jedoch halb verborgen, summt der Maschinenschuppen, aber wir sehen eine Ecke des Bassins, in das die Fichtenstämme hoch aufspritzend hineingleiten. Hin und wieder kommt ein weißgekleideter Maschinist herein, der eine Wolke von Harzgeruch mitführt und einen Korb voll grober, noch nicht ausgearbeiteter Figürchen bringt, die er auf den Tisch schüttet, wo wir Schnitzer sie uns aussuchen.
(So oft ich an Utopien denke, umgibt mich der leichte, schwebende Harzgeruch, und so oft ich Harz rieche, erinnere ich mich an das offene Ende des Schuppens, das auf den See hinaus blickt, den blaugrünen See und die im Wasser sich spiegelnden Boote. In weiter, hoher Ferne erhebt sich das luftige Feenland der Glarner Berge, zwanzig Meilen weit weg.)
Die zweite und letzte Arbeitsschicht hört um die Mittagszeit auf. Dann kehren wir durch dies schöne Stadtgewirr nach Hause zurück in unser billiges Gasthaus am See.
Trotzdem wir kaum mehr als den Mindestlohn verdienen, wandern wir mit merkwürdiger Zufriedenheit dahin. Gewiß haben wir noch ein Unbehagen über die endgültige Entscheidung jenes allumfassenden Auges, das sich auf uns gerichtet hat, und die lächerlichen falschen Nummern liegen auf unserm Gewissen; aber jene allgemeine Rastlosigkeit, die lastende Überanspannung, die den Tagesarbeiter auf der Erde verfolgt, die schmerzende Sorge, die ihn so oft zu stumpfsinnigen Wetten, stumpfsinnigem Trinken, zu gewalttätigen und gemeinen Vergehen treibt, ist aus der Erfahrung der Sterblichen verschwunden.
Nun stelle ich meine Lage in Gegensatz zu meinen vorgefaßten Meinungen über einen Besuch in Utopien. Stets hatte ich mir eingebildet, ich stünde außerhalb der allgemeinen Staatsmaschine – gleichsam auf der Galerie der vornehmen Zuschauer – und nähme die neue Welt in einer Reihe umfassender perspektivischer Bilder in mich auf. Aber dieses Utopien verschlingt mich einfach, wie sehr ich mich auch gegen die dahintreibenden Wellen der Verallgemeinerung stemme. Ich entdecke, daß ich zwischen meiner Arbeit, dem Zimmer, wo ich schlafe und dem Saal, wo ich speise, so ziemlich in derselben Weise hin und her gehe, wie in jener wirklichen Welt, in die ich vor fünfundvierzig Jahren kam. Rings um mich sehe ich Berge und Horizonte, die meinen Blick begrenzen, Einrichtungen, die auch hier ohne Erklärung wieder aus dem Gesichtskreis entschwinden und eine große Vielheit von Dingen, die ich nicht verstehe, und denen gegenüber, um die Wahrheit zu sagen, sich nicht einmal besondere Neugier bei mir einstellt. Sehr unbedeutende Leute, Leute so gefällig wie in der wirklichen Welt treten in persönliche Beziehungen zu uns, und kleine Fäden privaten und unmittelbaren Interesses verweben sich rasch zu einem dichter werdenden grauen Schleier, der den allgemeinen Überblick hemmt. Ich verliere das umfassende fragende Erstaunen meines ersten Auftretens und sehe mein Interesse der Faser des zu bearbeitenden Holzes zugewendet, Vögeln in den Zweigen der Bäume, kleinen, bedeutungslosen Dingen, und nur hin und wieder komme ich wieder richtig in die Geistesverfassung zurück, ganz Utopien als einheitliches Bild aufzufassen.
Das erste in Utopien ersparte Geld verwenden wir darauf, unsere Kleidung auf mehr utopische Art zu erneuern. Wir knüpfen mit mehreren unserer Mitarbeiter und Tischgenossen des Gasthofs Bekanntschaft an. So kommen wir unmerklich zu einem Bekannten- und allmählich zu einem Freundeskreis. Die Weltutopie scheint, wie ich sage, eine Zeitlang, als wolle sie mich verschlingen. Bei dem Gedanken an Einzelheiten erhebt sie sich zu einer mir unfaßbaren Größe. Die Frage nach der Regierung, nach ihren Grundideen, nach der Rasse und der weiteren Zukunft hängt gleich dem Himmelsgewölbe, sehr groß, aber auch sehr fern, über den Ereignissen des Alltags. Die Leute um mich sind Alltagsmenschen, sie stehen nicht sehr hoch über der Mindestleistung, sie sind, wie die Alltagsmenschen der Erde, gewöhnt, alles zu nehmen, wie sie es vorfinden. Nachforschungen, wie ich sie betreibe, sind ihnen ziemlich deutlich ein Überdruß, liegen ebenso vollständig jenseits ihres Bereichs, wie utopische Spekulationen auf Erden jenseits des Gesichtskreises eines Kistenpackers, eines Parlamentsmitgliedes oder eines Bleigießers liegen. Sogar für die Kleinigkeiten des täglichen Lebens interessieren sie sich auf eine andere Art. So komme ich mit Tatsachen und Folgerungen ziemlich langsam vorwärts und sehe mich unter den heiteren Menschenmengen der Straße nach Leuten solchen Schlages um, die mir eine gleichgestimmte Unterhaltung versprechen.
Mein Gefühl der Einsamkeit wird in der Zwischenzeit noch gesteigert durch die größeren sozialen Erfolge des Botanikers. Eben sehe ich, wie er ein Gespräch anknüpft mit zwei Damen, die meist in unserer Nähe an einem Tische sitzen. Sie tragen die weiten, farbigen Gewänder aus weichem Stoff, welche die gebräuchliche Tracht der gewöhnlichen Frauen in Utopien sind, beide sind dunkel und blaß und bevorzugen in ihren Kleidern Bernsteingelb und Rot. Ihre Gesichter scheinen mir ein wenig unintelligent, in ihrem Gebaren liegt eine Spur ältlicher Koketterie, die ich nicht leiden mag. Auf Erden freilich würden wir sie als Frauen von außerordentlich verfeinertem Wesen ansehen. Der Botaniker aber sieht in dieser Richtung Spielraum für die Gefühle, die unter dem Mangel an Aufmerksamkeit von meiner Seite ein wenig verwelkt waren, und er beginnt jenen niedlichen Verkehr, der in einem Wort, einer flüchtigen Höflichkeit, in allgemeinen Fragen und Vergleichen besteht und zuletzt zum Anschluß und zur Vertraulichkeit führt. Das heißt zu der oberflächlichen Vertraulichkeit, die ihm genügt.
Dies führt mich zurück auf meine privaten Beobachtungen.
Der allgemeine Eindruck einer utopischen Bevölkerung ist der der Kraft. Jeder, den man trifft, scheint nicht nur gesund, sondern auch körperlich geübt zu sein; selten sieht man fette, kahle, gebeugte oder graue Leute. Solche, die auf der Erde beleibt, gebeugt oder gealtert wären, haben sich hier gut erhalten; deshalb ist auch der gesamte Eindruck einer Menschenmenge lebendiger und erfrischender als auf der Erde. Die Kleidung ist mannigfaltig und anmutig. Die der Frauen erinnert am meisten an die italienische des fünfzehnten Jahrhunderts; sie tragen eine Fülle weicher, schönfarbiger Stoffe, und die Kleider sitzen selbst bei den Ärmsten ausgezeichnet. Das Haar ist sehr einfach, aber auch sehr sorgfältig und schön geordnet. Außer bei sehr sonnigem Wetter tragen sie weder Hüte noch irgend eine andere Kopfbedeckung. Im Auftreten bemerkt man wenig Unterschied zwischen den einzelnen Klassen. Alle sind anmutig und benehmen sich mit ruhiger Würde. In einer Gruppe dieser Frauen würde eine europäische Modedame mit ihren Spitzen und Federn, ihrem Hut und Geschmeide und dem mannigfachen Allerlei des Putzes aussehen wie eine Barbarin, ausgestattet mit dem vermischten Plunder eines Museums. Knaben und Mädchen haben ziemlich dieselbe Tracht – braune Lederschuhe, eine Art Verbindung von Strumpf und eng anliegendem Beinkleid von den Fersen bis zur Hüfte, darüber ein gürtelloses, gut sitzendes Jackett oder eine Tunika mit Gürtel. Viele schlanke Frauen sind ebenso gekleidet, und in einer Stadt wie Luzern kann man sie häufig so sehen, wenn sie von Ausflügen in die Berge zurückkommen. Die älteren Männer tragen gewöhnlich lange Gewänder, von den andern sehen wir die meisten in verschiedenen Abarten des beschriebenen Kostüms der Kinder. Bei Regenwetter trifft man natürlich Mäntel mit Kapuzen und Schirme, für Schlamm und Schnee gibt es hohe Stiefel, für den Winter Mäntel, Röcke und Pelze. Ohne Zweifel wird die Farbe freier verwendet als im irdischen Europa von heutzutage. Aber die Tracht, wenigstens die der Frauen, wäre nüchterner und praktischer und (den Ausführungen des vorhergehenden Kapitels entsprechend) weniger verschieden von der der Männer.
Dies sind natürlich nur allgemeine Angaben, die schon aus der bloßen Übertragung der früher aufgestellten sozialen Verhältnisse auf die Frage der Tracht hervorgehen. Es herrscht in dieser große Abwechslung und keinerlei Zwang. Die Doppelgänger der Leute, die auf der Erde von Natur eitel sind, sind es auch in Utopien, wer auf Erden von Natur keinen Geschmack hat, der hat dort ein unkünstlerisches Gegenstück. Nicht alle sind dort im Tone ruhig, harmonisch, schön. Auf meinem Wege zur Arbeit bleibe ich zuweilen stehen, wende mich um und werfe noch einen Blick auf ein Kleid mit Goldstickerei, auf geschlitzte Ärmel, auf irgendeine Überspanntheit im Schnitt, auf einen Mißklang oder eine Unsauberkeit. Das alles sind aber nur flüchtige Erscheinungen in einem Meere harmonischer Anmut. Die Kleidung wirkt nicht mehr wie ein unordentliches Durcheinander, wie Aufdringlichkeit, die nur durch die Furcht vor Lächerlichkeit in Schranken gehalten wird; denn dies ist ihr Eindruck in den Kulturverhältnissen der Erde mit ihrem rohen Wettstreit.
Während dieser Tage gehe ich in Luzern umher wie ein Sucher. Ich studiere Gesichter; es ist, als schaue ich nach jemand aus. Da sehe ich denn schwerfällige, stumpfe Gesichter, solche von unsympathischem Eindruck, fremdartige Gesichter und unter diesen einige, die mich unmittelbar ansprechen. Männer von gewinnendem Wesen kommen daher, und ich denke bei mir: »Wie? wenn ich nun mit dir spräche?« Es fällt mir auf, daß viele von ihnen die gleiche Kleidung tragen wie jener Mann im Amte zu Wassen; ich muß diese Tracht für eine Art von Uniform halten ...
Und dann sehe ich Mädchen mit ernsten Mienen, Mädchen in jenem knospenden Alter, in dem ihr Benehmen den trügerischen Eindruck der Weisheit macht. Da faßt mich die alte Täuschung meiner Jugend, und ich denke: »Könnten wir doch miteinander reden!« Frauen gehen leichten Schrittes an mir vorüber, Frauen mit offenen, einladenden Mienen; aber sie ziehen mich nicht an. Und es kommen schöne Frauen mit jenem Anflug klösterlicher Versunkenheit, der jeden Gedanken an Annäherung verbietet. Sie sind in sich abgeschlossen und geborgen, und ich weiß wohl, daß ich keinen Zutritt habe zu ihren Gedanken ...
So oft als möglich gehe ich zu der Bank am Ende der alten Kapellenbrücke und sehe den Leuten zu, die vorübergehen.
Alle diese Tage hindurch bin ich unbefriedigt. Ich sehe diese ganze Zeit immer mehr als eine Pause an, als Zwischenspiel, das Warten zu vertreiben, und der Gedanke an eine Begegnung mit meinem Doppelgänger, der mich zuerst wie ein Witz überkam, wie etwas, das man so hinsagt und wobei man doch überrascht ist, nimmt allmählich feste Gestalt an. In meinem Kopfe wächst sich die Vorstellung aus, daß dies mein utopisches Ich der »Jemand« ist, den ich suche. Erst bildete ich mir eine groteske Begegnung ein, eine Erscheinung wie im Spiegel. Aber bald dämmert es mir auf, daß mein utopisches Ich ein ganz anderes Wesen sein muß als ich. Seine Ausbildung ist anders, anders sein Geistesinhalt. Aber ein seltsames Band wesentlicher Identität besteht zwischen uns, eine Sympathie, ein Verständnis. Ich merke, wie dieser Gedanke mich plötzlich beherrscht und wie das Interesse an Einzelheiten in ein Nichts zusammenschwindet. Daß ich nach Utopien gekommen bin, ist jetzt das Geringere, das Größere ist, daß ich gekommen bin, mir selber zu begegnen.
Stundenlang stelle ich mir die Begegnung vor, erfinde ich kleine Dialoge. Ich gehe allein aufs Amt und frage, ob vom großen Register in Paris Nachricht da ist, aber man sagt mir, ich müsse noch einmal vierundzwanzig Stunden warten. Ich interessiere mich für nichts mehr, was nicht zum Verkehr mit diesem Wesen hinführt, das mir so seltsam fremd und das doch gänzlich das meinige sein muß.
Während ich in solche Gedanken versunken bin, ist es gewiß Sache des Botanikers, zu entdecken, daß Tiere verhältnismäßig selten sind in unserer Umgebung. Er kleidet diese Entdeckung in die Form eines milden Einwandes gegen den utopischen Planeten.
Er ist ein großer Hundeliebhaber, und es sind keine Hunde da. Am Tage unserer Ankunft haben wir keine Pferde, nur zwei oder drei Maultiere gesehen. Katzen scheint es in der Welt keine mehr zu geben. Ich wende meinen Geist in die Bahn seiner Gedanken und sage: »Das kommt eben davon!«
Nur widerstrebend lasse ich mich aus meinem heimlichen Grübeln in ein Gespräch über zärtlich gepflegte Haustiere Utopiens hineinziehen.
Ich versuche darzulegen, daß in der Entwicklung der Welt jene Zeit kommen muß, da ein systematischer, weltumfassender Versuch gemacht wird, eine große Zahl ansteckender und epidemischer Krankheiten auf ewig zu vernichten, und dies wird, wenigstens zeitweise, die vollständige Unterdrückung der freien Bewegung aller Haustiere zur Folge haben. Man wird die utopischen Häuser, Straßen und Kanäle so anlegen und bauen, daß Ratten, Mäuse und ähnliche Hausparasiten unmöglich werden. Das Geschlecht der Katzen und Hunde muß – denn es liefert lebendige Festungen, in die sich Krankheiten wie die Pest, die Influenza, Katarrhe und ähnliches für neue Ausfälle zurückziehen können – eine Zeitlang seine Freiheit einbüßen. Der Schmutz, den Pferde und andere Tiere auf die Landstraße werfen, muß von der Erdoberfläche verschwinden. Solche Dinge sind für mich eine alte Geschichte, und vielleicht leidet durch meine Kürze die Deutlichkeit.
Mein Botaniker begreift durchaus nicht, was das Verschwinden der Krankheiten bedeutet, dazu fehlt es seinem Geiste an einem umfassenden Vorstellungsorgan. Während ich rede, haften seine Gedanken an einem festen Bilde. Der Botaniker würde es wahrscheinlich ein »gutes altes Hündchen« nennen – und er möchte glauben machen, es besitze keinen merklichen Geruch – es hat treue, braune Augen und versteht alles, was man sagt. Der Botaniker möchte glauben machen, es verstehe ihn auf eine mystische Art, und ich stelle mir vor, wie seine lange, weiße Hand – in meinen galligen Augenblicken meine ich, sie könne überhaupt nur Dinge auf Nadeln spießen und eine Linse halten – ihm den Kopf streicht, während aus den Augen des Tieres unsagbare Dinge hervorblicken ...
Der Botaniker schüttelt nach meiner Erklärung den Kopf und sagt ruhig: »Ich mag Ihr Utopien nicht, wenn keine Hunde da sein sollen.«
Vielleicht macht mich das ein wenig boshaft. Ich hasse die Hunde durchaus nicht; aber mir liegt zehntausendmal mehr an einem Menschen als an allen Tieren der Welt, und ich sehe ein, was nach meiner Meinung der Botaniker nicht einsehen kann, daß ein Leben in der köstlichen Atmosphäre vieler Lieblingstierchen zu teuer bezahlt werden kann ...
So komme ich eben wieder zu einem Vergleich zwischen dem Botaniker und mir. Es besteht eine tiefe Verschiedenheit zwischen unserer Vorstellungskraft, und ich möchte wissen, ob dies die Folge angeborenen Charakters oder der Erziehung, ob er der eigentliche menschliche Typus ist oder ich. Ich bin nicht ganz ohne Phantasie, aber was ich davon besitze, neigt ganz beharrlich dazu, sich mit jeder Tatsache in der Welt auseinanderzusetzen. Es stellt kühne Hypothesen auf, aber andererseits will es nicht streng überzeugen. Nun ist des Botanikers Phantasie stets damit beschäftigt, das Unglaublichste glauben zu machen. Dies ist die Art aller Kinder, die ich kenne. Aber mir scheint, darüber sollte man hinauskommen. Die Welt ist keine unsaubere Kinderstube; sie ist für alle, die ihre Schleier heben, ein Bau von unbeschreiblicher Pracht. Vielleicht ist er im Wesen von mir verschieden; aber ich neige zu dem Glauben, daß er nur kindischer ist. Er will immer überzeugen. Er glaubt zum Beispiel, Pferde seien schöne Geschöpfe, Hunde seien herrliche Geschöpfe, manche Frauen seien unbeschreiblich lieblich, und er möchte glauben machen, dies sei immer der Fall. Nie ein Wort der Kritik über Pferd, Hund oder Frau! Nie ein Wort der Kritik über seine untadeligen Freunde! Und dann seine Botanik! Er möchte glauben machen, das ganze Pflanzenreich sei auf geheimnisvolle Weise vollkommen und mustergültig; alle Blumen riechen wundervoll und seien wunderschön, die Fliegenfalle tue den Fliegen nicht sehr wehe, Zwiebeln riechen nicht. Der größte Teil des Weltalls interessiert diesen Naturfreund überhaupt nicht. Aber ich weiß, und ich bin bis zur Unverträglichkeit außer stande, zu begreifen, warum nicht jeder weiß, daß ein Pferd auf eine Art hübsch und auf eine andere sehr häßlich, daß alles Halbseide und darum nur um so mehr bewunderungswürdig ist. Wenn die Leute vom Pferd als einem häßlichen Tiere reden, so denke ich an all das, was es Schönes hat; aber wenn ich einen Strom uneingeschränkten Lobes seiner Schönheit höre, so habe ich den Anblick vor Augen, den man zum Beispiel von einem Jagdwagen aus hat, wo man den Rücken in der Form einer Geige sieht, ferner die betrübende Falte des Halses, den schmalen, plumpen Raum zwischen den Ohren und die häßliche Verkürzung der Backen. Es gibt überhaupt keine Schönheit als in dem flüchtigen Etwas, das immer wieder kommt und verschwindet; alle Schönheit ist eigentlich Schönheit des Ausdruckes, sie liegt in der Bewegung und im Anblick. Dies gilt sogar von jenen Triumphen statischen Strebens, wie sie die Griechen errangen. Der griechische Tempel zum Beispiel ist eine Scheune mit einer Fassade, die in einem bestimmten Gesichtswinkel und in bestimmter Beleuchtung eine große, ruhige Schönheit besitzt.
Doch, wohin kommen wir? Ich glaube, all diese Dinge sind Fälle des Mehr oder Minder, des rechten Augenblickes und Anblickes, selbst jene Dinge, die ich am höchsten schätze. Es gibt keine Vollkommenheit und kein dauerndes Gut. Dieses Schoßhundes liebliche Anhänglichkeit, irgend ein anderer Sinnes- oder Geistesgenuß sind zweifellos gut, aber man kann sie entbehren, wenn sie unvereinbar sind mit einem anderen, umfassenderen Gute. Man kann nicht alles Gute zugleich haben.
Jede richtige und jede kluge Handlung entspricht gewiß einem gesunden Urteil und einem mutigen Verzicht im Fall solcher Unvereinbarkeiten. Wenn ich mir in das Gehirn eines Hundes auch nicht Gedanken und Gefühle hineindenken kann, die unmöglich dort sein können, so kann ich mir doch in die menschliche Zukunft vieles hineindenken, das dort sein könnte, wenn wir nur den Willen hätten, es zu fordern ...
»Ich mag dieses Utopien nicht«, wiederholt der Botaniker. »Von Hunden verstehen Sie nichts. Für mich sind sie menschliche Wesen – ja noch mehr. Als ich klein war, hatte meine Tante in Frognal einen köstlichen alten Hund – –«
Aber ich achte nicht auf sein Geschichtchen. Irgend etwas – etwas wie eine Gewissensregung – bringt mich plötzlich auf die Erinnerung an das Bier, das ich in Hospental trank, und es weist anklagend mit dem Finger auf diese Erinnerung.
Ich gestehe, ich habe nie ein Lieblingstier gehabt, obgleich die jungen Katzen mich ziemlich gut leiden mochten. Wenn ich aber denke, daß ich mich selber ein wenig verwöhnte – –?
Vielleicht war ich vorschnell mit dem Bier. Ich habe keine Lieblingstiere gehabt; aber wenn das moderne Utopien verlangt, daß man die Liebe zu Tieren, die doch auf ihre Art etwas sehr Schönes ist, ihm opfere, so kann es um so mehr das Opfer manch anderer Schwächen verlangen, die vielleicht nicht im geringsten schön sind.
Es ist merkwürdig, wie ich mich immer mit Opfer und Disziplin befassen muß! Langsam wird es bei mir zum herrschenden Gedanken, daß die Menschen, deren Willen dieses Utopien verkörpert, Menschen sein müssen, die wenig Wert auf kleine Genüsse legen. Man kann nicht alles Gute zugleich haben. Dies ist die wichtigste Entdeckung meines Grübelns in Luzern. Vieles andere aus diesem Utopien hatte ich gewissermaßen vorausgesehen, aber dies nicht. Wüßte ich doch, ob ich mein utopisches Selbst auf lange sehen, ob ich frei werde mit ihm reden können ...!
Wir liegen unter einem Judasbaum auf dem blütenbestreuten Gras am Seeufer, während ich mich durch all diese Gedanken winde und jeder von uns ohne Rücksicht auf den andern seinen eigenen Ideen folgt.
Wie ich merke, daß der Botaniker mit seiner Geschichte über jenen Hund aus Frognal zu Ende ist, sage ich: »Sehr merkwürdig.«
»Man fragt sich, wie er das wissen konnte,« sagt er.
»Ja, ja.«
Ich kaue an einem Grashalm.
»Können Sie sich vorstellen,« frage ich, »daß wir in einer Woche unserm utopischen Ich entgegentreten und an ihm so etwa ermessen sollen, was wir hätten sein können?«
Das Gesicht des Botanikers umwölkt sich. Er wälzt sich, setzt sich plötzlich aufrecht und legt die mageren Hände um die Kniee.
»Daran mag ich nicht denken,« sagt er. »Was nutzt es auszurechnen, was man ... hätte sein können?«
Es ist ein lustiger Gedanke, daß man der organisierten Weisheit eines so überlegenen Planeten, wie es dieses Utopien ist, zu schaffen macht, dieses moralischen Riesenstaates, den mein Denken aufgebaut hat. Dahin haben wir es nun gebracht. Als wir wieder vor unserem utopischen Beamten stehen, macht er den Eindruck eines Mannes, der sich vor eine Mystifikation gestellt sieht, die seine Kräfte übersteigt, vor eine unglaubliche Störung in der Ordnung der Natur. Zum ersten Male hat man hier in der Geschichte der utopischen Wissenschaft zwei Fälle – nicht nur einen, sondern zwei, und zwar zwei einander begleitende – von Duplikaten der Daumenabdrücke. Und das zusammen mit dem Märchen einer augenblicklichen Versetzung von einem Planeten her, der doch der utopischen Astronomie unbekannt ist. Daß er und seine ganze Welt nur in einer Hypothese existieren, die alle vorhandenen Schwierigkeiten hell aufklärt, das wird seinem anscheinend unphilosophischen Kopfe kaum einfallen.
Das Auge des Beamten ist beredter, als es seine Lippen sind und fragt beinahe dringend: »Was in dieser unermeßlichen Welt haben Sie mit Ihren Daumen fertig gebracht? Und wozu?« Aber er ist nur ein niederer Beamter, ein Postsekretär, und zeigt die ganze vorsichtige Zurückhaltung des gründlich unoriginellen Menschen. »Sie sind nicht die zwei Personen, als die ich Sie feststellte,« sagt er im Tone eines Menschen, der sich darein ergibt, mit der Unvernunft zu unterhandeln; »denn Sie« – er deutet auf mich – »sind offenbar in Ihrem Wohnsitz zu London.« Ich lächle. »Der Herr da« – er zeigt mit der Feder auf den Botaniker, und zwar auf eine Art, die mein Lächeln ein für allemal abtun soll – »wird nächste Woche in London sein. Er kehrt nächsten Freitag zurück von einer Sondermission, auf der er die Pilzschmarotzer zu erforschen hatte, die auf Ceylon den Chinarindenbaum angefallen haben.«
Der Botaniker dankt dem Himmel.
»Also« – der Beamte seufzt unter der Last solchen Unsinnes, »werden Sie hingehen müssen, um mit den Leuten zu reden, die Sie sein sollten.«
Ich verrate einiges Vergnügen.
»Schließlich werden Sie doch an unsern Planeten glauben müssen,« sage ich.
Er schüttelt verneinend den Kopf. Seine Stellung sei zu verantwortlich zum Scherzen, deutet er mir an. Wir beide kosten, jeder auf seine Art, das Vergnügen, das es uns armen Sterblichen bereitet, wenn wir auf geistig Geringere stoßen. »Die Ständige Identifizierungs-Kommission,« sagt er mit einem Blick auf einen Erlaß, »hat Ihren Fall dem Untersuchungsprofessor der Anthropologie an der Universität zu London unterbreitet, und man wünscht, Sie möchten dorthin gehen, um mit ihm zu sprechen.«
»Was bleibt uns sonst übrig?« sagt der Botaniker.
»Es besteht kein eigentlicher Zwang,« bemerkt er; »aber Ihre Arbeit hier wird wahrscheinlich aufhören. Hier – –« er schiebt uns die sauberen Zettel hin – »sind Ihre Fahrkarten nach London und eine kleine, aber ausreichende Summe Geldes« – er zeigt auf zwei Häufchen von Münzen und Papiergeld zu beiden Seiten – »für einen oder zwei Tage Aufenthalt dort.« Er fährt in derselben trockenen Art fort und sagt uns, wir seien gebeten, unsere Doppelgänger und den Professor, der unsern Fall untersuchen soll, bei erster Gelegenheit aufzusuchen.
»Und dann?«
Er zieht mit schiefem, entschuldigendem Lächeln die Mundwinkel herunter, sieht uns mit zusammengezogenen Brauen schräg an, zuckt die Achseln und zeigt uns die Handflächen.
Auf der Erde, wo es Nationen gibt, wäre er ein Franzose – von der geringeren Art der Franzosen – von der Art, deren einziges Glück in der routinierten Sicherheit einer Regierungsanstellung liegt.
London wird das erste große Stadtzentrum sein, das wir sehen.
Mit nicht geringem Erstaunen sehen wir, daß wir angekommen sind. Zum erstenmal erlebten wir die schnelle utopische Fernreise, und mir war – ich weiß nicht, weshalb – als machten wir die Reise bei Nacht. Vielleicht liegt es daran, daß eben das Ideal der Fernreise eine ruhige Überführung ist, die weniger paßt für die Stunden der Tätigkeit.
Wir speisten an den hübschen Tischchen unter den lampenbeleuchteten Bäumen, plauderten, tranken Kaffee, besuchten das Theater und beschlossen, im Zug das Abendbrot einzunehmen. So gingen wir schließlich zum Bahnhof. Da fanden wir heitere Zimmer mit Sesseln und Büchern – das Gepäck ist anderswo ordentlich untergebracht – und Türen, die vermutlich auf einen Perron hinausführen. Unsere Mäntel, Hüte und sonstigen Dinge für den Aufenthalt im Freien nimmt man uns in der Halle ab, um sie sorgfältig nach London zu adressieren; unsere Stiefel vertauschen wir mit Pantoffeln, und so setzen wir uns wie im Klub. Ein diensteifriges Glöckchen macht uns bald aufmerksam auf ein Schild an der Tür, mit der Inschrift »London«, und ein ausgezeichneter Phonograph verstärkt diesen Ruf mit vollendeter Höflichkeit. Die Türen gehen auf, und wir treten in eine ebenso behagliche Galerie hinaus.
»Wo ist der Zug nach London?« fragen wir einen Mitutopier in Uniform.
»Hier ist der Zug nach London,« antwortet er.
Türen werden zugeschlagen. Der Botaniker und ich durchschreiten forschend den geräumigen Zug, immer mit dem Bestreben, uns nicht zu kindlich zu zeigen.
Die Ähnlichkeit mit einem Klub fällt uns beiden auf. »Einem guten Klub,« verbessert mich der Botaniker.
Wenn man mit einer über ein bestimmtes Maß hinausgehenden Geschwindigkeit fährt, ist es nur ermüdend, zum Fenster hinauszusehen. Unser Korridorzug, der doppelt so breit ist als sein armer irdischer Bruder, macht diese Zerstreuung nicht nötig. Der einfache Gedanke, alle Fenster bis auf ein paar sehr hoch angebrachte zu beseitigen, macht die Wände der langen Gänge für Bücher frei. Der mittlere Teil des Zuges ist denn auch eine behagliche Bibliothek mit vielen Sesseln und Liegestühlen, von denen jeder seine grünbeschirmte Lampe hat. Weiche Teppiche liegen auf dem schalldichten Boden. Weiterhin kommt ein Nachrichtenzimmer mit einem geräuschlos, aber schnell arbeitenden Telegraphen, der in einer Ecke die Botschaften aus den neben dem Bahnkörper laufenden Drähten druckt; dann Plauder- und Rauchzimmer, ein Billardzimmer und der Speisewagen. Hinten finden wir Schlafzimmer, Badezimmer, den Friseur usw.
»Wann fahren wir ab?« frage ich, als wir, ein wenig wie verschämte Tölpel, in die Bibliothek zurückkehren, und der alte Herr, der im Sessel in der Ecke Tausend und eine Nacht liest, blickt mit plötzlicher Neugier zu mir auf.
Der Botaniker berührt meinen Arm und nickt nach einem hübschen bleigefaßten Fensterchen hin, durch das wir ein Dorf vorbeiziehen sehen, schlafend unter umwölktem Mondschein. Dann folgt ein See mit dem Widerschein des Himmels, dann ein Streifen schwankender Lichter, alles so schnell wie Momentaufnahmen.
Zweihundert Meilen die Stunde!
Wir wenden uns an einen würdevollen chinesischen Steward und belegen unsere Betten. Es ist vielleicht eine irdische Gewohnheit an uns, daß wir nicht daran denken, die utopische Literatur zu lesen, die den mittleren Teil des Zuges schmückt. Ich finde ein Bett von einfacher utopischer Art, bleibe eine Zeitlang liegen und denke – ganz ruhig – über dieses wunderbare Abenteuer nach.
Ich frage mich, woher es kommt, daß, wenn man bei ausgedrehtem Lichte sicher im Bett liegt, es immer ist, als sei man am gleichen Ort, wo man sich auch zufällig im Raum befinden mag. Und im Schlafe gibt es überhaupt keinen Raum für uns. Ich werde schläfrig, meine Gedanken werden sprunghaft und metaphysisch.
Das schwache und schwankende Summen der Räder unter dem Wagen wird jetzt, zurückgeworfen von dem vibrierenden Geleise, deutlicher bemerkbar; aber es ist nicht unangenehm laut, sondern nur eine leise Tönung der Stille ...
Keine Seefahrt unterbricht unsere Reise. In jenem anderen Planeten hindert nichts den Kanaltunnel. Ich erwache in London.
Der Zug steht, als ich erwache, schon eine Weile in London, denn diese wunderbaren Utopier haben entdeckt, daß man Fahrgäste nicht einfach, weil sie angekommen sind, in den ersten Morgenstunden zum Zug hinauszuwerfen braucht. Ein utopischer Zug ist nur eine besondere Art von Hotelkorridor, der um die Erde fliegt, während man schläft.
Was wird uns in einer großen Stadt Utopiens besonders auffallen?
Um diese Frage zu beantworten, sollte man notwendig Künstler und Ingenieur sein, und ich bin keins von beiden. Obendrein muß man Worte und Redeformeln gebrauchen, die es noch nicht gibt; denn unsere Welt denkt auch im Traum noch nicht an alles, was sich mit Nachdenken und mit Stahl ausführen läßt, wenn einmal der Ingenieur gebildet genug ist, um Künstler zu sein und die künstlerische Intelligenz so belebt worden ist, daß sie die Durchbildung eines Ingenieurs besitzt. Wie kann man über solche Dinge für eine Zeit schreiben, die die Londoner Tower-Brücke bewundert, jene unpassende und ungeschickte Vermischung aus Eisenkonstruktion und vlämischer Architektur. Wenn früher verwegene Denker von den gewaltigen Gebäuden schrieben, die eines Tages erstehen könnten, dann lieh der Illustrator dem armen, wirkungslosen Wortschwalle des Autors seine gewaltige Suggestion, so daß dann etwas Knolliges, Blühendes und Fließendes entstand im Stil der Zwiebel und des Art Nouveau. Hier aber wird der Illustrator vielleicht nicht eingreifen.
Die Kunst hat in der Welt kaum begonnen.
Ein paar Vorläufer waren da, und das ist alles. Leonardo, Michelangelo, wie hätten sie über die Freiheiten des Stahls frohlockt! Es gibt in den Archiven der Kunst keine rührenderen Urkunden als Leonardos Tagebücher. In ihnen sieht man immer wieder, wie er gleichsam leere, sehnsüchtige Hände ausstreckt nach den ungeborenen Möglichkeiten des Ingenieurs. Und auch Dürer war ein Moderner, mit derselben Neigung nach schöpferischer Erfindung. In unserer Zeit hätten diese Männer Viadukte bauen, wilde und unzugängliche Orte überbrücken, große Eisenbahnen quer durch die Gebirgsmassen der Welt schneiden und spannen wollen. Man kann immer wieder in Dürers Werk, genau wie in der phantasievollen architektonischen Landschaft der Pompejanischen Wände, den Traum von Konstruktionen sehen, leichter und kühner als Stein oder Backstein sie erlauben ... Die utopischen Stadtgebäude werden die Verwirklichung solcher Träume sein.
Dies ist einer der großen Sammelplätze der Menschheit. Hier – ich spreche vom utopischen London – haben wir seit alter Zeit den Mittelpunkt einer der großen Rassen in der Gemeinschaft des Weltstaates – und hier ist ihre soziale und intellektuelle Börse. Es findet sich hier eine gewaltige Universität mit Tausenden von Professoren und Zehntausenden vorgeschrittener Studenten. Große Zeitschriften des Denkens und der Spekulation, reife und glänzende Bücher der Philosophie und alles Wissens, ruhmvolle Erzeugnisse der Literatur werden entworfen, ausgestaltet und in fruchtbarer Muße ans Licht geboren. Hier stehen wunderbare Bibliotheken und Museen von gewaltiger Organisation. Um diese Mittelpunkte drängt sich ein großer Menschenschwarm, und dicht dabei finden wir ein weiteres Zentrum, denn ich als Engländer muß mir notwendig ausbedingen, daß Westminster immer noch ein Sitz der Weltherrschaft bleibt, meinetwegen einer von mehreren Sitzen, – wo der Herrscherrat der Welt zusammentritt. Und dann werden sich die Künste um diesen Mittelpunkt drängen, da die Weisheit auch das Gold anzieht, und Engländer werden die verschlungene, strenge und kühne Phantasie unserer Rasse in wunderbare Prosa, herrliche Verse und zarte lustige Formen weben.
Man betritt diese Stadt wie ein vornehmes Schloß. Über die größeren Plätze der Stadt hat man große Bogen und Glaskuppeln gewölbt, und die schlanke Schönheit der Metallarbeit hoch zu Häupten wird durch die milde Londoner Luft zu feenhafter Unstofflichkeit gedämpft. Es ist dieselbe Londoner Luft, die wir kennen, nur frei von Schmutz und Unsauberkeit, dieselbe Luft, die unsern Oktobertagen eine unaussprechliche Klarheit verleiht und jedes Londoner Zwielicht in geheimnisvolle Schönheit taucht. Wir gehen durch die großen Straßen und finden eine Architektur, die von den letzten Erinnerungen an die flachen Tempelkästen der Griechen und die schmiegsamen Kurven Roms befreit ist; der Gote in uns hat den Stahl und zahllose andere Stoffe so lieb gewonnen wie einst den Stein. Die heitern, sich rasch bewegenden Fußsteige der öffentlichen Straßen laufen zu beiden Seiten hin und befördern einzelne Menschengruppen. Bald stehen wir auf einem Platz in der Mitte der Stadt, der reich besetzt ist mit Palmen, blühenden Büschen und Statuen. Wir blicken eine Baumallee entlang, sehen zwischen hindurch die eng gedrängten Hotels, aus denen noch der Schein ihrer Beleuchtung glänzt, und weiterhin den im ersten Tageslichte strahlenden Morgenstrom dem Meere zueilen.
Große Menschenmengen gehen gemächlich hin und her auf dem Platze, schöne Mädchen und Jünglinge, die in den ringsum liegenden stattlichen Palästen ihre Universitätsklassen aufsuchen, ernste und tüchtige Männer und Frauen auf dem Weg zu ihren Geschäften, Kinder, die in ihre Schulen schlendern, feiernde Leute, Liebespaare, die nach Hunderten von Zielen streben. Hier fragen wir nach den beiden, die wir insbesondere suchen. Ein anmutiger kleiner Telephonkiosk verbindet uns mit ihnen, und mit einem wunderlichen Gefühl der Unwirklichkeit wird mir klar, daß ich mit meinem utopischen Zwillingsbruder spreche. Er hat schon von mir gehört, möchte mich sehen und gibt mir klare Anweisungen, wie ich ihn erreichen kann.
Klingt meine eigene Stimme wirklich wie diese?
Ich antworte ihm: »Ja, ich will also kommen, sobald wir nach unsrem Hotel gegangen sind.«
Wir reden nicht viel bei dieser merkwürdigen Veranlassung. Aber ich fühle eine ungewohnte Erregung. Ich zittre stark, so daß mein telephonisches Hörrohr klirrt, als ich es wieder aufhänge.
Von da gehen der Botaniker und ich zu den uns vorbehaltenen Zimmern, wo die armen, kleinen Bündel des Besitztums, das sich in Utopien um uns gesammelt hat, ferner unsere irdischen Kleider, Wäsche und dergleichen schon abgegeben worden sind. Unterwegs merke ich, daß ich meinem Gefährten wenig zu sagen habe, bis mich plötzlich eine flüchtige Verwunderung überkommt, daß auch er so wenig sollte zu sagen haben.
»Kaum kann ich mir noch vorstellen,« sage ich, »daß ich mich selber sehen soll – wie ich hätte sein können.«
»Nein,« sagte er und versinkt sofort wieder in seine eigenen Gedanken.
Einen Augenblick lang komme ich einem doppelten Selbstvergessen nahe, aus Neugier, woran er wohl denken möge.
Bevor ich aber eine weitere Bemerkung anbringen kann, sehen wir uns am Eingang unseres Hotels.