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Die alten Utopien – abgesehen von den Zuchtstaaten Platos und Campanellas – kannten nicht jenen Wettbewerb der Fortpflanzung unter den Individuen, der das Wesen des Lebens ist und beschäftigten sich hauptsächlich mit seinen Zufälligkeiten. Die endlose Mannigfaltigkeit der Menschen, ihre endlose Abstufung nach der Beschaffenheit, über welcher die Hand der Auswahl schwebt und der wir den unübersehbaren Reichtum des wirklichen Lebens verdanken, lassen sie stillschweigend beiseite. Die wirkliche Welt ist aber ein ungeheures Wirrsal von Zufällen und unberechenbaren Kräften, in dem die Menschen überleben oder zugrunde gehen. Eine moderne Utopie darf im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen an diesen Verhältnissen nichts ändern wollen. Sie mag den Widerstreit ordnen und menschlicher machen, aber immer müssen die Menschen überleben oder zugrunde gehen.
Die meisten Utopien stellen sich dar in geordnetem Gang, mit fest begründetem Glück; es ist für sie eine wesentliche Bedingung, daß ein glückliches Land keine Geschichte haben kann. Alle Bürger, die man zu sehen bekommt, sehen gut aus, sind aufrechte, geistig und sittlich rein gestimmte Menschen. Wir stehen aber unter der Herrschaft einer Logik, nach der wir die tatsächliche Bevölkerung einer Welt nur mit solchen sittlichen, geistigen und körperlichen Verbesserungen annehmen können, die in ihrer eigenen Möglichkeit begründet sind, und wir haben uns zu fragen, was Utopien mit seinen ihm geborenen Siechen, Schwachsinnigen und Irren, mit seinen Trinkern und Verbrechern, seinen grausamen und hinterlistigen Menschen, seinen Stumpfsinnigen, die für das Gemeinwesen unbrauchbar sind, seinen schwerfälligen, ungelehrigen und begrifflosen Leuten anfangen wird? Und was wird es mit denen tun, die einfach »arm« sind, den mutlosen, untüchtigen Menschen niederen Ranges, die auf der Erde in der Höhle des Blutsaugers sitzen, unter dem Banner der Arbeitslosen das Pflaster treten, oder – in eines anderen abgelegten Kleidern und mit ewigem Lüften des Huts – im Bereiche ländlicher Arbeit zittern?
Diese Leute werden verschwinden müssen, die Gattung hat dahin zu arbeiten, daß sie ausgeschaltet werden; um diese Notwendigkeit kommt man nicht herum. Umgekehrt müssen die Menschen von vorzüglicher Art zunehmen. Der bessere Menschenschlag muß, soweit er sich erkennen läßt, die vollste Freiheit im Dienste der Öffentlichkeit und die vollste Gelegenheit zur Fortpflanzung haben. Und es muß jedermann freistehen, sich dieses Vorranges würdig zu erweisen.
Die Natur verfährt dabei so, daß sie die körperlich und geistig Schwachen tötet, vernichtet, verhungern und niedertreten läßt, wobei sie die Stärkeren und Klügeren als Waffe benutzt. Der Mensch aber ist das unnatürliche Wesen, das widerspenstige Kind der Natur, und immer mehr und mehr wendet er sich gegen die harte und launische Hand, die ihn aufzog. Mit wachsendem Groll sieht er, über welche Menge leidenden und erfolglosen Lebens die Gattung bei ihrem Aufstieg wegschreitet. Im modernen Utopien wird er begonnen haben, das alte Gesetz zu ändern. Es wird nicht mehr so sein, daß die Gescheiterten leiden und umkommen müssen, damit ihre Brut sich mehre, sondern die Brut der Gescheiterten darf sich nicht mehren, damit sie nicht mehr leiden und umkommen – und mit ihnen die Rasse.
Wir brauchen uns hier nicht um den Beweis zu bemühen, daß die Hilfsquellen der Welt und die Kräfte der Menschheit, wären sie richtig verwaltet, reichlich genügten, um jedes äußere Bedürfnis jedes menschlichen Lebewesens zu befriedigen. Und wenn man es so einrichten kann, daß jeder Mensch sich eines vernünftigen körperlichen und geistigen Wohlbehagens erfreuen kann, ohne daß Minderwertige wieder auftauchen, so besteht keinerlei Grund, warum das nicht durchgesetzt werden sollte. Aber irgendwie muß es im Leben einen Wettbewerb geben, der entscheidet, wer beiseite geschoben werden und wer herrschen und sich vermehren soll. Der Mensch bleibt eben immer dem Kampf ums Dasein unterworfen, und wenn auch die sittliche und geistige Vervollkommnung ihm andre und höhere Ziele steckt und durch Verfeinerung und vielen Trost den Kampf mildert, so wird doch kein Utopien ihn je gänzlich bewahren können vor dem aufregenden Drama dieses Kampfes, vor Frohlocken und Demütigung, vor Stolz und Niedergeschlagenheit und Schande. Er lebt so unvermeidlich in Erfolg und Mißerfolg, als er in Raum und Zeit lebt.
Aber wir können viel tun, um den Mißerfolg äußerlich erträglich zu machen. Auf der Erde ist für die Masse des niedersten Volkes der Kampf trotz aller übertriebenen Wohltätigkeit ein Kampf um Brot, Obdach und Kleidung, und zwar oft ein sehr ekler und häßlicher Kampf. Todesfälle als unmittelbare Folge von Obdachlosigkeit und Hunger sind zwar heutzutage vielleicht selten. Aber die große Masse hat nur elende Wohnungen, armselige Kleidung, schlechte und ungenügende Nahrung, das heißt, sie stirbt allmählich weg an Hunger und Not. Eine auf modernen Begriffen aufgebaute Utopie wird diesen Dingen sicherlich ein Ende gemacht haben. Sie wird darauf bestehen, daß jeder Bürger geeignete Unterkunft, gute Nahrung, richtige Gesundheitspflege und Kleidung erhält, und ihre Arbeitsgesetze werden auf diesem Grundsatz aufgebaut sein, oder mit Worten, die wohl jedermann bekannt sind, der sich für soziale Reformen interessiert: sie wird einen Normalmaßstab des Lebens aufstellen. Jedes Haus, das die vorgeschriebene Gesundheit und Bequemlichkeit nicht bietet, wird der utopische Staat, wofern er nicht ein öffentliches Baudenkmal ist, unverzüglich niederreißen, das Material aufhäufen und dem Besitzer die Kosten der Arbeit zuweisen lassen. Jedes Haus, das ungebührlich überfüllt oder schmutzig ist, muß er auf wirksame Weise, mittelbar oder unmittelbar, an sich bringen, räumen und säubern. Und er muß jedem Bürger, der schlecht gekleidet, zerlumpt und schmutzig oder sichtlich krank ist, der obdachlos im Freien schläft oder irgendwie vernachlässigt und hilflos ist, seine Fürsorge zuwenden. Der Staat wird ihm Arbeit suchen, wenn er arbeiten kann und will, ihn heranziehen, vormerken und ihm Geld leihen, um anständig leben zu können, bis sich Arbeit für ihn findet oder schaffen läßt. Und er wird ihm im Falle der Krankheit Kredit, Obdach und Stärkung geben. Wenn private Unternehmungen fehlen, sorgt der Staat selbst für Gasthöfe und Nahrung, und dadurch, daß er in jedem Fall Arbeitgeber ist, hält er einen Mindestlohn aufrecht, der die Kosten eines anständigen Lebens deckt.
Der Staat steht im Hintergrund des wirtschaftlichen Kampfes als Arbeitgeber in jedem Fall. Diese ausgezeichnete Idee liegt freilich schon der englischen Einrichtung des Arbeitshauses zugrunde. Aber diese ist vermengt mit der Alters- und Invalidenversorgung, sie wird von der Gemeindepflege verwaltet und auf Grund der Voraussetzung, daß die ganze Bevölkerung örtlich ansässig bleibt, während sie doch jedes Jahr wanderlustiger wird. Sie nimmt in ihrer Verwaltung keine Rücksicht darauf, daß die Ansprüche an das Leben und daß das Selbstgefühl mit der fortschreitenden Zivilisation wachsen, und es fehlt ihr die Liebe zur Sache. Was geschieht, das geschieht als eine widerwillige Wohltat von seiten der Verwalter, die oft selbst, wenigstens in ländlichen Gegenden, in niedrig bezahlter Arbeit konkurrieren, und die Arbeitslosigkeit als Verbrechen ansehen. Wäre es aber jedem bedürftigen Bürger möglich, an öffentlicher Stelle Arbeit als sein Recht zu verlangen und dort ohne Erniedrigung eine Woche oder einen Monat gegen einen bestimmten Mindestlohn zu arbeiten, so würde wohl keiner mehr um einen geringeren Lohn arbeiten, ausgenommen in einigen vorübergehenden, seltenen Notfällen.
Die öffentlich zugewiesene Arbeit müßte mühsam sein, aber nicht grausam noch übermäßig. Auch müßte eine Auswahl der Beschäftigungen geboten werden, die sich verschiedenen Arten der Fähigkeit und der Ausbildung anpassen. Für diejenigen, die unfähig sind eine Arbeit zu leisten, die Nachdenken erfordert, müßte eine rein äußerliche und mechanische Beschäftigung aufgespart werden. Gewiß wäre die Staatsarbeit eine Erleichterung des wirtschaftlichen Drucks, aber sie würde nicht als eine dem einzelnen erwiesene Wohltat, sondern als öffentlicher Dienst angesehen werden. Sie brauchte sich ebensowenig bezahlt zu machen wie etwa der Polizeidienst, aber sie könnte wahrscheinlich mit geringem Verlust durchgeführt werden. Es gibt eine Anzahl haltbarer Waren, die beliebig später in Gebrauch genommen und zu einer Zeit angefertigt und aufgespeichert werden können, da die besser bezahlte Arbeit abflaut und der Lohn auf das Minimum sinkt: Backsteine, Eisen aus geringeren Erzen, zugeschnittenes und imprägniertes Holz, Nadeln, Nägel, einfache Baumwollen- und Leinengewebe, Papier, Tafelglas, künstliches Brennmaterial und so fort. Man könnte neue Straßen bauen und öffentliche Gebäude ausbessern, allerlei Mißstände beseitigen, bis die Flut privater Unternehmungen unter dem Anreiz des sich häufenden Materials, der wachsenden Kapitalanlagen oder anderer Umstände wieder einsetzte.
Der Staat wird seinen Bürgern solche Einrichtungen bieten, als hätte dieser ein Recht, sie zu verlangen, und der Bürger bezieht seinen Lohn als Teilhaber an der gemeinsamen Unternehmung, ohne den Schimpf der Wohltat. Andererseits aber verlangt der Staat, daß der Bürger, der unter diesen Bedingungen den Mindestdienst leistet, keine Kinder zeugt, ehe er Arbeit zu einem höheren Lohn hat und von allen etwa eingegangenen Schulden frei ist. Der Staat übt der Schulden wegen keinen Druck aus und zieht deren Höhe auch keine Grenzen, solange ein Mann oder eine Frau kinderlos bleiben; er mißgönnt diesen auch zeitweilige Erholungspausen nicht, wenn sie ihren Verdienst über den Mindestlohn zu erheben vermögen. Er wird für jeden, dem daran liegt, eine Alterspension vorsehen und besondere Heimstätten für die ganz Alten errichten, die sie als zahlende Gäste aufsuchen können, um dort ihre Pension zu verbrauchen. Durch diese einfachen Vorkehrungen werden die körperlich und geistig Schwachen jeder Generation so weit als möglich ausgeschaltet, während doch Leiden und Störungen der öffentlichen Ordnung so wenig als möglich notwendig werden.
Aber die harmlos Untauglichen, die geistig Minderwertigen und die noch ärmere Klasse der Kranken erschöpfen unser utopisches Thema noch nicht. Es bleiben Blöde und Irre, Perverse und Unzulängliche, Leute von schwachem Charakter, die Trinker, Morphinisten und dergleichen mehr. Ferner gibt es Leute mit widrigen und ansteckenden Krankheiten. Alle diese machen das Leben den andern unangenehm. Sie können Nachkommenschaft zeugen, und man kann daher mit den meisten von ihnen nichts anderes anfangen, als sie von der großen Gemeinschaft der Bevölkerung abschließen. Es muß eine Art sozialer Chirurgie zu Hilfe genommen werden. Solange gewisse Leute frei umhergehen, gibt es keine soziale Freiheit im öffentlichen Verkehr, können Kinder nicht sprechen, mit wem sie wollen, Mädchen und zarte Frauen nicht allein ausgehen. Und es gibt gewalttätige Menschen, ferner solche, die das Eigentum anderer nicht achten, Diebe und Betrüger; auch sie müssen, sobald ihre verbrecherische Art feststeht, aus dem freien Leben unserer geordneten Welt verschwinden. Sobald über die krankhafte oder niedrige Art eines Menschen kein Zweifel mehr bestehen kann, sobald Wahnsinn oder eine andre Krankheit festgestellt ist, sowie ein Verbrechen sich zum drittenmal wiederholt, Trunkenheit und öffentliches Ärgernis etwa zum siebenten Male vorliegt, muß er oder sie aus den gemeinsamen Gebieten der Menschen verschwinden.
Der Schrecken aller dieser Vorschläge liegt nur in der Möglichkeit, daß ihre Ausführung in die Hände harter, beschränkter und grausamer Beamten fällt. Aber für eine Utopie setzen wir die bestmögliche Regierung voraus, eine Regierung, die ebenso milde und vorsichtig als kräftig und entschlossen ist. Man darf nicht vorschnell daran denken, daß all das – wie es gegenwärtig auf der Erde geschähe – von einer Menge eifriger, halbgebildeter Leute in einer eingebildeten schrecklichen Angst vor der »Rapiden Vermehrung der Untauglichen« ausgeführt würde.
Bei ersten Vergehen und solchen von Personen unter fünfundzwanzig Jahren muß im modernen Utopien eine vorsichtige, bessernde Behandlung versucht werden. Es müssen Zuchtschulen bestehen für diese Jugend, menschliche und beglückende Anstalten, die aber weniger freien Spielraum gewähren als die gewöhnlichen Schulen. Sie sollen in entlegenen, einsamen Gebieten liegen, abgeschlossen und dem gewöhnlichen Verkehr der Menschen unzugänglich sein, und hier, fern von allen Versuchungen, soll der noch mangelhafte Bürger erzogen werden. So wird die Lehre deutlich gemacht: »Was ist dir lieber, die weite Welt der Menschheit oder dein eigener Hang zum Bösen?« Aus dieser Zucht werden die Gefangenen schließlich ins Leben zurückkehren.
Aber die andern? was täte eine bessere Welt mit diesen?
Unsere Welt ist noch rachsüchtig, aber der allumfassende Staat von Utopien wird die Kraft besitzen, die das Erbarmen gebiert. Ruhig wird der Geächtete aus dem Kreise der Mitmenschen weggehen. Er wird nicht unter Trommelwirbel aus Reih und Glied gejagt, man reißt ihm nicht die Epauletten ab, man schlägt ihn nicht ins Gesicht. Nur soviel Öffentlichkeit, daß heimlicher Tyrannei vorgebeugt ist, das genügt.
Man wird die Verbrecher weder hinrichten noch langsam Hinsterben lassen.
Utopien wird ja gewiß alle krüppelhaften, mißgestalteten und siechen Neugeborenen töten, für das Dasein der übrigen aber wird der Staat sich als verantwortlich ansehen. In der Natur mag es vielleicht keine Gerechtigkeit geben, aber jeder guten menschlichen Gesellschaft muß die Idee der Gerechtigkeit heilig sein. Ein Leben, das der Staat zugelassen, einen Irrtum, den er nicht vorgesehen oder durch die Erziehung gebessert hat, darf er nicht mit dem Tode bestrafen. Wenn der Staat keine Treue hält, so wird niemand Treue halten. Verbrechen und schlechtes Leben sind das Maß für den Mißerfolg eines Staates, jedes Verbrechen fällt im Grunde dem Gemeinwesen zur Last. Selbst auf Mord wird Utopien vermutlich nicht die Todesstrafe setzen.
Es mag sogar zweifelhaft sein, ob es Gefängnisse geben wird. Die Menschen sind nicht klug, gut und gerecht genug, Gefängnisse so zu verwalten, wie sie verwaltet werden sollten. Vielleicht wählt man Inseln aus, abseits der Verkehrswege des Meeres, wohin der Staat seine Verbannten schickt, und die meisten von diesen werden ohne Zweifel Gott danken, daß sie aus einer Welt der Heuchler erlöst sind. Natürlich muß der Staat jede Fortpflanzung dieser Menschen verhindern, darauf ist bei ihrer Abschließung in erster Linie zu achten. Vielleicht ist es nötig, diese Inselgefängnisse als Inselklöster anzulegen. In diesem Punkt bin ich nicht sachverständig, wenn ich aber der bezüglichen Literatur glauben darf – leider eine wenig gelobte Literatur – so wäre eine solche Trennung nicht durchaus notwendig. Vgl. zum Beispiel Dr. W. A. Chapple, Fruchtbarkeit der Untauglichen.
Um solche Inseln werden Patrouillenboote fahren, der Schiffsbau wird nicht gestattet sein und die Landungsstellen und Buchten müssen vielleicht mit bewaffneten Wachen versehen werden. Davon abgesehen läßt der Staat den Gescheiterten, die er hier verwahrt, soviel Freiheit als möglich. Wenn er noch weiter eingreift, wird er nur eine Inselpolizei einrichten, um planmäßige Ausschreitungen ernsteren Charakters zu verhindern, wird jedem Gefangenen die Freiheit sichern, auf eine andere Insel überzusiedeln und so jede Tyrannei unmöglich machen. Die Geisteskranken müssen natürlich gepflegt und beaufsichtigt werden, aber es ist kein Grund vorhanden, weshalb zum Beispiel die Inseln der unverbesserlichen Trinker nicht sich tatsächlich selbst verwalten und höchstens einen Residenten und eine Wache erhalten sollten. Ich glaube, ein Gemeinwesen von Trinkern wäre sogar imstande, die eigene schlechte Gewohnheit so zu ordnen, daß das Dasein so erträglich als nur möglich wäre. Es ist nicht einzusehen, weshalb eine solche Insel nicht für sich selbst bauen, Gewerbe und Handel treiben und die Ordnung aufrecht erhalten sollte. »Eure Wege sind nicht unsere Wege«, wird der Weltstaat sagen, aber da habt ihr Freiheit und die Gesellschaft verwandter Seelen. Wählt eure lustigen Herrscher, braut und brennt, soviel ihr wollt; hier sind Rebensetzlinge und Gerstenfelder, tut, wie es euch gefällt. Wir wollen die Messer in Verwahrung nehmen, aber im übrigen findet euch mit Gott ab!«
Da liegt nun auch der große Dampfer, der die Verurteilten nach der Insel der unheilbaren Betrüger gebracht hat. Die Mannschaft steht achtungsvoll auf den Posten, bereit, hilfreiche Hand über Bord zu reichen, aber mit offenen Augen, und der Kapitän steht freundlich auf der Brücke, um seinen Gästen Lebewohl zu sagen und dabei die beweglichen Güter im Auge zu behalten. Die neuen Bürger dieses besonderen »Landes der Fremde« – ein jeder mit seiner sicher verpackten persönlichen Habe zur Hand – drängen sich auf Deck, um die nahe Küste zu studieren. Da sähe man leuchtende, scharfe Augen, und stünden wir etwa zur Seite des Kapitäns, so könnten wir den Doppelgänger manch eines irdischen Großen erkennen, Petticoat Lane und Park Lane dicht beieinander. Der Landeplatz des Hafendammes ist frei von Menschen, nur etwa ein Regierungsbeamter steht bereit, um das Schiff zu empfangen und ein ungestümes Gedränge zu verhindern, aber hinter den Gittern treibt sich erwartungsvoll eine Anzahl gewinnend eleganter Individuen umher. Man sieht ein auffallendes Gebäude mit der Aufschrift: Zollhaus, eine interessante Wiederbelebung fiskalischer Gebräuche, die von dieser Bevölkerung eingeführt wurde, und weiter den Hügel hinauf schreien uns die bunt bemalten Mauern behaglicher Hotels laut an. Ein oder zwei verarmte Einwohner arbeiten als Hoteldiener, wir finden mehrere Hotelomnibusse und eine Wechselstube, vor allem eine Wechselstube. Ein kleines Haus nennt sich auf einem großen, direkt seewärts blickenden Schilde »Gratis-Auskunfts-Bureau«, neben ihm erhebt sich die anmutige Kuppel eines kleinen Kasinos. Weiterhin verkünden große Reklamegerüste die Vorzüge vieler Inselspezialitäten, Allerleiwaren und die Veranstaltung einer öffentlichen Lotterie. Eine große, billig aussehende Baracke steht da: die Schule für Handelswissenschaften, die sich an Herren von ungenügender Ausbildung wendet.
Im ganzen wäre es ein sehr flott aussehender kleiner Hafen, und obgleich die Landung hier nichts hätte von jener mitreißenden heiteren Kameradschaftlichkeit, die einen Lichtkranz lustigen Lärms um die Trinkerinseln zöge, so bleibt es doch zweifelhaft, ob Neuankommende den Augenblick als sehr tragisch empfänden. Hier wäre auf jeden Fall ein weites Feld für Abenteuer nach ihrem Herzen.
Dies klingt phantastischer, als es ist. Aber was sonst tun, wenn man einmal nicht töten will? Man muß abschließen; aber wozu sollte man quälen? Alle modernen Gefängnisse sind Orte der Qual durch die Einsperrung, und der Gewohnheitsverbrecher spielt die Rolle der verwundeten Maus, die in der Gewalt der Katze unseres Gesetzes ist. Er darf unter Schmerzen einen Augenblick davonlaufen, dann aber gelangt er wieder in den Zustand zurück, der noch schrecklicher ist als das Elend. Es gibt kein »Land der Verbannung« mehr in der Welt. Ich meinerseits kann mir kein Verbrechen denken, es sei denn leichtsinnige Zeugung oder absichtliche Übertragung einer ansteckenden Krankheit, für das die schwarzen Schrecken, die Einsamkeit und Schmach des modernen Gefängnisses nicht empörend grausam erschiene. Wenn man so weit gehen will, dann töte man gleich. Weshalb sollte man, wenn man sie einmal los ist, Verbrecher noch damit plagen, daß man ihnen eine ihrer Natur widersprechende Lebensführung auferlegt? Auf solche Verbannungsinseln wie die geschilderte muß eine moderne Utopie alles schicken, was sie aussondert. Eine andere Wahl kann ich mir nicht denken.
Wird es einem Utopier erlaubt sein, müßig zu gehen?
Es muß Arbeit geleistet werden. Jeden Tag erhält sich die Menschheit durch ihre Gesamtleistung, und ohne beständige Wiederkehr der Arbeit des einzelnen oder der Rasse als eines Ganzen gibt es weder Gesundheit noch Glück. Dauernder Müßiggang eines Menschen ist nicht nur der Welt zur Last, sondern bedeutet sein eigenes sicheres Elend. Aber unter den Müßiggang ist auch die nutzlose Beschäftigung zu rechnen, und man kann fragen, ob diese dem Utopier gleichfalls zustehen wird? Voraussichtlich ja, ebenso wie die Abschließung, freie Bewegung und beinahe alle Freiheiten des Lebens, natürlich unter den gleichen Bedingungen – wenn er Geld genug hat, dafür zu zahlen.
Diese letztere Bedingung mag solche Geister verletzen, die sich an den Grundsatz gewöhnt haben, daß das Geld die Wurzel alles Übels ist, und an den Gedanken, daß Utopien in all diesen Dingen notwendigerweise etwas Eichenes, Handgemachtes, Primitives bedeuten müsse. Natürlich ist das Geld nicht die Wurzel alles Übels in der Welt. Die Wurzel alles Übels, aber auch die Wurzel alles Guten ist der Wille zum Leben, und das Geld wird nur dann schädlich, wenn es infolge schlechter Gesetze und schlechter wirtschaftlicher Einrichtungen leichter von schlechten als von guten Menschen erworben werden kann. Ebenso vernünftig könnte man sagen, die Nahrung sei die Wurzel aller Krankheiten, weil so viele Leute von übermäßigem oder unklugem Essen krank werden. Das gesunde wirtschaftliche Ideal besteht darin, daß Geldbesitz ein deutlicher Beweis für die Brauchbarkeit im Dienste der Gemeinschaft sei. Je genauer dieses Ideal erreicht wird, um so seltener wird sich Armut rechtfertigen lassen, um so seltener wird sie als Härte empfunden werden. In barbarischen und ungeordneten Ländern ist es fast eine Ehre, bedürftig zu sein und unfraglich eine Tugend, dem Bettler Almosen zu geben. Aber auch in den mehr oder weniger zivilisierten Ländern der Erde kommen so viele Kinder hoffnungslos benachteiligt zur Welt, daß Strenge gegen die Armen als die niedrigste Tugend gilt. In Utopien aber wird jeder Erziehung und ein bestimmtes Minimum der Ernährung und Ausbildung erhalten haben; jeder wird gegen Krankheit und Unglücksfälle versichert sein; die wirksamsten Einrichtungen werden Sorge tragen für den Ausgleich der Arbeitsgelegenheit und der Arbeitslosigkeit, so daß Mittellosigkeit der deutlichste Beweis der Untauglichkeit sein wird. In Utopien wird sich niemand träumen lassen, einem etwaigen Bettler zu geben, aber auch niemand, zu betteln.
An Stelle der Asyle für Obdachlose wird es einfache, aber bequeme und billige Gasthäuser geben, die vom Staate bis zu einem gewissen Grad beaufsichtigt, manchmal ganz unterhalten werden. Die Preise müssen hier ein so bestimmtes Verhältnis zum vorgeschriebenen Mindestlohne haben, daß ein von der Sorge um eine Familie oder um sonstige Angehörige freier Mann mit diesem Mindestlohn anständig und behaglich leben, seine kleinen Versicherungsbeiträge gegen Krankheit, Tod, Arbeitsunfähigkeit oder Alter bezahlen und noch etwas erübrigen kann für die Kleidung und andere persönlichen Ausgaben. Er wird aber weder Unterkunft noch Nahrung erhalten, wenn er nicht Geld verdient, es sei denn um den Preis seiner Freiheit.
Nun stelle man sich einen mittellosen Menschen vor in einer Gegend, wo er keine Arbeit finden kann, etwa, weil die Arbeitsgelegenheit in dieser Gegend so plötzlich abgenommen hat, daß er sich aufs Trockene gesetzt sieht. Oder er habe mit dem einzigen möglichen Arbeitgeber Streit gehabt, oder er mag diese besondere Arbeit nicht tun. Dann wird ihm der utopische Staat, der jeden so glücklich machen will, als es eine gute Zukunft der Rasse selbst gestattet, gewiß zu Hilfe kommen. Da mag er vielleicht seine Zuflucht bei einem sauberen, praktischen Postamt suchen und einem höflichen und einsichtsvollen Beamten seinen Fall darlegen. In einem gesunden Staatswesen sollten die wirtschaftlichen Verhältnisse jeder Gegend ebenso beständig überwacht werden wie die meteorologischen, und an dem Postamt sollte eine Tageskarte der Gegend hängen, die alle Plätze innerhalb eines Radius von drei- oder vierhundert Meilen mit Arbeitsgelegenheit angibt, und auf die man allgemein hinweist. Dann wird sich der Arbeitslose entschließen, hier oder dort sein Glück zu versuchen, und der Diener des Gemeinwesens, der Beamte, wird ihn vormerken, seine Identität feststellen – in Utopien wird die persönliche Freiheit nicht unverträglich sein mit dem allgemeinen Eintrag von Daumenabdrücken – wird ihre Reisepässe und Gutscheine für die nötige Unterkunft in Gasthäusern auf dem Wege zu dem erwähnten Ziele mitgeben. Dort wird er einen neuen Arbeitgeber suchen.
Ein solcher freier Ortswechsel, ein- oder zweimal im Jahr, aus einer Gegend beschränkter Arbeitsgelegenheit in eine andere von zu geringem Arbeitsangebot wird zu den allgemeinen Rechten des utopischen Bürgers gehören.
Wenn aber nirgends eine Arbeit frei wäre für die besonderen Fähigkeiten eines einzelnen?
Ehe wir dies annehmen, müssen wir uns die allgemeine Voraussetzung näher ansehen, die man bei allen utopischen Spekulationen machen darf. Alle Utopier müssen, ihrer Bestimmung und den herrschenden Begriffen entsprechend, eine gute Bildung haben; es kann, abgesehen von unrettbaren Dummköpfen, keine Analphabeten und keine unselbständig mechanischen Arbeiter geben, die abgerichteten Tieren gleichen. Der Arbeiter Utopiens wird so gewandt sein, als es nur irgendein Gebildeter bei uns ist, und keine Gewerkschaft wird seiner Berufstätigkeit Schranken ziehen. Die ganze Welt ist seine Gewerkschaft. Wenn sich die Arbeit, die er am besten und liebsten verrichtet, nicht finden läßt, so bleibt immer noch die Arbeit, die er nächst jener am liebsten tut: wenn ihm sein eigentliches Gewerbe fehlt, so wendet er sich einem verwandten zu.
Aber selbst bei dieser Anpassungsfähigkeit mag es zuweilen vorkommen, daß er keine Arbeit findet. Es kann sich zwischen der verlangten Arbeit und dem Arbeitsangebot ein solches Mißverhältnis bilden, daß überall ein Überschuß an Angebot entsteht. Zwei Ursachen können daran schuldig sein: ein Wachstum der Bevölkerung ohne entsprechendes Wachstum der Unternehmungen, oder eine Abnahme der freien Arbeit in der ganzen Welt infolge der Beendigung großer Unternehmungen, infolge von durchgeführten Ersparnissen oder der Wirkung neuer, leistungsfähiger Erfindungen, die auch Arbeit ersparen.
Durch beide Ursachen kann sich ein Weltstaat ohne Beschwer hindurchretten, falls nicht ein Übermaß von Bürgern mittlerer und niedriger Brauchbarkeit vorhanden ist.
Der ersten dieser Ursachen kann man ja durch weise Ehegesetze vorbeugen ... Die ausführliche Besprechung dieser Gesetze wird später folgen, hier aber soll betont werden, daß Utopien das Wachstum seiner Bevölkerung unter Aufsicht nehmen wird. Ohne den Entschluß und die Fähigkeit, im Notfälle dieses Wachstum aufzuhalten oder zu befördern, ist kein Utopien möglich. Das hat Malthus für immer klar bewiesen.
Der zweiten Ursache läßt sich nicht so leicht vorbeugen. Wenn aber auch ihre unmittelbare Folge gleichfalls eine Überfüllung des Arbeitsmarktes ist, so sind ihre letzten Folgen doch von denen der ersten gänzlich verschieden. Die ganze Richtung einer Zivilisation auf der Grundlage wissenschaftlicher Technik geht dahin, die Arbeit durch Maschinen tun zu lassen und ihre Wirkung durch Organisation zu erhöhen. So muß ganz unabhängig von einer Zunahme der Bevölkerung die Arbeit im Wert sinken, bis sie gegen die Verbilligung konkurrieren und sie aufhalten kann, oder wenn dies, wie in Utopien durch einen Mindestlohn, unmöglich gemacht ist, so wird Arbeitslosigkeit eintreten. Bei diesem Vorgang ist keine Grenze abzusehen. Aber ein Überschuß leistungsfähiger Arbeit zum Mindestlohn ist gerade das, was neue Unternehmungen anregen müßte, und in einem mit Wissenschaft durchsättigten und an Erfindung reichen Staat wird es auch bestimmt neue Unternehmungen anregen. Ein wachsender Überschuß an verfügbarer Arbeit ohne absolutes Steigen der Bevölkerung, ein wachsender Überschuß also, der von wachsender Ersparnis und nicht von übermäßiger Vermehrung herrührt, der daher nicht auf die Nahrungsbeschaffung drückt und sie stört, ist sicherlich die ideale Grundlage für eine fortschreitende Zivilisation.
Da man die Arbeit als eine von jedem festen Ort gelöste und flüssige Kraft ansehen wird, so neige ich zu der Ansicht, daß der Weltstaat der Reservearbeitgeber sein wird und nicht die große Lokalgemeinde, der die einzelnen Kraftgebiete unterstellt sind. Höchst wahrscheinlich wird nun der Staat die überflüssigen Arbeitskräfte am besten für Gemeindezwecke abgeben, doch dies berührt uns hier nicht. Über die ganze Welt hin werden die Arbeitsbörsen den schwankenden Druck wirtschaftlicher Nachfrage notieren und Arbeiter aus den Gebieten des Überflusses in die des Mangels senden, und so oft der Überfluß allgemein ist, wird der Weltstaat – wenn es an einer entsprechenden Entwicklung privater Unternehmungen fehlt – entweder den Arbeitstag reduzieren und so den Überschuß ausgleichen, oder eigene dauernde Unternehmungen in Betrieb setzen und sie unter Auszahlung des Mindestlohnes genau so langsam oder genau so schnell vorschreiten lassen, wie es die Arbeitsebbe oder -flut verlangt. Aber bei richtigen Gesetzen über Heirat und Nachkommenschaft ist kein Grund zu der Annahme vorhanden, daß solche Ansprüche an die Hilfsquellen und das Einschreiten des Weltstaates nötig werden, es sei denn bei vorübergehenden und ausnahmsweisen Gelegenheiten.
Unser blonder, barfüßiger Freund war Beweis genug, daß es im modernen Utopien einem Menschen frei steht, genau so müßig oder nutzlos beschäftigt zu sein, wie es ihm gefällt, nachdem er sich den Minimallohn verdient hat. Das aber muß er schon tun, um seinen Unterhalt zu bestreiten, um den Versicherungsbeitrag gegen Krankheit und Alter und jede Last oder Schuld, die ihm die Vaterschaft auferlegt, zu bezahlen. Der Weltstaat des modernen Utopisten ist kein Staat des moralischen Zwanges. Wenn zum Beispiel unter der beschränkten utopischen Erbfähigkeit jemand doch noch genug Geld geerbt hätte, um von jeder Not zur Arbeit befreit zu sein, so könnte er seines Weges gehen und tun, was er wollte. Ein gewisser Bruchteil von Menschen, die ihr Auskommen haben, ist gut für die Welt, die Arbeit als moralische Pflicht bedeutet Sklavenmoral, und so lange niemand sich überarbeiten muß, braucht man sich nicht zu sorgen, weil einzelne weniger arbeiten, als sie könnten. Utopien soll nicht einen Trost abgeben für die Neidigen. In einer guten geistigen und sittlichen Atmosphäre erzeugt die Muße Forschung, Philosophie und Fortschritt.
In jeder modernen Utopie muß es viele Menschen mit Muße geben. Wir sind in unserer wirklichen Welt alle zu sehr von dem Ideal des Fleißes besessen und von der Vorstellung, der unaufhörlich fortstürmende Narr sei der einzig rechtschaffene Mann. Nichts in der Hast tun, nichts mit Überanspannung, heißt alles recht machen. Ein Staat, in dem alle schwer arbeiten, wo keiner leicht und frei sich rühren kann, verliert das Gefühl für den Freiheitssinn.
Aber ererbte Unabhängigkeit wird unter den utopischen Erscheinungen die seltenste und am wenigsten dauernde sein, meistens wird jene besondere Freiheit verdient werden müssen, und so wird für Männer und Frauen der Anreiz, ihre persönlichen Leistungen weit über den Mindestlohn zu erheben, in der Tat sehr groß sein. So kommt es dann zu persönlichen Abschließungen, zu größerem Raum zum Leben, zur Bewegungsfreiheit und vielen andern Dingen, zur Macht und Freiheit, interessante Unternehmungen einzuleiten oder andere Menschen in solchen zu unterstützen und zu allem, was sonst noch dem Leben zum besten dient. Das moderne Utopien muß zwar eine umfassende Versicherung bieten und darf dabei nur den allergeringsten Zwang zur Arbeit ausüben, aber es stellt höchst verlockende Belohnungen des Fleißes in Aussicht. Das Ziel all dieser Einrichtungen, des Mindestlohnes, des normalen Lebensfußes, der Vorsorge für die Schwachen, Arbeitslosen und so weiter ist nicht, das Leben des Antriebs zu berauben, sondern dessen Natur zu ändern, hiedurch das Leben nicht weniger tatkräftig, aber weniger angstvoll, gewalttätig und niedrig zu gestalten, den Eingriff des Kampfes ums Dasein aus den niedrigen in die höheren Empfindungen zu verlegen. Die Beweggründe der Feigen und Rohen sollen so vorweggenommen und neutralisiert werden, daß die ehrgeizige und antreibende Einbildungskraft, die des Menschen schönste Eigenschaft ist, zum Anreiz und bestimmenden Faktor des Überlebens wird.
Nachdem wir in dem kleinen Gasthof, der Wassen entspricht, unser Frühstück bezahlt haben, verbringen wir beide, der Botaniker und ich, den Rest des Vormittags mit der Besprechung mancher Seiten und Möglichkeiten der utopischen Arbeitsgesetze. Wir prüfen unser noch übriges Kleingeld, Kupfermünzen von mehr dekorativem als beruhigendem Aussehen und kommen zu dem Schluß: nach alldem, was wir von dem Blonden erfahren haben, sei es ratsam, sofort der Arbeitsfrage näher zu treten. Schließlich raffen wir uns zu dem Entschluß auf und fragen nach dem Öffentlichen Amt. Wir wissen ja jetzt, daß die Arbeitsauskunft mit der Post und andern öffentlichen Diensten in einem Gebäude vereinigt ist.
Dieses öffentliche Amt Utopiens wird zwei Besuchern aus dem irdischen England natürlich einige Überraschungen bieten. Wir treten also ein, der Botaniker ein wenig hinter mir, und ich bemühe mich, unbefangen und wie selbstverständlich, meine Frage nach Arbeit vorzubringen.
Das Amt ist einer lebhaften kleinen Dame von vielleicht sechsunddreißig anvertraut. Sie sieht uns scharf forschend an.
»Wo sind Ihre Papiere?« fragt sie.
Ich denke im Augenblick an die Papiere in meiner Tasche, an meinen Paß, der mit Visas bedeckt und zu meiner Empfehlung im Namen Ihrer verstorbenen Majestät von Wir Robert Artur Talbot Gascoigne Cecil, Marqueß of Salisbury, Earl of Salisbury, Viscount Cranborne, Baron Cecil, und so weiter gerichtet ist an alle, die es angehn mag, an meine Identitätskarte (die bei geringeren Anlässen von Nutzen ist) des Touring Club de France, an meine grüne Eintrittskarte für den Lesesaal des britischen Museums und meinen Ausweisbrief der London und County Bank. Ein närrischer Einfall schießt mir durch den Kopf, all diese Papiere zu entfalten, ihr zu übergeben und die Wirkung abzuwarten, aber ich widerstehe ihm.
»Verloren,« sage ich kurz.
»Beide verloren?« fragt sie mit einem Blick auf meinen Freund.
»Beide,« antwortete ich.
»Wie?«
Ich erstaune selbst über meine rasche Antwort.
»Ich fiel einen Schneehang hinunter, und da rutschten sie mir aus der Tasche.«
»Und genau das gleiche ist Ihnen beiden begegnet?«
»Nein. Er hatte mir die seinige zu der meinen gegeben« – sie zog die Augenbrauen hoch – »weil seine Tasche ein wenig schadhaft ist.«
Ihr Anstand ist zu utopistisch, als daß sie noch weiter in mich dränge. Sie scheint zu überlegen, was da zu tun ist.
»Welches sind Ihre Nummern?« fragt sie kurz.
Mir erscheint jenes verdammte Fremdenbuch des Gasthofs da oben. »Welches denn nur?« sage ich, fahre über die Stirn und besinne mich, indem ich mich dem Beamtenauge entziehe. »Welches denn nur?«
»Und Ihre?« fragt sie den Botaniker.
»A. B.« sagt er zögernd, »kleines a, nein vier sieben, glaube ich ...«
»Wissen Sie es nicht?«
»Nicht genau,« antwortet der Botaniker sehr liebenswürdig. »Nein.«
»Wollen Sie etwa sagen, Sie wissen beide Ihre eigene Nummer nicht?« fragt die kleine Posthalterin mit steigender Stimme.
»Ja,« sage ich mit gewinnendem Lächeln und mit dem Bestreben, einen freundlichen Ton zu wahren. »Komisch, nicht wahr? Wir haben sie beide vergessen.«
»Sie scherzen,« wirft sie hin.
»Sehen Sie ...« und ich warte noch zu ...
»So haben Sie doch noch Ihre Daumen?«
»Die Sache ist die – –« sage ich zögernd. »Gewiß haben wir Daumen.«
»Dann muß ich einen Daumenabdruck aufs Amt hinunterschicken und Ihre Nummer danach bestimmen lassen. Sind Sie aber ganz sicher, daß Sie Ihre Papiere oder Nummern nicht haben? Es ist sehr merkwürdig.«
Wir geben etwas blöde zu, daß dies sehr merkwürdig ist, indem wir uns stumm fragend ansehen.
Sie wendet sich nachdenklich um nach der Platte für die Daumenabdrücke, und währenddessen kommt ein Mann in die Amtsstube herein. Bei seinem Anblick fragt sie im Tone der Erleichterung: »Was soll ich da machen?«
Er sieht ernst nach uns hin, und an unsern Kleidern wird sein Blick neugierig. »Um was handelt es sich?« fragt er die Frau sehr höflich.
Sie setzt es ihm auseinander.
Bisher war der Eindruck, den wir von unserm Utopien erhalten hatten, der einer ganz unirdischen Vernünftigkeit, guter Verwaltung und umfassender Planmäßigkeit in allen Dingen des äußeren Lebens, und es mußte uns etwas ungereimt vorkommen, daß alle Utopier, mit denen wir gesprochen haben, unser gestriger Wirt, die Posthalterin und der geschwätzige Landstreicher vom allergewöhnlichsten Schlage waren. Da sieht plötzlich aus der Haltung und dem Blick dieses Mannes ein ganz anderes Wesen hervor, etwas, das mehr an die herrliche Bahnstraße und die anmutige Ordnung der Gebirgshäuser erinnert. Er ist ein wohlgebauter Mann von vielleicht fünfunddreißig, in seinen Bewegungen liegt jene Leichtigkeit, die aus vollkommener körperlicher Gesundheit hervorgeht, sein Gesicht ist glatt rasiert und zeigt den festen Mund eines Mannes von Selbstbeherrschung, und seine grauen Augen blicken hell und fest. Seine Beine sind mit einem tiefroten gewebten Stoff bekleidet, darüber trägt er ein weißes, ziemlich eng anschließendes Hemd mit gewebtem Purpursaum. Sein allgemeiner Eindruck hat für mich etwas von einem Tempelritter. Auf dem Kopf trägt er eine Mütze aus dünnem Leder und noch dünnerem Stahl mit Ansätzen zu Ohrenbügeln – das ganze etwa eine abgeschwächte Art der Kappen, die von Cromwells Ironsides getragen wurden.
Er sieht uns an, während wir ihren Erklärungen hin und wieder ein Wort zufügen und nicht wenig in Verlegenheit sind über die tolle Lage, die wir uns bereitet haben.
Ich beschließe, mir aus diesem Wirrwarr einen Weg zu bahnen, ehe er noch dichter wird.
»Die Sache ist die – –« sage ich.
»Ja?« sagt er, leicht lächelnd.
»Wir sind vielleicht unaufrichtig gewesen. Unsere Lage ist so ganz außerordentlich, so schwierig klarzumachen – –«
»Was haben Sie gemacht?«
»Nein,« sage ich entschieden, »so können wir nicht klar werden.«
Er sieht auf den Boden und sagt: »Fahren Sie fort.«
Ich versuche, der Sache ein ruhiges, selbstverständliches Ansehen zu geben. »Sehen Sie,« sage ich in dem Tone, den man für wirklich deutliche Erklärungen annimmt, »wir kommen aus einer andern Welt. Also paßt die Liste der Daumenproben und Nummern, die Sie auf diesem Planeten führen, auf uns nicht, und wir wissen unsere Nummern deshalb nicht, weil wir keine haben. Wir sind, verstehen Sie, wirklich Fremde, Forschungsreisende – –«
»Aber welche Welt meinen Sie?«
»Es ist ein ganz anderer Planet – weit entfernt. Tatsächlich in unendlicher Ferne.«
Er blickt mir ins Gesicht mit dem geduldigen Ausdruck eines Menschen, der auf Unsinn horchen muß.
»Ich weiß, es klingt unmöglich,« fahre ich fort, »aber die reine Tatsache ist die: wir erscheinen in Ihrer Welt. Wir erschienen plötzlich gestern nachmittag auf der Lucendrohöhe – auf dem Passo Lucendro, und ich könnte Sie auffordern, vor diesem Augenblick die geringste Spur von uns nachzuweisen. Wir stiegen dann auf die Sankt Gotthardstraße hinunter und sind jetzt da! Das ist die Wahrheit. Und was die Papiere anbetrifft – –! Wo haben Sie in Ihrer Welt schon solche Papiere gesehen?«
Ich ziehe meine Brieftasche, nehme den Paß heraus und überreiche ihn.
Sein Ausdruck hat sich verändert. Er nimmt die Urkunde, prüft sie, dreht sie um und sieht mich wieder mit seinem feinen Lächeln an.
»Noch weitere,« sage ich und reiche ihm die Karte des T. C. F.
Dann lasse ich noch meine grüne Karte des Britischen Museums folgen, die so zerfetzt ist, wie die Flagge in einer Ritterkapelle.
»Man wird Sie schon feststellen können,« sagt er, meine Urkunde in der Hand. »Sie haben Ihre Daumen. Man wird Sie messen, im Hauptregister vergleichen und Sie dort finden.«
»Das ist es gerade,« sagte ich, »man wird uns nicht finden.«
Er überlegt. »Es ist ein wunderlicher Scherz, den Sie beide spielen,« sagt er schließlich und gibt meine Urkunden zurück.
»Es ist durchaus kein Scherz,« erwidere ich und stecke sie wieder in die Brieftasche.
Die Posthalterin wendet sich wieder an ihn: »Was raten Sie mir, zu tun?«
»Kein Geld?« fragt er.
»Nein.«
Er regt dies und jenes an. »Offen gestanden,« fährt er dann fort, »ich glaube, Sie sind von irgendeiner Insel entflohen. Wie Sie bis hieher kommen konnten, und was Sie jetzt zu tun gedenken, das kann ich mir nicht vorstellen ... Aber auf jeden Fall ist hier das für Ihre Daumen.«
Er zeigt auf den Apparat für die Daumenabdrücke und wendet sich wieder seinem eigenen Geschäft zu.
Gleich darauf verlassen wir das Amt, halb entmutigt und halb belustigt, ein jeder mit einer Trambahnfahrkarte nach Luzern in der Hand und mit genügend Geld, um bis zum nächsten Tage unsere Ausgaben zu bestreiten. Wir sollen nach Luzern fahren, weil dort Nachfrage ist nach Arbeit im Holzschnitzen, das verhältnismäßig wenig Übung voraussetzt. Dies scheint uns eine Beschäftigung, die im Bereich unserer Fähigkeiten liegt und unsre Trennung nicht erforderlich macht.
Die alten Utopien waren seßhafte Staatengebilde, das neue muß sich den Bedürfnissen einer Wanderbevölkerung anpassen, einem endlosen Kommen und Gehen, einem Volk so flüssig und flutend wie das Meer. Obwohl es in der irdischen Staatskunst noch keine Berücksichtigung findet, so zerschmelzen doch jetzt schon alle in die Grenzen einer bestimmten Örtlichkeit gefügten Einrichtungen vor unsern Augen. Bald wird die ganze Welt von Fremden überspült sein.
Die einfachen Gesetze des Herkommens, die hausbackenen Methoden, eine Persönlichkeit festzustellen, die in den kleinen Gemeinwesen früherer Zeit, wo jeder jeden kannte, dienlich waren, versagen gegenwärtig ganz. Wenn das moderne Utopien wirklich eine Welt verantwortlicher Bürger sein soll, so muß es etwas erfunden haben, wodurch jede Person der Welt schnell und sicher erkannt und jeder Vermißte gesucht und gefunden werden kann.
Dies heißt durchaus nicht, etwas Unmögliches fordern. Die ganze Bevölkerung der Welt beträgt, reichlich geschätzt, nicht über 1 500 000 000 Menschen. Die wirksame Registrierung dieser Anzahl, die Aufzeichnung ihrer Ortsveränderungen, der Eintrag verschiedener materieller Tatsachen, wie Heirat, Vaterschaft, Verurteilungen und dergleichen, der Eintrag der Neugeborenen, die Streichung der Toten, das alles wäre gewiß eine ungeheure Aufgabe, aber doch nicht so groß, daß man sie nicht vergleichen könnte mit der Arbeit der heutigen Postämter durch die ganze Welt, mit der Katalogisierung solcher Bibliotheken wie des Britischen Museums oder mit Sammlungen wie die Insektensammlung in Cromwell Road eine ist. Ein solches Registrieramt ließe sich zum Beispiel auf einer Seite der Northumberland Avenue bequem unterbringen. Es ist nur eine berechtigte Huldigung vor der scharfsinnigen Klarheit des französischen Geistes, wenn man annimmt, das Zentralregister werde in einer ausgedehnten Reihe von Gebäuden in oder bei Paris eingerichtet sein. Es wäre zunächst nach einem unveränderlichen körperlichen Kennzeichen eingeteilt, wie es angeblich der Daumen- oder Fingerabdruck bietet, und daran schlössen sich weitere körperliche Eigentümlichkeiten, die von sachlichem Wert wären. Die Klassifizierung der Daumenabdrücke und unveränderlicher äußerer Kennzeichen schreitet stetig fort, und man hat allen Grund, anzunehmen, daß man jedes menschliche Wesen auf eine bestimmte Formel bringen, ihm eine Nummer oder einen wissenschaftlichen Namen geben könne, unter dem es eingetragen würde. Es ist leicht möglich, daß der eigentliche Daumenabdruck bei der Feststellung nur eine kleine Rolle spielen wird, aber es ist für den Faden unserer Geschichte bequemer, wenn wir ihn als einziges, ausreichendes Mittel annehmen. Um die Gebäude, in denen das große Hauptregister aufgestellt wäre, befände sich eine Reihe anderer Registriergebäude, die nach Namen, Berufsbezeichnungen, Krankheiten, Verbrechen und dergleichen ordnen und sich mit Kreuzhinweisen auf das Hauptregister beziehen würden.
Man kann sich auch denken, daß diese Registerkarten durchsichtig und so beschaffen wären, daß man sie schnell und leicht photographieren kann, wenn dies nötig wird. In eine Anhängetasche könnte man einen Zettel mit dem Namen des Ortes stecken, in dem der Betreffende zuletzt eingetragen worden ist. Tag und Nacht wäre ein kleines Beamtenheer mit diesem Register beschäftigt. Auf Nebenstationen würden beständig Daumenabdrücke und Nummern kontrolliert werden, und es flösse ein ununterbrochener Strom von Benachrichtigung herbei über Geburten, Todesfälle, Ankunft in Gasthäusern, Nachfragen nach Briefen auf Postämtern, Karten für längere Reisen, Verurteilungen, Eheschließungen, Bewerbungen um öffentliche Spenden und so weiter. Ein Filter von Amtsstuben würde den Strom durchseihen, und unaufhörlich wäre ein Schwarm von Schreibern in Bewegung, um das Zentralregister zu korrigieren und Photographien seiner Einträge abzunehmen, die den örtlichen Nebenstationen als Antwort auf ihre Erkundigungen übermittelt würden. So wäre jeder einzelne von der Staatsbehörde überwacht und die ganze Welt schriebe sich selbst ihre Geschichte, währenddem das Gewebe ihres Schicksals sich weiterspänne. Und wenn endlich der Bürger stirbt, erfolgt der letzte Eintrag: Alter, Todesursache, Datum und Ort der Verbrennung. Seine Karte wird herausgenommen und dem allgemeinen Geschlechtsregister übergeben, einem Ort von größerer Ruhe, den ewig wachsenden Galerien der Totenlisten. Eine solche Buchführung ist unvermeidlich, wenn wir ein modernes Utopien haben sollen.
Aber auch dagegen würde unser blonder Freund sich wahrscheinlich sträuben. Zu den vielen Dingen, die manche als ihr Recht beanspruchen, gehört auch, daß sie unerkannt und für sich gehen dürfen, wohin sie wollen. Dies wäre nun, soweit es auf die Mitwanderer ankommt, immer noch möglich. Nur der Staat würde das Geheimnis dieser kleinen Hehlerei teilen. Für den Liberalen des achtzehnten und den altmodisch Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts, eben für alle berufsmäßigen Liberalen, die in der Opposition gegen die Regierung aufgewachsen sind, muß diese organisierte Hellsichtigkeit der verhaßteste aller Zukunftsträume sein. In diesem Lichte möchte ihn vielleicht auch der Idealist sehen. Aber das kommt nur von den in einer schlimmen Zeit erworbenen Geistesgewohnheiten. Der alte Liberalismus setzte jede Regierung als schlecht voraus, je mächtiger diese war, um so schlechter war sie auch, genau wie er den freien Einzelmenschen als von Natur aus gut annahm. Dunkel und Heimlichkeit waren auch in der Tat die natürliche Zuflucht der Freiheit, als noch jede Regierung die nahe Möglichkeit der Tyrannei in sich trug, und der Engländer oder Amerikaner blickte auf die Papiere eines Deutschen oder Russen, wie man etwa auf die Ketten eines Sklaven hinsieht. Man erinnere sich nur, wie der Vater des alten Liberalismus, Rousseau, an der Tür des Findelhauses von seinem Sprossen fortschleicht, und man wird verstehen, als was für ein Verbrechen gegen die natürliche Tugend ihm dies ruhige Auge des Staates erschienen wäre. Wenn wir aber nicht voraussetzen, die Regierung sei notwendig schlecht und der einzelne notwendig gut – und die ganze Grundlage, auf der unser Werk ruht, schließt in der Tat das eine wie das andere aus – dann ändert sich die Sache vollständig. Die Regierung eines modernen Utopien wird nicht eine Vollkommenheit aller weisen Absichten sein wollen, die nun die Welt drauf los regiert ... Im typischen modernen Staat der Gegenwart – mit einer nach vielen Millionen zählenden Bevölkerung – können sich gewöhnliche Leute, wenn sie einen andern Namen annehmen, äußerst leicht unauffindbar machen. Die Versuchung der so gebotenen Gelegenheit hat eine neue Art von Verbrechern entwickelt. Verworfene Männer lassen sich von ihrer schlechten Phantasie dazu bringen, einfache Frauen zu umwerben, zu verraten, schlecht zu behandeln und bisweilen sogar zu ermorden. Dies ist eine große, wachsende und was am schlimmsten ist – fruchtbare Klasse, die großgezogen wird durch die tatsächliche Anonymität des gemeinen Mannes. Nur die Mörder ziehen die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, aber man sollte bedenken, daß die Prostituierten der unteren Klassen infolge der freien Abenteuer Verworfener bedeutenden Zuwachs erhalten. Dies ist eines der Nebenprodukte des Staatsliberalismus, das sich gegenwärtig in dem Sturmlauf gegen die Entwicklung der Polizeiorganisation an die Spitze stellt.
Derartig ist das Auge des Staates, das jetzt langsam unser Dasein als das zweier wunderlicher und unerklärlicher Personen zu erfassen beginnt, die die schöne Ordnung seines Gesichtsfeldes stören, und es wird sich alsbald mit wechselndem Staunen und Forschen auf uns einstellen. »Im Namen Galtons und Bertillons,« so meint man Utopien ausrufen zu hören, »wer seid denn ihr ?«
Ich merke, in diesem Brennpunkt muß ich als eine wunderliche Figur erscheinen. Jedenfalls werde ich eine gewisse erzwungene Unbefangenheit zeigen. »Die Sache ist die,« werde ich beginnen.
Und nun sehe man, wie eine einleitende Hypothese ihren Urheber verfolgen und überholen kann. Unsere Daumenabdrücke sind abgenommen worden, sind dann mit der Rohrpost in das Hauptamt des Bezirks bei Luzern und von da ins Zentralregistrieramt nach Paris gewandert. Da wurden sie wohl nach einer ungefähren vorläufigen Klassifizierung auf Glas photographiert, durch eine Laterne in ungeheurer Vergrößerung auf einen fein karierten Schirm projiziert, wo dann sorgfältige Sachverständige die verschiedenen Windungen verfolgt und gemessen haben. Sogleich läuft ein flinker Gehilfe in die langen Galerien des Registriergebäudes.
Ich habe ihnen gesagt, daß sie nichts über uns finden. Aber er läuft von Galerie zu Galerie, von Fach zu Fach, von Schublade zu Schublade, von Karte zu Karte. »Da ist er,« murmelt er vor sich hin. »Aber, das ist unmöglich!« sagt er dann ...
Wir kommen also nach einem oder zwei Tagen utopischer Erlebnisse, die ich alsbald schildern muß, zu dem Hauptamt von Luzern zurück, genau wie man uns befohlen hatte. Ich trete an das Pult des Mannes, der es schon vorher mit uns zu tun gehabt hat.
»Nun,« sage ich guten Mutes, »haben Sie Nachricht?«
Sein Ausdruck beengt mich ein wenig. »Wir haben Nachricht,« sagt er, fügt aber gleich hinzu: »es ist sehr sonderbar.«
»Ich hatte Ihnen ja gesagt, Sie würden uns nicht finden,« erwidere ich triumphierend.
»Aber wir haben Sie gefunden,« sagte er, »was freilich Ihren Streich nicht weniger merkwürdig macht.«
»Sie haben uns gefunden! Sie wissen, wer wir sind! Nun – so sagen Sie es uns! Wir hatten einen Einfall, aber es sind uns wieder Zweifel gekommen.«
»Sie,« sagt der Beamte zum Botaniker, »sind – –!«
Und er nennt seinen Namen. Dann wendet er sich zu mir und gibt mir den meinen.
Im Augenblick bin ich starr vor Staunen. Da besinne ich mich auf den Eintrag im Gasthof des Urserentales, und es geht mir rasch ein Licht auf. Ich schlage scharf mit den Fingerspitzen auf das Pult und fahre meinen Freund mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht hin und her.
»Bei Gott!« sage ich auf Englisch. »Sie haben unsre Doppelgänger!«
Der Botaniker schnalzt mit den Fingern. »Natürlich! Daran dacht' ich nicht!«
»Würden Sie uns nicht,« frage ich den Beamten, »etwas weiteres über unsre Persönlichkeit sagen können?«
»Ich kann mir nicht denken, weshalb Sie dabei bleiben,« bemerkt er, und dann erzählt er mir fast verdrießlich alles Tatsächliche über mein utopisches Ich. Es ist etwas schwer zu verstehen. Er sagt, ich sei einer von den Samurai, was japanisch klingt, »aber Sie werden degradiert werden,« sagt er mit einer ziemlich aussichtslosen Handbewegung. Er beschreibt meine Stellung in dieser Welt mit Worten, die mir sehr wenig sagen.
»Das Wunderliche,« bemerkt er, »ist, daß Sie noch vor drei Tagen in Norwegen waren.«
»Ich bin noch dort. Wenigstens – –. Es tut mir leid, daß ich Ihnen soviel Mühe mache, aber dürfte ich Sie nicht bitten, diese Spur zu verfolgen und anzufragen, ob die Person, welcher der Daumenabdruck eigentlich gehört, nicht immer noch in Norwegen ist?«
Diese Idee bedarf der Erklärung. Er sagt etwas Unverständliches von einer Pilgerfahrt. »Früher oder später,« bemerke ich, »werden Sie glauben müssen, daß wir zwei verschiedene Menschen mit demselben Daumenabdruck sind. Ich will Sie nicht noch einmal mit scheinbarem Unsinn über andere Planeten und ähnlichem belästigen. Hier bin ich. Wenn ich vor einigen Tagen in Norwegen war, so sollten Sie imstande sein, meiner Reise hieher nachzuspüren. Und mein Freund?«
»War in Indien.« Das Gesicht des Beamten nimmt einen Ausdruck der Verwirrung an.
»Mir scheint,« sage ich, »daß die Schwierigkeiten dieses Falles erst beginnen. Wie kam ich von Norwegen hieher? Sieht mein Freund aus wie einer, der mit einem Sprung von Indien auf den Sankt Gotthard hüpft? Die Sachlage ist doch ein wenig schwieriger – –.«
»Aber hier!« sagt der Beamte und zeigt etwas, was ohne Zweifel Photographien der Registerkarten sind.
»Aber wir sind diese Leute nicht!«
»Sie sind es.«
»Sie werden ja sehen,« sage ich.
Er klopft zur Bestätigung mit den Fingern auf den Daumenabdrücken herum. »Da seh' ich's,« antwortete er.
»Es liegt ein Irrtum vor,« wiederhole ich, »ein noch nicht dagewesener Irrtum. Da steckt die Schwierigkeit. Wenn Sie sich erkundigen, so werden Sie sehen, daß der Wirrwarr sich allmählich löst. Aus welchem Grunde sollten wir hier als Gelegenheitsarbeiter bleiben, wenn Sie behaupten, wir seien Leute von Ansehen in der Welt? Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Wir bleiben hier bei der Holzschnitzarbeit, die Sie für uns gefunden haben, und unterdessen, denke ich, sollten Sie noch einmal Erkundigungen einziehen. So denke ich mir die Sache.«
»Ihr Fall muß sicherlich noch weiter untersucht werden,« sagt er mit einem ganz leisen Beiklang von Drohung in der Stimme. »Immerhin« – er zeigt wieder auf die Registerphotographien – »hier sind Sie, jawohl!«
Nachdem mein Botaniker und ich jede Möglichkeit der augenblicklichen Lage durchgesprochen und erschöpft haben, wenden wir uns wieder allgemeinen Fragen zu.
Ich teile ihm das mit, was mir selbst immer klarer wird. »Hier« – so sage ich – »haben wir eine Welt, die auf ihrer Oberfläche handgreiflich gut eingerichtet ist. Mit unserer Welt verglichen, erscheint sie wie eine gut geölte Maschine neben einem Haufen alten Eisens. Dazu hat sie dies verdammte Gesichtsorgan, das sich auf die wachsamste und lebhafteste Art nach allen Seiten wendet. Doch dies nur nebenbei. ... Sie brauchen nur all diese Häuser da unten zu betrachten. (Wir sitzen auf einer Bank auf der Gütsch und blicken zu dem utopischen Luzern hinunter, ein Luzern, dem ich ganz willkürlicherweise immer noch den Wasserturm und die Kapellbrücke lasse.) Sie brauchen nur die Schönheit, die einfache Sauberkeit und das Gleichgewicht dieser Welt, die freie Haltung, die ungezierte Anmut selbst des niederen Volkes zu beachten, um zu erkennen, wie rund und vollständig die Einrichtung dieser Welt sein muß. Wie ist sie so geworden? Wir im zwanzigsten Jahrhundert sind nicht mehr geneigt, das süßliche und ein wenig ekle Tränklein des Rousseau-Evangeliums hinzunehmen, das unseren Vorvorfahren des achtzehnten so behagte. Wir wissen, daß Ordnung und Gerechtigkeit nicht von selbst aus der Natur hervorgehen, »wenn nur der Polizist aus dem Wege ginge«. Was wir hier sehen, das bedeutet Zweck und Willen, in einem Maße, wie es unsre arme schwankende, heiße und kalte Welt nie gekannt hat. Was ich immer deutlicher sehe, das ist der Wille, der diesem sichtbaren Utopien zugrunde liegt. Bequeme Häuser, bewunderungswürdige Werke der Technik, die mitten unter den Schönheiten der Natur nicht verletzen, schöne Körper und eine durchgehends anmutige Haltung: dies alles sind nur die äußeren, sichtbaren Zeichen einer inneren geistigen Anmut. Eine solche Ordnung bedeutet Zucht. Sie bedeutet Sieg über die kleinen Triebe der Selbstsucht und Eitelkeit, durch welche die Menschen der Erde feindlich getrennt werden; sie bedeutet Hingebung und edlere Hoffnung. Sie ist nicht denkbar ohne einen Riesenprozeß der Forschung und des Versuches, der Überlegung und Geduld in einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens und Nachgebens. Eine Welt wie dies Utopien kann nicht entstehen durch ein zufälliges und gelegentliches Zusammenwirken selbstsüchtiger Menschen, nicht durch autokratische Herrscher oder die laute Weisheit demokratischer Führer. Auch der uneingeschränkte Wettbewerb um Gewinn, die kluge Selbstsucht tun es nicht. ...«
Ich habe die Registrierung der Menschheit, die wir angetroffen haben, mit einem Auge verglichen, das so empfindlich und wachsam ist, daß zwei Fremde nirgends auf dem Planeten erscheinen können, ohne entdeckt zu werden. Ein Auge sieht aber nicht ohne ein Gehirn, ein Auge wendet sich nicht und blickt nicht ohne Wille und Zweck. Eine Utopie, die nur äußerliche Anordnungen und Rezepte gibt, ist eine Träumerei von Oberflächlichkeiten. In seinem Wesen, das unter der Hülle liegt, ist unser Problem ein moralisches und intellektuelles. Hinter all dieser äußeren Ordnung, den vollkommenen Einrichtungen des Verkehrs, des öffentlichen Dienstes und der Volkswirtschaft, müssen Männer und Frauen stehen, die all das wollen. Es muß sogar eine beträchtliche Anzahl dieser Willensmenschen zu jeder Zeit vorhanden sein. Eine einzelne Person, eine vorübergehende Gruppierung könnten dies ungeheure Gebilde nicht in Ordnung und Bestand erhalten. Sie müssen eine zusammenlaufende, wenn nicht eine gemeinsame Bahn des Strebens haben, und deshalb auch eine gesprochene oder geschriebene Literatur, eine lebende Literatur, die den Einklang ihrer allgemeinen Tätigkeit sichert. Sie müssen auch in gewisser Beziehung die nächsten Gegenstände ihres Verlangens zurückgestellt haben, was einen Verzicht bedeutet. In ihrem Handeln müssen sie durchgreifend, im Wollen beharrlich sein, und dies bedeutet Zucht. In der modernen Welt aber, wo der Fortschritt ohne Schranken weiterschreitet, muß natürlich jeder allgemeine Satz, jede Formel von der einfachsten Art und jede Organisation so beweglich und biegsam wie ein lebendes Wesen sein. Dies alles folgt unvermeidlich aus den allgemeinen Voraussetzungen unseres utopischen Traums. Als wir diese aufstellten, überlieferten wir uns hilflos diesem Ergebnis. ...
Der Botaniker nickt geistesabwesend.
Ich höre auf zu reden und wende meine Gedanken auf die wirre Masse von Erinnerungen, die uns die letzten drei Tage in Utopien geliefert haben. Außer den Persönlichkeiten, mit denen wir in unmittelbare Berührung gekommen sind, unsern verschiedenen Wirten, unsern Arbeitsgenossen, dem Werkführer, dem Blonden, den Beamten und so weiter, haben wir eine große Menge anderer Eindrücke empfangen: viele freundliche Momentbilder von Kinderchen, von Mädchen, Frauen und Männern, die wir in Läden, öffentlichen Gebäuden, auf Straßen und Bahnhöfen, an den Fenstern und vor den Häusern gesehen haben, Reiter und Fußgänger auf ihrem ewigen Hin und Her. Sie waren mir als eine wahrhaft menschliche Schar erschienen. Aber waren unter ihnen auch solche, die den Anschein erweckten, daß ihre Interessen weiter gingen als die der andern, daß sie irgendwie von diesen losgelöst schienen durch Zwecke, die über das Nächstliegende hinausgehen?
Dann fällt mir plötzlich wieder jener glattrasierte Mann ein, der auf dem Amte zu Wassen mit uns sprach und mich an die Vorstellung erinnerte, die ich als Knabe von einem Tempelritter hatte. Mit ihm kommen rasche Erinnerungen an andere Leute, von ebenso mildem, aber ernstem Ausdruck, auf dieselbe Art gekleidet. Worte und Redewendungen tauchen auf, die wir auf zufälligen Fetzen utopischer Literatur gelesen haben und Ausdrücke, die dem lockeren Mund des blondhaarigen Mannes entfallen waren ...