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Ich bin nun zwar an dem Punkte angelangt, wo das utopische Problem sich von selbst ganz einfach zum Problem der Regierung und Leitung gestaltet, aber mein Botaniker ist mir nicht nachgekommen. Offengestanden, er kann nicht so stetig vorwärts denken wie ich. Ich empfinde, um zu denken; er denkt, um zu empfinden. Ich und meine Art, wir haben den weiteren Bereich, denn wir können ebensogut persönlich sein als unpersönlich. Wir können aus uns selbst herausgehen. Ich verstehe ihn wenigstens bei seinen allgemeinen Reden, er aber versteht mich überhaupt nicht. Er hält mich für ein verständnisloses Tier, weil das, was ihn ganz einnimmt, für mich nur ein gelegentliches Interesse hat. Sobald mein Gedankengang nicht mehr ausführlich und lückenlos ist, bei der geringsten Ellipse oder Abschweifung, weicht er mir aus und ist dann wieder bei sich selbst angelangt. Er mag mich persönlich ein wenig gern haben, obgleich ich daran zweifle, er haßt mich aber auch ziemlich fühlbar wegen der ihm unverständlichen Richtung meines Geistes. Er verabscheut meine philosophische Hartnäckigkeit, mit der ich verlange, daß alles vernünftig sein und zusammenhängen, daß das Erklärbare auch erklärt werden soll und das, wofür man Berechnung und sichere Methoden hat, nicht dem Zufall überlassen werden darf. Er will nur abenteuerlich empfinden. Er will den Sonnenuntergang empfinden und glaubt, daß er ihn im ganzen wohl tiefer empfände, wenn er nicht gelehrt worden wäre, daß die Sonne ungefähr zweiundzwanzig Millionen Meilen entfernt sei. Er will sich frei und kräftig fühlen und lieber fühlen, als es sein. Er wünscht nicht, daß er Bedeutendes ausführe, sondern daß ihm Merkwürdiges zustoße. Er weiß nichts davon, daß es auch in der klaren Luft der philosophischen Höhen und im langen Aufstieg des Strebens und Wollens Empfindungen gibt. Er weiß nicht, daß das Denken auch nur eine feinere Art von Empfindung ist – guter Rheinwein neben dem Gemisch seiner Empfindungen aus Branntwein, Bier und Sirup, eine Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Gegensätzen, die sogar Schauder verursachen kann. Und so brütet er denn über die Quelle seiner reichsten Empfindungen und Rührungen nach, die Frauen, und besonders über die Frau, die ihm die meisten Gefühle eingeflößt hat. Dazu zwingt er auch mich.
Unsere Lage ist ein Unglück für mich. Die Rückkehr nach dem nun utopischen Luzern weckt von neuem all die melancholischen Nöten in ihm, die ihn so beschäftigten, als wir zuerst auf diesen besseren Planeten versetzt wurden. Eines Tages, als wir auf die Entscheidung des öffentlichen Amtes über unsere Angelegenheit warten, schneidet er das Thema an. Es ist frühe Abendstunde und wir gehen nach unserer einfachen Mahlzeit am See hin. »Hier etwa,« sagt er, »wären die Kais und all die großen Hotels, die auf den See hinaussehen. Es ist so sonderbar, daß wir sie erst neulich gesehen haben und jetzt gar nicht mehr sehen ... Wohin sind sie gekommen?«
»Durch eine Hypothese verschwunden.«
»O! Sie sind noch da. Nur wir sind hieher gekommen.«
»Natürlich. Ich habe das vergessen. Aber – – Sie wissen, an diesem Kai hin zog sich eine Allee von jungen Bäumen, und Bänke waren da, und da saß sie und blickte hinaus auf den See ... Zehn Jahre hatte ich sie nicht gesehen.«
Er schaut um sich, immer noch ein wenig verwirrt. »Jetzt, da wir hier sind, scheint es, als wäre jene unsere Begegnung und unser Gespräch nur ein Traum gewesen.«
Er versinkt in Nachdenken.
Plötzlich sagt er: »Ich kannte sie sofort. Ich sah sie von der Seite. Aber ich sprach sie nicht gleich an, sondern ging an ihrer Bank vorbei eine Strecke weiter und suchte mich zu beherrschen ... Dann kehrte ich um und setzte mich neben sie, ganz ruhig. Sie sah zu mir auf. Da kam mir alles zurück – alles. Einen Augenblick war mir, als müßte ich weinen ...«
Das scheint ihn noch in der Erinnerung zu befriedigen.
»Eine Zeitlang sprachen wir nur wie Zufallsbekannte – über die Aussicht, das Wetter und dergleichen Dinge.«
Wieder träumt er vor sich hin.
»In Utopien wäre alles anders gekommen,« sagte ich.
»Wahrscheinlich.«
Er fährt fort, ehe ich noch etwas sagen kann.
»Dann gab es eine Pause. Ich fühlte intuitiv, daß der Augenblick herankam. Sie auch, glaube ich. Sie mögen ja über diese Intuitionen spotten – –.«
Natürlich tu' ich dies nicht. Dafür fluche ich im geheimen. Stets halten solche Leute den Schein höchst vornehmer und merkwürdiger Geistesprozesse aufrecht, während – trage nicht auch ich die ganze Skala des Gefühlsnarren in mir herum? Ist nicht deren Unterdrückung mein beständiges Streben, meine nie erlöschende Verzweiflung? Und da soll man mich der Armut anklagen?
Doch zu seiner Geschichte!
»Ganz unvermittelt sagte ich: Ich bin nicht glücklich, und sie antwortete: Das wußte ich sofort, als ich Sie sah. Und dann begann sie sehr ruhig und sehr offen über alles mit mir zu reden. Nachher erst wurde es mir klar, was das bedeute, daß sie in dieser Weise mit mir sprach.«
Ich kann es nicht länger anhören.
»Verstehen Sie denn nicht,« rufe ich aus, »daß wir in Utopien sind. Sie kann auf der Erde unglücklich gefesselt sein, und Sie mögen dort gefesselt sein, aber nicht hier. Hier muß es doch anders sein. Hier müssen die Gesetze, die all das regeln, gerecht und menschlich sein. So daß alles, was Sie da drüben sagten und taten, hier keinen Sinn hat – keinen Sinn!«
Er blickt mir einen Augenblick ins Gesicht und dann gleichgültig auf meine wundervolle neue Welt hin.
»Ja,« sagt er teilnahmslos und in dem Tone, wie ein Älteres geistesabwesend mit einem Kinde spricht, »gewiß wird hier alles recht schön sein.« Und er versinkt wieder aus seinen Vertraulichkeiten heraus in Nachdenken.
Dieser Rückzug in sein eigenes Ich hat etwas fast Würdevolles an sich. Einen Augenblick lang bilde ich mir wirklich ein, ich sei unwürdig, das unfaßbare, zerfahrene Gerede anzuhören, das sie einander gehalten haben.
Ich bin abgefertigt und bin erstaunt, abgefertigt zu sein. Mir vergeht der Atem vor Entrüstung. Wir gehen nebeneinander her, aber nicht im Innersten entfremdet.
Ich betrachte die Fassade der öffentlichen Gebäude von Luzern – ich hatte ihn auf einige architektonische Bildungen aufmerksam machen wollen – aber mit verwandelten Augen, denn der Geist meiner Vision ist entschwunden. Hätte ich doch diesen in sich blickenden Leichnam, diesen geistig Undankbaren nicht mitgenommen.
Ich neige zu fatalistischer Unterwerfung und vermute, daß ich nicht die Kraft hatte, ihn zurückzulassen ... Ich staune und staune. Die alten Utopisten brauchten sich nicht mit derlei Leuten abzugeben.
In welcher Weise wären die Dinge im modernen Utopien »verschieden«? Es ist endlich Zeit, daß wir den rätselhaften Problemen der Ehe und Mutterschaft entgegentreten ...
Das moderne Utopien soll nicht nur ein gesunder, glücklicher Weltstaat sein, sondern vom Guten zum Bessern fortschreiten. Malthus Über die Grundlagen der Bevölkerungsfrage. bewies ein für allemal, daß ein Staat, dessen Bevölkerung sich nur nach dem freien Naturtrieb vermehrt, nur vom Schlechten zum Schlimmeren fortschreiten kann. Vom Standpunkt eines bequemen und glücklichen menschlichen Lebens aus ist es das größte Übel, daß mit dem Fortschritt in der Sicherheit der menschlichen Verhältnisse immer eine Vermehrung der Bevölkerung auftritt. Bei jeder Art schlägt die Natur den Weg ein, sie beinahe bis zur größten möglichen Anzahl wachsen zu lassen, dann sie zu verbessern durch den Druck, den die Höchstzahl gegen die einschränkenden Bedingungen ausübt, wobei alle schwächeren Einzelwesen zermalmt und getötet werden. Der Weg der Natur ist bisher auch der Weg der Menschen gewesen. Abgesehen davon, daß durch Erfindungen und Entdeckungen der allgemeine Nahrungsvorrat zeitweise vermehrt und dadurch die Lage erleichtert wird, muß die Summe des Hungers, der Entbehrung, des physischen Elends in der Welt fast genau in dem Maße schwanken, wie der Überschuß der Geburten über jene Ziffer, die mit einer allgemeinen Zufriedenheit des Daseins verträglich wäre. Weder die Natur noch der Mensch hat eine Methode entwickelt, nach welcher dieser Preis für den Fortschritt, dies Elend einer Fülle hungrigen und erfolglosen Lebens erspart werden könnte. Die bloße unterschiedslose Einschränkung der Geburten – die in der hausbackenen, altmodischen Zivilisation Chinas durch den Mord weiblicher Kinder praktisch erreicht wurde – beendigt zwar die Not, führt aber zur Stagnation, und der unbedeutende Vorteil einer Art Bequemlichkeit und fester Bevölkerungszahl wird um ein zu großes Opfer erreicht. Der Fortschritt hängt wesentlich von der durch den Wettbewerb geschaffenen Auswahl ab. Dieser kann man nicht ausweichen.
Es ist nun denkbar und möglich, daß alles Zuviel an Kampf, Schmerz, Armseligkeit und Tod fast auf ein Nichts zurückgeführt werden könnte, ohne die physische und geistige Entwicklung zu hemmen, ja sogar mit einer Beschleunigung derselben, wenn man nämlich die Geburt derer hinderte, die bei dem freien Spiel der natürlichen Kräfte nur zum Leiden und Untergang geboren werden. Die Methode der Natur »mit blutigen Zähnen und Krallen« besteht darin, daß sie die schwächsten und am wenigsten angepaßten Wesen jeder Gattung, wie sie ja immer vorhanden sind, hintansetzt, hemmt, quält, tötet und so den Durchschnitt im Steigen erhält. Das Ideal einer wissenschaftlichen Zivilisation wäre, die Geburt solcher Schwächlinge zu verhindern. Anders läßt es sich nicht vermeiden, daß die Natur durch Leiden strafe. Der Kampf ums Dasein bedeutet bei den Tieren und den unzivilisierten Menschen Elend und Tod für die Minderwertigen, Elend und Tod, damit sie nicht wachsen und sich mehren. Im zivilisierten Staat ist es jetzt durchaus möglich, die Lebensbedingungen für jedes Geschöpf erträglich zu machen, wofern man nur verhindern kann, daß die Minderwertigen wachsen und sich mehren. Diese letztere Bedingung aber muß berücksichtigt werden. Statt in der Flucht vor Tod und Elend können wir darin wetteifern, Leben zu geben. Den Verlierenden in diesem Wettkampf aber mögen wir jeden Trostpreis gewähren. Der moderne Staat strebt danach, die Vererbung zu regeln, auf die Erziehung und Ernährung der Kinder ein Auge zu haben, im Interesse der Zukunft immer mehr sich in das Verhältnis vom Vater zum Kind zu mischen. Er übernimmt immer mehr die Verantwortung für das allgemeine Wohl der Kinder, und in demselben Maße, wie er das tut, begründet er sich das Recht, zu entscheiden, welche Kinder er in seinen Schutz nehmen will.
Wie weit werden solche Bedingungen vorgeschrieben werden? Wie weit können sie in einem modernen Utopien vorgeschrieben werden?
Wir wollen gleich all den Unsinn beiseite schieben, den man in gewissen Kreisen hört von einer menschlichen Zuchtform. Siehe: Die Menschheit im Werden, Kap. II. Staatliche Zucht der Bevölkerung mag bei Plato noch ein vernünftiger Vorschlag heißen, wenn man den Stand des biologischen Wissens seiner Zeit und die rein versuchsweise Natur seiner Metaphysik bedenkt. Nach dem Auftreten eines Darwin wäre sie bei jedem etwas Albernes. Und doch stellt eine gewisse Schule soziologischer Schriftsteller sie als die glänzendste aller modernen Entdeckungen dar. Diese Leute scheinen ganz unfähig zu sein, den Wandel zu begreifen, den die Begriffe »Gattung« und »Individuum« in den letzten fünfzig Jahren durchgemacht haben. Und sie scheinen die Vermutung nicht fassen zu können, die Grenzen der Gattung könnten verschwunden sein und die Individualität schließe jetzt die Eigenschaft des Einzigartigen ein. Für sie sind Individuen immer noch mangelhafte Abbilder des platonischen Ideals der Gattung, und der Zweck der Zucht ist ihnen nichts als eine Annäherung an diese Vollkommenheit. Individualität bedeutet ihnen eine zu vernachlässigende Differenz, eine Unverschämtheit, und der ganze Strom moderner biologischer Ideen ist vergebens über sie hinweggeflutet.
Aber für die modernen Denker ist die Individualität die bedeutungsvollste Tatsache des Lebens, und ein Staat, der sich mit einer allgemeinen und durchschnittlichen Auswahl von Einzelwesen zum Zweck der Paarung und Verbesserung der Rasse befassen muß, erscheint ihm als etwas Törichtes. Es ist so, als stellte man in der Ebene einen Kran auf, um die Berggipfel in die Höhe zu strecken. In dem Antrieb, der von dem höher stehenden Individuum ausgeht, liegt alles, was die Zukunft bringen kann, und dies kann der Staat, der den Durchschnitt darstellt, zwar fördern, aber nicht selbst leiten. Und der natürliche Mittelpunkt des Gefühlslebens und des Willens, der höchste und bedeutungsvollste Ausdruck der Individualität, sollte in der Auswahl eines Genossen für die Fortpflanzung liegen.
Allgemein einschränkende Bedingungen festzusetzen ist etwas ganz anderes, als die zwangsweise Paarung und liegt sehr wohl innerhalb des Bereiches der staatlichen Tätigkeit. Der Staat ist berechtigt, zu sagen: ehe du der Gemeinde Kinder hinzufügst, die diese erziehen und teilweise unterhalten soll, mußt du erst über eine gewisse geringste Leistungsfähigkeit hinausgekommen sein, indem du eine Stellung in der Welt behauptest, die deine Zahlungsfähigkeit und Unabhängigkeit verbürgt; du mußt ferner ein gewisses Alter und eine bestimmte körperliche Entwicklung erreicht haben und frei sein von übertragbaren Krankheiten. Du darfst kein Verbrecher sein, es sei denn, daß deine Schuld gesühnt sei. Wenn diese einfachen Bedingungen nicht erfüllt sind und du dich mit irgend jemand verbindest und die Bevölkerung vermehrst, so wollen wir zwar aus Menschlichkeit das unschuldige Opfer eurer Leidenschaft übernehmen. Aber wir bestehen darauf, daß du dem Staat gegenüber unter einer besonders dringenden Schuld stehst, die du unbedingt einlösen mußt, selbst wenn wir die Zahlung zwangsweise erreichen müßten: es ist eine Schuld, für die du in letzter Linie mit deiner Freiheit bürgst. Wenn überdies das gleiche sich wiederholt, oder wenn du Krankheit und Schwachsinn fortgepflanzt hast, so werden wir ein unbedingt wirksames Schutzmittel anwenden, daß weder du noch dein Genosse in dieser Beziehung sich wieder verfehlen sollen.
»Hart!« sagt ihr. »Die armen Menschen!«
Die mildere Möglichkeit könnt ihr in den Hintergäßchen und den Asylen eurer Erde studieren.
Es kann der Einwand erhoben werden: wenn man sichtlich minderwertigen Leuten auf die besprochene Art gestattet, ein oder zwei Kinder zu haben, so wird der beabsichtigte Zweck ganz verfehlt. Dem ist aber in der Tat nicht so. Eine passend eingeschränkte Erlaubnis kann, wie jeder Staatsmann weiß, ihre sozialen Wirkungen haben, ohne den lästigen Druck eines reinen Verbotes auszuüben. Unter aufgeklärten und behaglichen Verhältnissen und bei einer leichten und durchführbaren Wahl, sich für das eine oder andre zu entscheiden, werden die Menschen Umsicht und Selbstzucht üben, um selbst der Mühsal und Plage zu entgehen. Das freie Leben in Utopien wird für die Minderwertigen des Opfers wohl wert sein. Die wachsende Behaglichkeit des Lebens, die höhere Selbstachtung und Einsicht zeigt sich in England zum Beispiel darin, daß der Bruchteil der unehelichen Geburten von 2,2 aufs Tausend in den Jahren 1846-50 auf 1,2 in den Jahren 1890-1900 gesunken ist und zwar ohne alle vorbeugenden Gesetze. Dies höchst erwünschte Ergebnis ist gewiß nicht die Folge einer großen Hebung der Sitten, sondern ganz einfach eines höheren Anspruchs an Behaglichkeit und eines lebhafteren Sinnes für Folgen und Verantwortung. Wenn ein so ausgesprochener Wandel möglich ist infolge des Fortschritts, den England in den letzten fünfzig Jahren gemacht hat, wenn gelinder Selbstzwang dermaßen wirksam sein kann, so darf man vernünftigerweise annehmen, daß bei dem reicheren Wissen und der reineren, offeneren Atmosphäre unseres utopischen Planeten die Geburt eines Kindes von kranken und minderwertigen Eltern, den Gesetzen des Staates zuwider, wohl von allem Unheil das seltenste sein wird.
Auch den Tod eines Kindes, dieses überaus tragische Ereignis, wird Utopien kaum kennen. Die Kinder werden nicht geboren, um im Kindesalter zu sterben. In unserer Welt stirbt aber eines von fünf Kindern innerhalb der ersten fünf Lebensjahre infolge der Mängel unserer medizinischen Wissenschaft, unserer Nährmethode und der ganzen Organisation, infolge von Armut und Nachlässigkeit und weil Kinder geboren werden, die nie hätten geboren werden dürfen. Vielleicht ist der Leser einmal Zeuge dieser traurigsten aller menschlichen Tragödien gewesen. Sie ist reine Leidensvergeudung. Es ist kein Grund vorhanden, warum nicht neunundneunzig von hundert Kindern das reife Alter erreichen sollten. Also muß man in jedem modernen Utopien dafür sorgen, daß dies auch geschieht.
Alle früheren Utopien haben, nach modernen Grundsätzen, dadurch geirrt, daß sie in diesen Dingen zuviel reguliert haben. In einer modernen Utopie wird sich der Staat viel weniger einmischen in Ehe und Geburt der Bürger als in irgend einem irdischen Staat. Auch hier wie bei dem Eigentum und den Unternehmungen wird das Gesetz nur soviel anordnen, als nötig ist, um die äußerste Freiheit und Unternehmungslust zu sichern.
Bis an den Anfang dieses Kapitels haben unsere utopistischen Ausblicke, wie viele Parlamentsgesetze, den Unterschied der Geschlechter übersehen. In allem Vorhergehenden muß man für »Er« eigentlich »Er und Sie« lesen. Aber jetzt kommen wir zu den sexuellen Fragen des modernen Gesellschaftsideals, wobei für sämtliche Zwecke des Individuums die Frauen dieselbe Freiheit genießen sollen wie die Männer. Dies muß im modernen Utopien ohne Zweifel verwirklicht werden – wenn dies überhaupt möglich ist – nicht nur um der Frau, sondern auch um des Mannes willen.
Die Freiheit der Frauen kann aber in der Theorie bestehen, während sie in der Praxis nicht da ist. Solange die Frauen an ihrer wirtschaftlichen Minderwertigkeit leiden, an der Unfähigkeit, mit ebensoviel Arbeit auch den gleichen Wert zu verdienen wie der Mann – und an dieser Minderwertigkeit läßt sich nicht zweifeln –, so lange ist ihre gesetzliche und technische Gleichberechtigung ein Hohn. Tatsächlich ist eben fast jeder Punkt, in dem die Frau sich vom Mann unterscheidet, ein wirtschaftlicher Nachteil für sie: ihre Unfähigkeit zu großer Kraftanspannung, ihr häufiger Zustand leichter Krankheit, ihre schwächere Initiative, ihr geringerer Erfindungsgeist und ihre geringere Vielseitigkeit, ihr relativer Mangel an Begabung für Organisation und Kombination und die Möglichkeit, daß bei ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von einem Mann Gefühlskomplikationen entstehen. Solange Frauen und Mädchen wirtschaftlich mit Männern und Knaben verglichen werden, sind sie ihnen genau in dem Maße unterlegen, als sie sich von ihnen unterscheiden. Aus allem, was dieser Unterschied ausmacht, sollen sie nur in einer Richtung Vorteil ziehen, indem sie nämlich einen Mann zur Heirat gewinnen oder verlocken, sich dadurch in einem fast unwiderruflichen Handel verkaufen und dann das Schicksal des Mannes im »Guten oder Schlimmen« teilen.
Aber – man lasse sich nicht durch die erste Schroffheit des Satzes schrecken – wenn nun das moderne Utopien den einzig möglichen Ausgleich unter den Geschlechtern schafft, indem es festsetzt, daß die Mutterschaft ein Dienst für den Staat ist und einen rechtmäßigen Anspruch auf Lebensunterhalt verleiht, daß, da der Staat das Recht ausübt, Mutterschaft zu gestatten oder zu verbieten, eine Frau, die Mutter ist oder wird, genau so gut Anspruch hat auf einen höheren als den Mindestlohn, auf Freiheit, Achtung und Würde wie ein Polizist, ein Staatsanwalt, ein König, ein Bischof der Staatskirche, ein Professor oder sonst jemand, den der Staat unterhält. Der Staat sichere etwa jeder Frau, die nach gesetzlicher Ordnung Mutter wird oder werden kann, das heißt, die rechtmäßig verheiratet ist, einen Teil vom Lohne ihres Mannes, damit sie vor körperlicher Arbeit und Sorgen geschützt ist; er bezahle ihr eine bestimmte Prämie für die Geburt eines Kindes und in regelmäßigen Zwischenzeiten weitere Summen, die hinreichen, um sie und ihr Kind unabhängig und frei zu erhalten, solange das Kind in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung gesund und normal bleibt. Er verwende mehr auf das Kind, wenn es sich merklich erhebt über gewisse körperliche und geistige Minimalfähigkeiten, kurz, er tue sein Bestes, um vollkommen leistungsfähige Mutterschaft zu einem würdigen und lohnenden Beruf zu machen. Im Zusammenhang mit all dem untersage er die gewerbliche Verwendung von Frauen und Müttern mit pflegebedürftigen Kindern, wenn sie nicht etwa in der Lage sind, die Pflege ihrer Nachkommen als tauglich erwiesenen Stellvertretern zu überlassen. Welche Unterschiede gegen die irdischen Verhältnisse ergäben sich hieraus?
Ein solcher Eingriff wird wenigstens zwei oder drei auffallende Härten und Übel des zivilisierten Lebens beseitigen. Er wird die Bedrängnis der meisten Witwen aufheben, die ja auf Erden genau in dem Verhältnis arm und geplagt sind, als sie die bedeutendste Pflicht der Frau erfüllt haben, und desto elender, je höher ihre Lebensführung und Erziehung ist. Er wird die Härte beseitigen, daß manche heutzutage aus Armut nicht heiraten oder Kinder zu bekommen wagen. Die Furcht, welche oft eine Frau von einer edlen Heirat weg zu einer einträglichen hintreibt, wird aus dem Leben verschwinden. In Utopien wäre die gesunde Mutterschaft unter den von mir angedeuteten Bedingungen der natürliche und lohnendste Beruf für die Frau. Eine tüchtige Frau, die acht oder neun gesunde, kluge und wohl geratene Söhne und Töchter geboren, ernährt und teilweise erzogen hat, müßte eine äußerst wohlhabende Frau sein, ohne Rücksicht auf das wirtschaftliche Geschick des Mannes, den sie geheiratet hat. Es müßte dies eine bedeutende Frau sein, die gewiß auch einen Mann als Lebensgefährten gewählt hätte, der wenigstens etwas über dem Durchschnitt steht. Aber sein Tod, sein schlechtes Verhalten oder Mißgeschick würde sie nicht zugrunde richten.
Eine solche Einrichtung ist nur die notwendige Folge der grundlegenden Annahme, daß ein bestimmtes Maß von Erziehung für jedes Kind im Staat unentgeltlich und pflichtmäßig sein soll. Wenn man die Leute keinen Nutzen ziehen läßt aus ihren Kindern – und jeder zivilisierte Staat (selbst die Vereinigten Staaten von Amerika, dieser umfassende Bau eines altmodischen Individualismus) neigt gegenwärtig dazu, ein solches Verbot zuzulassen – und wenn man für die alten Leute sorgt, anstatt sie dem Pflichtgefühl ihrer Kinder zu überlassen, so sind die praktischen Antriebe zur Elternschaft, von sehr reichen Leuten abgesehen, schon bedeutend abgeschwächt. Der Gefühlsfaktor führt selten zu mehr als einem, höchstens zwei Kindern in einer Ehe, und bei einem hohen und noch steigenden Maße der Lebensführung und der Umsicht wird die Geburtsziffer wahrscheinlich sich nie mehr sehr hoch erheben. Die Utopier werden der Ansicht sein, daß man die Kosten für die Unterhaltung der Kinder dem Gemeinwesen auferlegen muß, wenn im Interesse der Zukunft die Kinder vor Lohnarbeit bewahrt, und wenn nicht bloß die ausnahmsweis Reichen, Gesicherten, Frommen, Selbstlosen oder Leichtsinnigen Kinder frei gebären sollen.
Kurz, Utopien wird der Ansicht sein, daß gesunde Kinder zu gebären und zu erziehen ein Dienst ist, der nicht dem einzelnen, sondern dem Gemeinwesen gilt, und auf dieser Anschauung werden sich all seine gesetzlichen Anordnungen für die Mutterschaft ausbauen.
Nachdem wir dies vorausgeschickt haben, kommen wir zunächst zu der Frage nach dem utopischen Ehegesetz und nach den sich daran schließenden Gebräuchen und Meinungen.
Die Richtung unseres Denkens hat uns auf den Schluß geführt, daß sich der utopische Staat aus zwei Gründen für berechtigt halten wird, in das Verhältnis zwischen Mann und Frau einzugreifen: erstens wegen der Vaterschaft, zweitens wegen eines Widerstreits von Freiheiten, der sich sonst erheben könnte. Der utopische Staat soll ja wirksam eingreifen in jede Art von Verträgen und Bedingungen für sie vorschreiben. Bei der vorliegenden Art insbesondere wird er mit fast allen irdischen Staaten darin übereinstimmen, daß er vollständig festlegt, wozu der Mann oder die Frau verpflichtet werden kann und wozu nicht. Vom Standpunkt des Staatsmannes aus ist die Ehe eine so innige Verbindung von Mann und Frau, daß sie die Wahrscheinlichkeit von Nachkommenschaft einschließt, und es ist für den Staat von größter Bedeutung, sowohl um gute Geburten als auch um gute häusliche Verhältnisse zu sichern, daß diese Verbindungen nicht vollkommen frei, noch ungeordnet, noch unter der erwachsenen Bevölkerung praktisch ohne jede Einschränkung seien.
Eine fruchtbare Ehe muß ein einträglicher Vorteil sein. Sie darf nur unter klaren Bedingungen stattfinden: die Genossen des Vertrages müssen gesund und kräftig, frei von gewissen übertragbaren Leiden, über ein bestimmtes Mindestalter hinaus, klug und energisch genug sein, um sich das vorgeschriebene Maß der Bildung angeeignet zu haben. Der Mann wenigstens muß ein reines Einkommen über dem Mindestlohn haben, nachdem alle etwa noch bestehenden Ansprüche an ihn bezahlt geworden sind. Auf all dem muß der Staat vernünftigerweise bestehen, ehe er für die zu erwartenden Kinder verantwortlich werden kann. Es ist schwierig, das Alter zu bestimmen, in welchem Männer und Frauen die Ehe eingehen dürfen. Wenn wir aber die Frau soweit als möglich dem Mann gleichstellen, wenn wir eine allgemeine Volksbildung fordern und uns bestreben sollen, die Todesziffer der Säuglinge auf Null zu bringen, so muß es viel höher sein, als in irgendeinem irdischen Staat. Die Frau sollte mindestens einundzwanzig, der Mann sechs- oder siebenundzwanzig sein.
Die Genossen einer geplanten Heirat hätten sich also zuerst um die Ausweise zu bemühen, welche beurkunden, daß den angegebenen Bedingungen genügt wird. Vom Gesichtspunkt unseres gedachten utopischen Staates aus würden diese Ausweise die große Bedeutung der Sache darstellen. Dann müßte wohl das Hauptregister zu Paris in Tätigkeit treten. Die Gerechtigkeit verlangt, daß zwischen den beiden keine Täuschung obwalte, und dafür würde der Staat in der Hauptsache Sorge tragen. Sie hätten nun ihre gemeinsame Absicht einem öffentlichen Amte mitzuteilen, nachdem ihre persönlichen Ausweise ausgestellt wären, und jedes erhielte eine Abschrift der Indexkarte des erwählten Lebensgefährten, auf welcher Alter, frühere Ehen, gesetzlich wichtige Krankheiten, Nachkommenschaft, die verschiedenen Wohnsitze, etwa bekleidete Ämter, Strafverurteilungen, eingetragene Besitzzuweisungen usw. verzeichnet wären. Vielleicht wäre es auch rätlich, einem jeden gesondert und vor Zeugen in förmlicher Weise diesen Bericht zu verlesen und in einer vorgeschriebenen Form Rat in der Sache zu erteilen. Dann würde jedem eine angemessene Zeit gelassen, sich alles zu überlegen und vielleicht noch zurückzutreten. Bestünden beide auf ihrem Entschluß, so hätten sie nach der angeordneten kleinsten Reuezeit dies dem Ortsbeamten zu bescheinigen, worauf der notwendige Eintrag in die Register erfolgen würde. Das ganze Verfahren wäre ganz unabhängig von jeder religiösen Feier, für die sich die Brautleute etwa entschließen, denn der moderne Staat hat nichts zu tun mit religiösem Glauben und Ritus.
Dies wären also die Vorbedingungen der Ehe. Mit den Männern und Frauen, die diese Bedingungen mißachteten und sich auf irgendeine von ihnen beliebte Art verbinden, hätte der Staat nichts zu tun, wenn nicht illegitime Nachkommenschaft geboren würde. Wir haben schon angedeutet, daß in diesem Fall folgerichtig jede Pflicht der Unterhaltung, Erziehung usw., die gewöhnlich dem Staat zufällt, den Eltern zur Last gelegt würde. Sie hätten eine Lebensversicherung zu bezahlen, und eine wirksame Bürgschaft zu leisten gegen jede Möglichkeit, daß sie sich etwa der auferlegten Pflicht entzögen. Aber alle Aufsicht über die persönliche Sittlichkeit, die hinausginge über den Schutz der Minderjährigen gegen Verderbnis und schlechtes Beispiel, wäre keine Aufgabe für den Staat. Wenn ein Kind in Betracht kommt, so handelt es sich um die Zukunft der Gattung, und es ist Sache des Staates, alle über das Individuum hinausgehenden Interessen zu hüten. Aber das Privatleben der Erwachsenen ist ein vollständig privates Leben, in das sich der Staat nicht eindrängen darf.
Wie wird nun ein utopischer Ehevertrag beschaffen sein?
Von dem ersten oben angegebenen Standpunkt aus, dem der Elternschaft, ergibt sich, daß eine unvermeidliche Bedingung die Keuschheit der Frau ist. Ist ihr Untreue nachgewiesen, so löst dies die Ehe sofort auf und befreit sowohl den Mann als den Staat von jeder Pflicht zur Erhaltung ihrer illegitimen Nachkommenschaft. Dies ist jedenfalls unbestreitbar. Ein Ehevertrag, der das nicht voraussetzt, ist ein Triumph der Metaphysik über den gesunden Menschenverstand. Unter utopischen Verhältnissen muß ja der Staat durch die Verfehlung der Frau Schaden leiden, und ein Mann, der etwas Derartiges verzeiht, macht sich mitschuldig. Eine Frau also, die aus diesem Grunde geschieden wird, wird aus einem öffentlichen Interesse geschieden, nicht in einer persönlichen Streitsache, nicht, weil sie etwa privates und persönliches Unrecht zugefügt hätte. Auch dies gehört zu den ersten Voraussetzungen der Ehe.
Was müßte ein Ehevertrag in Utopien noch weiter einschließen?
Die gleiche Enthaltsamkeit von seiten des Mannes ist offenbar belanglos, soweit es auf das erste Ziel der Ehe, den Schutz des Gemeinwesens vor minderwertigen Geburten, ankommt. Da handelt es sich nicht um ein Unrecht gegen den Staat. Aber für die Frau entstehen daraus größere oder geringere Gefühlsverletzungen; es kann ihren Stolz verwunden und heftige Wallungen der Eifersucht verursachen, es kann dazu führen, daß sie sich vernachlässigt, einsam und unglücklich fühlt und dadurch auch Schaden an der Gesundheit erleidet. Diesem Nachteil sollte durch eine Bestimmung vorgebeugt werden. Sie hat sich zum Besten des Staates mit dem Mann verbunden, und es ist gewiß angezeigt, daß sie im Notfall sich an den Staat um Abhilfe wende. Ihre Schädigung bemißt sich nach dem Grade des Anstoßes, den sie nimmt. Wenn es ihr gleichgültig ist, so kann es jedermann gleichgültig sein; wenn ihre Selbstachtung nicht leidet, so hat die Welt nicht den geringsten Verlust. Es müßte also an ihr liegen, des Mannes Vergehen festzustellen und die Ehe zu lösen, wenn sie das für gut findet.
Wenn das eine die nächsten Pflichten des gemeinschaftlichen Lebens versäumt, zum Beispiel das andere verläßt, so müßte diesem selbstverständlich Rechtshilfe gewährt werden. Entwickelt sich eine minderwertig machende Gewohnheit wie Trunksucht, Morphiumsucht und dergleichen oder wird ein ernsthaftes Verbrechen der Gewalttat verübt, so gäbe dies natürlich einen Grund zu endgültiger Trennung ab. Ferner greift das moderne Utopien nur um der kommenden Generation willen in das Verhältnis der Geschlechter ein, und wollte er in einer dauernd unfruchtbaren Ehe Verhaltungsvorschriften geben, so sänke er zu rein moralischen Eingriffen herab. Man kann einer kinderlos bleibenden Ehe vernünftigerweise ein Ziel setzen und sie nach drei, vier oder fünf unfruchtbaren Jahren erlöschen lassen, aber ohne Mann oder Frau in dem Rechte zu beschränken, daß sie sich abermals heiraten dürfen.
Die Billigkeit dieser Hauptbedingungen liegt auf der Hand. Wir kommen nun zu den schwierigeren Seiten der Sache. Die erste derselben ist die Frage nach den wirtschaftlichen Beziehungen von Mann und Frau mit Rücksicht darauf, daß selbst in Utopien die Frau, wenigstens bis sie Mutter wird, durchschnittlich ärmer ist als der Mann. Die zweite handelt von der Dauer einer Ehe. Aber beide hängen zusammen und werden vielleicht am besten in einem Abschnitt behandelt. Und beide verzweigen sich höchst verwickelt in die Untersuchung der allgemeinen Moral des Gemeinwesens hinein.
Das Eheproblem ist unter der ganzen Reihe utopischer Probleme das verwickeltste und schwierigste. Glücklicherweise ist die Notwendigkeit, es restlos zu lösen, nicht eben die dringendste. Die wirklich dringende und notwendige Frage ist die nach der Regierung. Haben wir diese richtig ausgedacht und ein vorläufig noch unvollkommenes Ehegesetz, so kann ein Utopien als lebensfähig gelten, es mag dann zusehen, wie es sich vollends ausbildet. Aber ohne Regierung ist ein Utopien unmöglich, wenn die Ehetheorie auch noch so rund aufgestellt wäre. Die Schwierigkeit dieser Frage ist auch nicht etwa die eines verwickelten Schachspiels, wobei die ganze Verschlingung des Denkens schließlich doch in einer Ebene liegt, sondern sie besteht darin, daß eine Reihe von Problemen auf verschiedenen Grundlagen ruhen und unvergleichbare Faktoren enthalten.
Es ist sehr leicht, unsere erste Annahme zu wiederholen und daran zu erinnern, daß wir auf einem andern Planeten sind, und daß alle Sitten und Überlieferungen der Erde beiseite gesetzt sind, aber sollen wir in dieser Beziehung nur zu den geringsten Tatsachen kommen, so muß uns eine tiefe psychologische Einsicht leiten. Wir sind alle in bezug auf sexuelle Anschauungen in eine unüberwindliche Schablone hineingewachsen, wir betrachten dieses mit Billigung, jenes mit Abscheu und wieder ein anderes mit Verachtung, und zwar meist, weil es uns von jeher in diesem oder jenem Lichte gezeigt worden ist. Je freier wir uns glauben, desto feiner sind nur unsere Fesseln. Es ist ein außerordentlich verwickeltes Unternehmen, das auseinander zu halten, was von diesen Gefühlen angeboren und was erworben ist. Wahrscheinlich haben alle Männer und Frauen eine stärkere oder schwächere Anlage zur Eifersucht, aber auf was sie gerade eifersüchtig werden und was sie hinnehmen, das scheint von den oberschichtigen Faktoren abzuhängen. Alle Männer und Frauen sind wahrscheinlich idealer Regungen fähig, die über bloße physische Wünsche hinausgehen, unter welcher Gestalt sie aber auftreten, das hängt fast gänzlich von äußeren Eindrücken ab. Man kann eben das Äußere nicht abstreifen und nicht den reinen Naturmenschen erhalten, der eifersüchtig ist ohne einen besonderen Gegenstand, der Phantasie hat ohne Einbildungen, der nur so im allgemeinen stolz ist. Gefühlsanlagen können ebensowenig ohne äußere Form bestehen als ein Mensch ohne Luft. Nur ein ausgezeichneter Beobachter, der über die ganze Erde hin, in allen sozialen Schichten gelebt hätte, unter jeder Rasse und Zunge, der auch mit einer großen Vorstellungskraft begabt wäre, könnte die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Bildsamkeit in dieser Hinsicht zu verstehen hoffen und angeben, wozu sich ein Mann oder eine Frau willig bringen ließe, was aber keines dulden würde, vorausgesetzt, daß man ihnen an Bildung gleichkäme. Junge Leute freilich werden einem bereitwillig Auskunft geben. Das Verfahren anderer Rassen und anderer Zeitalter überzeugt nicht: was unsre Vorfahren taten oder die Griechen oder Ägypter kann, obgleich es die unmittelbare natürliche Ursache des jungen Mannes oder der jungen Frau von heute ist, diesen merkwürdigen Folgen das Gepräge einer Zusammenstellung wunderlicher, komischer oder abstoßender Manieren geben.
Aber für den modernen Forscher tauchen gewisse Ideale und Forderungen auf, die wenigstens bis zu einem gewissen Grade die vorläufigen Grundlagen eines utopischen Ehegesetzes, wie es im 4. Abschnitt dargelegt ist, vervollständigen und erweitern.
Wenn die gesunde Geburt gesichert ist, bleibt dann noch ein gültiger Grund für die Fortdauer der utopischen Eheverbindung?
Zwei Gedankenreihen führen dazu, eine längere Dauer der Ehe anzusetzen. Die erste geht aus von der allgemeinen Notwendigkeit eines Heims und der individuellen Pflege, wenn Kinder da sind. Diese entspringen einer gegenseitigen Wahl unter Individuen und gedeihen in der Regel nur in Verbindung mit liebenden und nahestehenden Individualitäten, und niemals hat eine die besondern Charaktere vernachlässigende oberflächliche Methode sie zu behandeln auch nur einen Schatten des Erfolges gehabt wie das eigene Heim. Weder Plato noch Sokrates, die das Heim verwerfen, scheinen sich je mit Leuten unter dem Jünglingsalter befaßt zu haben. Die Zeugung ist erst der Beginn der Elternschaft, und selbst, wo die Mutter nicht unmittelbar die Amme und Lehrerin ihres Kindes ist und diese Pflichten anderen überträgt, ist ihre Oberaufsicht gewöhnlich für dessen Wohlergehen wesentlich. Obgleich ferner der utopische Staat die Mutter, und nur die Mutter, für das Dasein und Wohlbefinden ihrer legitimen Kinder bezahlt, wird es offenbar vorteilhaft sein, wenn er die natürliche Neigung des Vaters bestärkt, seines Kindes Wohlfahrt mit dem eigenen Egoismus zu verbinden und einen Teil seiner Kraft und seines Verdienstes zur Ergänzung der staatlichen Fürsorge zu verwenden. Es heißt eine Einrichtung der Natur zwecklos verachten, wenn man bei einem der beiden Geschlechter die angeborene Liebe zur Nachkommenschaft nicht pflegt. Wenn die Eltern nicht in enger Beziehung bleiben, wenn sie eine Reihe von Ehen durchmachen, so wird die Gefahr sehr bedenklich, daß ein Widerstreit der Rechte und eine Verschleuderung der Gefühle eintritt. Die Familie büßt ihre Gleichartigkeit ein, und ihre einzelnen Glieder werden der Mutter gegenüber verschiedene, vielleicht unverträgliche Gefühlsassoziationen mitbringen. Die Wage des sozialen Vorteils neigt sich sicherlich den dauernden Verbindungen zu, wobei Mann und Frau für die ganze Dauer der mütterlichen Tätigkeit, also bis das letztgeborene der Kinder ihrer Hilfe nicht mehr bedürftig wäre, verbunden oder zu Idealen angetrieben werden, die eine Bindung herbeiführen. Trotzdem könnte ausreichend für die Möglichkeit einer nicht entehrenden Scheidung gesorgt werden für den Fall gegenseitiger Unverträglichkeit.
Die zweite Reihe der Erwägungen geht hervor aus einer gewissen Künstlichkeit in der Stellung der Frau. Sie ist weniger zwingend als die erste und eröffnet interessante seitliche Ausblicke.
Es ist sehr viel Unsinn geredet worden über die natürliche Gleichheit oder Minderwertigkeit der Frauen gegenüber den Männern. Man kann aber nur Dinge von gleicher Art mit demselben Maße messen und in höhere oder niedere Reihen ordnen. Das wesentlich Weibliche ist seiner Art nach von dem wesentlich Männlichen ganz verschieden und kann gar nicht damit verglichen werden. Eine Beziehung ist möglich in dem Bereich der Ideale und Konventionen, und es steht einem Staate gänzlich frei, zu entscheiden, daß Mann und Frau auf gleichem Fuße behandelt werden sollen, oder daß das eine oder andere die Vorherrschaft habe. Die Art, wie Aristoteles in diesen Dingen Plato kritisiert und auf der natürlichen Minderwertigkeit der Sklaven und Frauen besteht, zeigt genau die Verwechslung angeborener und anerzogener Eigenschaften, in der seine eigentümliche Schwäche bestand. Die europäischen und fast alle gegenwärtig einflußreichen Völker neigen dazu, der Frau die Gleichheit zu gewähren, der Mohammedanismus möchte den Brauch immer mehr verstärken, daß der Mann allein Bürger und die Frau in weitem Maße sein Eigentum ist. Es kann kein Zweifel herrschen, daß die zweite dieser brauchbaren Konventionen die primitivere Art ist, das vorliegende Verhältnis aufzufassen. Es ist ganz fruchtlos, über diese Ideale zu streiten, als gäbe es eine beweisbare Entscheidung zwischen ihnen. Beide Annahmen sind Willkürakte, und wir folgen nur unserer Zeit, wenn wir eine gewisse Neigung für die erstere zeigen.
Wenn wir näher zusehen, wie diese Ideen praktisch sich verschieden gestalten, so zeigt es sich, daß das ihnen anhaftende Falsche auf sehr natürliche Weise in Erscheinung tritt, sobald die Wirklichkeit berührt wird. Diejenigen, welche auf der Gleichheit bestehen, arbeiten der Wirkung nach für die Assimilierung, für die gleiche Behandlung der Geschlechter. Platos Frauen der regierenden Klasse sollten sich zum Beispiel wie die Männer nackt an den gymnastischen Übungen beteiligen, sollten Waffen tragen, in den Krieg ziehen und sich den meisten männlichen Beschäftigungen ihrer Klasse anschließen. Sie sollten die gleiche Erziehung erhalten und in allen zweifelhaften Punkten den Männern gleichgestellt werden. Aristoteles andererseits besteht auf der gesonderten Behandlung. Die Männer sollen regieren, kämpfen und arbeiten, die Frauen sollen der Mutterschaft leben in einem Zustand natürlicher Minderwertigkeit. Die Kräfte der Entwicklung drängten durch lange Jahrhunderte des menschlichen Fortschritts im großen ganzen nach dieser zweiten Richtung, der unterschiedlichen Behandlung. Siehe Havelock Ellis, Mann und Frau. Eine erwachsene weiße Frau unterscheidet sich weit mehr von einem weißen Mann als eine Negerin oder Eskimofrau von dem entsprechenden Mann. Die Erziehung, die geistige Richtung der weißen oder asiatischen Frau verrät deutlich das Geschlecht. Ihre Bescheidenheit, ihr Anstand besteht nicht darin, das Geschlecht zu leugnen, sondern es zu verfeinern und zu betonen; ihr Kostüm hebt laut die unterscheidenden Elemente ihrer Gestalt hervor. Bei den materiell blühenden Nationen ist die Frau mehr sexuelles Spezialwesen als ihre Schwester bei armen und rohen Völkern, die der wohlhabenden Klassen mehr als die Bäuerin. Die zeitgenössische Modedame, die im öffentlichen Leben des Abendlandes den Ton angibt, ist für den Mann eher ein Reizmittel als eine Gefährtin. Nur zu oft ist sie ein ungesundes Reizmittel, das den Mann vom inneren Wert weg zum äußern Schein verleitet, von der Schönheit zur angenehmen Zierlichkeit, vom Stil zur Pracht und von dauerndem Streben zu kurzen, aufregenden Triumphen. Aufgeputzt, parfümiert, behängt, ihre Reize entfaltend, erreicht sie künstlich eine größere Betonung des Geschlechts, als dies bei irgend einem andern Wirbeltier der Fall ist. Sie übertrifft den Glanz des Pfauen neben seinem Weibchen; man muß in die häuslichen Geheimnisse der Insekten und Krustentiere eindringen, um eine lebende Parallele für sie zu finden. Es ist eine keineswegs leichte, aber äußerst wichtige Frage, inwieweit die großen und immer wachsenden Unterschiede zwischen den menschlichen Geschlechtern angeboren und unvermeidlich sind oder inwieweit sie dem Zufall der sozialen Entwicklung unterliegen, der unter einer andern sozialen Ordnung zu ändern und einzuschränken ist. Sollen wir diesen Unterschied anerkennen, betonen und unsere utopische Organisation auf ihn bauen? Sollen wir zwei Urklassen menschlicher Wesen annehmen, die zwar zusammengehören und zusammenhandeln, aber ein wesentlich verschiedenes Leben verfolgen, oder sollen wir diesen Unterschied auf jede mögliche Weise verringern?
Die erste Möglichkeit führt entweder zu romantischen Gesellschaftsverhältnissen, wobei die Männer für wundervolle, herrliche, hoch erhobene Geschöpfe leben, kämpfen und sterben, oder sie führt zum Harem. Wahrscheinlich würde sie von dem ersten zum andern überleiten. Die Frauen wären Rätsel, Geheimnisse und mütterliche Würdenträgerinnen, denen man nur im Zustand der Gefühlswallung nahen, vor denen man sich aber liebevoll zurückziehen würde, wenn ernste Arbeit vorläge. Das Mädchen würde mit der Geschlechtsreife aus einem vollständig gleichgültigen Wesen zum Gegenstand mystischen Begehrens werden, und die Knaben müßten in einem möglichst frühen Alter dem erzieherischen Einfluß der Mutter entzogen werden. So oft Männer und Frauen zusammenträfen, erhöbe sich unter den Männern ein feuriger Wettbewerb, ähnlich unter den Frauen: ein Gedankenaustausch müßte da aufhören. Im zweiten Fall aber wären die sexuellen Beziehungen den Gefühlen der Freundschaft und Kameradschaft untergeordnet; Knaben und Mädchen würden zusammen erzogen – zum größten Teil unter Leitung der Mutter: Die Frauen wären ihres eigentümlichen barbarischen Schmuckes, der Federn, Perlen, Spitzen und alles Flitters entkleidet, durch den sie sonst ihren schreienden Anspruch an persönliche Aufmerksamkeit betonen und würden, ihrer besondern Art entsprechend, an dem Denken und dem geistigen Fortschritt der Männer teilnehmen. Solche Frauen wären geeignet, die Knaben bis ins Jünglingsalter zu erziehen. Es ist klar, daß ein Ehegesetz, in dem eine Entscheidung für eine dieser beiden Gedankenreihen verkörpert wäre, je nach dieser Entscheidung sehr verschieden ausfallen müßte. Im ersten Falle würde man von dem Manne erwarten, daß er die hohe Wonne, womit er beschenkt wurde, in entsprechender Weise verdiene und sich erhalte. Er würde ihr herrliche Lügen sagen über ihren wunderbaren moralischen Einfluß auf ihn und sie vor jeder Verantwortung und Aufklärung bewahren. Und da die erste Jugendblüte einer Frau unleugbar stärker zu der Phantasie des Mannes spricht, so hätte sie auch während des übrigen Lebens einen bestimmten Anspruch an seine Kräfte. Im zweiten Fall würde ein Mann ebensowenig für seine Frau einstehen und bezahlen, wie sie für ihn. Sie wären zwei Freunde, in ihrer Art zwar verschieden, aber einander entsprechend verschieden, die sich zum Eheverhältnis verbunden haben. Soweit wir die utopische Ehe bisher besprochen haben, war sie zwischen den beiden Möglichkeiten noch unentschieden.
Wir haben den allgemeinen Grundsatz aufgestellt, daß die persönliche Sittlichkeit eines erwachsenen Bürgers den Staat nichts angeht. Hierin liegt nun auch die Bestimmung, daß gewisse Geschäfte keine Beachtung finden dürfen. Ein richtig gedachter Staat muß es ablehnen, Geschäfte zu stützen, bei denen nicht ein ehrlicher Austausch stattfindet, und wenn die Privatmoral wirklich nicht in den Bereich des Staates gehört, darf man Zuneigung und Liebe nicht als Handelsware ansehen. Der Staat wird also Gunstbezeigungen dieser Art gänzlich übersehen, wenn nicht etwa Kinder in Betracht kommen oder kommen können. Daraus folgt, daß er es ablehnt, Schulden oder Besitzübertragungen anzuerkennen, die aus solchen Beweggründen hervorgehen. Es wird also nur folgerichtig sein, wenn er in dem Ehevertrag finanzielle Verpflichtungen zwischen Mann und Frau oder ähnliche den Vertrag einschränkende Abmachungen nicht anerkennt, wofern es sich nicht um einen Beitrag zur Fürsorge für zu erwartende Kinder handelt. Bedingungslose Schenkungen aus Liebe werden natürlich bei zahlungsfähigen Leuten durchaus möglich und erlaubt sein, auch unbesoldete Dienste und ähnliches, wenn die Lebensführung aufrecht erhalten bleibt und das gemeinsame Einkommen des Paares, die sich Dienste erweisen, nicht unter den doppelten Mindestlohn sinkt. Insofern wird der utopische Staat auf seiten derer stehen, die für die Unabhängigkeit der Frau und ihre anerkannte Gleichberechtigung mit dem Manne eintreten.
Auf eine weitere Bestimmung des Eheverhältnisses wird sich der utopische Weltstaat nicht einlassen. Der weite Bereich von sonst noch möglichen Beziehungen innerhalb und außerhalb des Ehegesetzes bleibt ganz der persönlichen Auswahl und Phantasie überlassen. Ob der Mann seine Frau von sich aus als eine Göttin behandelt, die man günstig stimmen muß, als ein zu verehrendes Geheimnis, als eine angenehme Hilfskraft, als einen besonders vertrauten Freund oder als die gesunde Mutter seiner Kinder, das ist einzig Sache ihres persönlichen Verhältnisses. Ob er sie in orientalischem Müßiggang oder in tätiger Mithilfe hält, ob er sie einem unabhängigen Leben überläßt, mag das Paar für sich ausmachen. Ebenso liegen alle möglichen Freundschaften und vertrauten Beziehungen außerhalb der Ehe ganz jenseits des modernen Staatsbereiches. Darauf kann ja die religiöse Belehrung und die Literatur Einfluß üben, es können sich Gebräuche bilden, bestimmte Verhältnisse mögen soziale Vereinsamung zur Folge haben: die Gerechtigkeit des Staatsmannes ist blind gegen all das. Man kann einwenden, die Aufsicht über die Liebesverhältnisse sei, wie Atkinsons klare Untersuchungen Siehe: Lang und Atkinson Soziale Verhältnisse und das Grundgesetz. zeigen, gerade der Ursprung menschlicher Gemeinschaften gewesen. Trotzdem berühren die Liebesverhältnisse den utopischen Staat nicht, soweit sie nicht die Fürsorge für die Kinder betreffen. Es kann nicht klar genug gemacht werden, daß, wenn auch die Aufsicht über die Moral außerhalb des Gesetzes liegt, der Staat doch einen allgemeinen Anstand aufrecht erhalten, mächtig wirkende Beispiele, Aufreizungen und Verführungen der Jugend planmäßig unterdrücken muß, und insofern wird er freilich eine Aufsicht im großen führen. Diese ist aber nur ein Teil des umfassenden Gesetzes zum Schutze der Jugend. Lügnerische Reklame zum Beispiel, die sich an die besonderen Triebe der Jugend wendet, und ähnliches wird vom Gesetz besonders schroff behandelt werden, ganz abgesehen davon, daß sie wegen allgemeiner Unehrlichkeit bestraft wird. Funktionswechsel ist eine der herrschenden Tatsachen des Lebens: der Beutel, der bei unsern fernsten Vorfahren eine Schwimmblase war, ist heute eine Lunge, und der Staat, der ehemals vielleicht nichts war als der eifersüchtige und tyrannische Wille des stärksten Männchens in der Herde, ist heute das Werkzeug der Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Staat greift heute nur da ein, wo die Interessen der einzelnen nicht im Einklang sind – mögen diese einzelnen schon vorhanden sein oder alsbald ins Dasein treten.
Es muß wiederholt werden, daß nach unserem Gedankengang die utopische Ehe eine Einrichtung ist, die noch weiten Spielraum übrig läßt. Wir haben versucht, das Ideal einer wirklichen Gleichheit auf geistigem Gebiet zwischen Mann und Frau auszuführen, und damit haben wir die anerkannte Anschauung der großen Mehrzahl der Menschen verworfen.
Der erste Schriftsteller, der das tat, war vermutlich Plato. Wenn er sich zur Stütze dieser Neuerung auf das natürliche Gefühl beruft, so ist dieser Grund schwach genug – eine bloße Analogie, um den Geist seiner Lehren zu beleuchten und dabei bestimmte ihn sein schöpferischer Trieb. Im Gebiete dieser Spekulationen ragt Plato sehr hoch empor, und in Anbetracht dessen, was wir ihm verdanken, dürfen wir billigerweise eine Art der Ehe nicht als etwas Unerlaubtes und Schlechtes vorschnell verwerfen, die er beinahe zum Hauptzug in der Organisation wenigstens der herrschenden Klasse seines Idealstaates gemacht hat. Er war überzeugt, daß die enge monogame Familie leicht unfreiheitlich und antisozial wird, daß sie Phantasie und Energie des Bürgers vom Dienste des Gemeinwesens als eines Ganzen ablenkt. Die römisch-katholische Kirche hat seinen Gedanken soweit angenommen und verkörpert, daß sie ihren Priestern und wichtigen Gehilfen Familienbande untersagt. Ihr schwebte eine poetische Hingabe an die Staatsidee vor als Ersatz aller innigen und zarten, aber unfreien Empfindungen für die Häuslichkeit, eine Hingabe, deren der Geist des Aristoteles unfähig war, wie seine Kritik Platos beweist. Aber während die Kirche nur die Wahl ließ zwischen Familienbanden einerseits, dem Zölibat Die moderne Phantasie Campanellas, des wunderlichen kalabrischen Klosterbruders, kehrte, von Plato entflammt, die Anschauung der Kirche gerade um. und der Teilnahme an einer Organisation andererseits, war Plato weit mehr im Einklang mit modernen Ideen, wenn er den Nachteil erkannte, der daraus entspringt, die edleren Charakterarten von der Fortpflanzung ausschließen zu wollen. Daher suchte er einen Weg, die Nachkommenschaft zu sichern, ohne alle Neigungen eng an die Häuslichkeit zu binden, und er fand ihn in einer vielfachen Ehe, wobei jedes Mitglied der regierenden Klasse als mit allen andern verheiratet angesehen wurde. Aber wie dieses System im einzelnen ausgeführt würde, das stellte er nur tastend und dunkel dar. Seine Anregungen sind die lückenhaften Versuche eines Forschers. Vieles ließ er ganz offen, und es ist ungerecht, wenn man ihm gegenüber die advokatische Methode des Aristoteles anwendet und seine Erörterungen behandelt, als seien sie ein völlig ausgearbeiteter Entwurf. Platos Absicht war klärlich die, jedes Mitglied seiner regierenden Klasse solle »bei der Geburt so ausgewechselt« werden, daß man der Vaterschaft nicht nachspüren könnte, die Mütter sollten ihre Kinder, die Kinder ihre Eltern nicht kennen, aber nichts hindert uns an der Annahme, daß diese Menschen innerhalb der großen Familie gleichgestimmte Gefährten auswählen und sich beigesellen sollten. Des Aristoteles Behauptung, die Platonische Republik lasse für die Tugend der Enthaltsamkeit keinen Raum, zeigt, daß er genau zu denselben Schlüssen gekommen ist, die man auch von einem Londoner Laufburschen erwarten könnte, der ein wenig verschämt in einer öffentlichen Bibliothek über Jorett brütete.
Aristoteles verdunkelt vielleicht zufällig Platos Absicht, wenn er von seiner Eheinstitution als einer Weibergemeinschaft redet. Wenn er Plato las, konnte oder wollte er nicht anders lesen, als mit seiner eigenen vorgefaßten Meinung von dem natürlichen Einfluß des Mannes, mit seiner Vorstellung des Eigentumsrechts an Frauen und Kindern. Aber da Plato wollte, die Frauen sollten als den Männern gleichgestellt gelten, so straft ihn diese Ausdrucksweise völlig Lügen; »Gemeinschaft von Gatten und Gattinnen« entspricht seinem Vorschlag genauer. Aristoteles verurteilt Plato so unumwunden, wie ihn jede heutige Handelskammer verurteilen würde, auch in ziemlich demselben Geiste. Er behauptet mehr, als daß er beweist, eine solche Ordnung sei der menschlichen Art zuwider. Er wollte Frauenbesitz haben, wie er Sklavenbesitz haben wollte; weshalb, danach fragte er nicht, und es beleidigte seine Begriffe von Schicklichkeit aufs äußerste, wenn er sich irgendeine andere Ordnung vorstellen sollte. Es ist gewiß wahr, daß die natürliche Empfindung beider Geschlechter während der vertrauten Zeit Teilhaber an dieser Vertrautheit ausschließt, aber wahrscheinlich war es erst Aristoteles, der Plato in dieser Frage eine anstößige Deutung gab. Niemand würde sich freiwillig in eine Lage der Dinge fügen, wie sie die vielfache Ehe nach der Auslegung des Aristoteles zu obszöner Vollendung bringt, aber dies ist nur ein Grund mehr für die moderne Utopie, drei oder mehr unter sich einigen Personen eine Gruppenehe nicht zu versagen. Es hat keinen Sinn, Einrichtungen zu verbieten, die kein vernünftiger Mensch je wünschen könnte zu mißbrauchen. Es wird geltend gemacht – obgleich die reinen Tatsachen schwer festzustellen sind –, daß von John Humphrey Noyes Siehe John H. Noyes Geschichte des amerikanischen Sozialismus und seine Schriften im allgemeinen. Die nackten Tatsachen dieses und der anderen amerikanischen Experimente sind, zusammen mit neuerem Material, bei Morris Hillquirt dargestellt in der Geschichte des Sozialismus der Vereinigten Staaten. zu Oneida Creek eine Gruppenehe von über zweihundert Menschen erfolgreich organisiert worden ist. Es ist in diesem Falle ziemlich sicher, daß keine »Promiskuität« herrschte, und daß die Mitglieder sich innerhalb der Gruppen auf wechselnde Zeitlängen und oft fürs Leben paarten. In dieser Beziehung sind die Urkunden ziemlich klar. Jene Oneida-Gemeinde war in Wirklichkeit eine Verbindung von zweihundert Personen, die ihre Kinder als »gemeinsam« ansahen. Auswahl und Vorzug waren in der Gemeinde nicht abgeschafft, obgleich in einzelnen Fällen beiseite gesetzt, genau wie viele Eltern es schon unter heutigen Verhältnissen machen. Es scheinen übereilte Versuche mit »Stammkultur« – dem was Francis Galton jetzt »Edelinge« nennt – in der Paarung der Mitglieder gemacht worden zu sein, und die Fortpflanzung war gleichfalls eingeschränkt. Abgesehen davon scheinen die inneren Geheimnisse der Gemeinschaft nicht sehr tief gewesen zu sein; ihr Milieu war beinahe alltäglich, es bestand aus sehr gewöhnlichen Menschen. Während der ganzen Lebenszeit ihres Gründers hatte sie gewiß eine Laufbahn außerordentlichen Erfolges, und sie brach erst zusammen mit dem Auftauchen eines neuen Geschlechtes, mit dem Anfang theologischer Streitigkeiten und dem Verlust des führenden Geistes. Das angelsächsische Wesen ist, wie einer der tüchtigsten Sprossen dieses Versuches gesagt hat, für den Kommunismus zu sozialistisch. Man kann den vorübergehenden Erfolg dieser umfassenden Familie als einen seltsamen Zufall ansehen, als die wunderbare Leistung eines sicherlich ganz außerordentlichen Mannes. Daß sie sich schließlich in rein monogame Paare auflöste – sie ist noch heute eine blühende Geschäftsgesellschaft –, kann man ansehen als eine experimentelle Bestätigung der Aristotelischen Psychologie des gesunden Menschenverstandes; es war jedenfalls nur die öffentliche Anerkennung praktisch schon bestehender Verhältnisse.
Aus Achtung vor Plato können wir in unsern utopischen Theorien die Möglichkeit der vielfachen Ehe nicht ganz vernachlässigen. Aber selbst wenn wir diese Möglichkeit offen lassen, müssen wir sie als wahrscheinlich so selten ansehen, daß wir sie auf unsern Reisen in Utopien nicht unmittelbar zu sehen bekommen. In einem Sinne aber, nämlich in dem, daß der Staat allen legitim geborenen Kindern Pflege und Unterhalt sichert, muß gewiß unser ganzes Utopien als eine einzige, umfassende Gruppenehe angesehen werden. Rabelais »Thalemon« soll mit dem Prinzip »Tu, was du willst« innerhalb der Grenzen der Ordnung wahrscheinlich eine platonische Komplexheirat nach Art unserer Deutung anregen.
Man darf nicht vergessen, daß eine moderne Utopie sich von den Utopien aller früheren Zeiten dadurch unterscheiden muß, daß sie weltumfassend ist; sie soll also nicht die Entwicklung irgend einer besonderen Rasse oder Kultur darstellen, wie Plato eine Athenisch-Spartanische Mischung entwickelte oder More das England der Tudors. Die moderne Utopie soll vor allem synthetisch sein. Politisch, sozial und sprachlich müssen wir sie uns als eine Zusammensetzung denken: politisch ist sie eine Verbindung einst sehr verschiedener Regierungsformen, sozial und moralisch einer großen Vielheit häuslicher Überlieferungen und ethischer Gewohnheiten. In die moderne Utopie müssen alle geistigen Quellen und Strömungen einmünden, die in unserer Welt die Polygamie der Zulus und Utahs, die Vielmännerei von Tibet, den weiten Spielraum für Experimente in den Vereinigten Staaten und die unlösbare Ehe Comtes herbeiführen. Die Absicht aller synthetischen Entwicklungen in Sachen der Gesetze und Sitten geht dahin, den Zwang einzuschränken und zu vereinfachen, Auswahl und Freiheit zu gestatten. Was früher Gesetze waren, wird zu vererbten Ansichten und Lebensformen, und nirgends wird sich das deutlicher zeigen als in den die Beziehungen der Geschlechter betreffenden Fragen.