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Lincoln erwartete Graham in einem Gemach unter den Flugbühnen. Er schien begierig, alles zu erfahren, was geschehen war, froh über das außerordentliche Vergnügen und das Interesse, das Graham am Fliegen fand. Graham war in enthusiastischer Stimmung. »Ich muß fliegen lernen,« rief er. »Das muß ich bewältigen. Mir tun alle armen Seelen leid, die gestorben sind, ohne dazu Gelegenheit gehabt zu haben. Diese frische, schnelle Lust! Es ist das wundervollste Gefühl von der Welt!«
»Sie werden unsere neue Zeit voll von wundervollen Erfahrungen finden,« sagte Lincoln. »Ich weiß nicht, was Sie jetzt beginnen werden wollen. Wir haben Musik, die Ihnen neu erscheinen mag.«
»Vorläufig«, sagte Graham, »hält mich das Fliegen fest. Lassen Sie mich davon mehr lernen. Ihr Aeronaut sagte, es gäbe eine Gesellschaft, die verbietet, daß man es lernt.«
»Ja, ich glaube,« sagte Lincoln. »Aber für Sie –! Wenn Sie sich damit beschäftigen möchten, könnten wir Sie morgen zum vereidigten Aeronauten machen.«
Graham sprach seine Wünsche lebhaft aus und redete eine Weile von seinen Empfindungen. »Und die Geschäfte,« fragte er unvermittelt. »Wie gehen die Dinge?«
Lincoln winkte die Geschäfte beiseite. »Das wird Ihnen Ostrog morgen erzählen,« sagte er. »Alles erledigt sich. Die Revolution vollzieht sich über der ganzen Welt. Einige Reibung hier und dort ist unvermeidlich; aber Ihre Herrschaft ist gesichert. Sie können ruhig ruhen, solange die Dinge in Ostrogs Händen liegen.«
»Wäre es möglich, daß ich sofort zum vereidigten Aeronauten gemacht würde, wie Sie es nennen – ehe ich schlafen gehe?« sagte Graham, hin und her gehend. »Dann könnte ich gleich morgen zu allererst wieder daran gehn ...«
»Es wäre möglich,« sagte Lincoln nachdenklich. »Ganz möglich. Gewiß, es soll geschehen.« Er lachte. »Ich kam, um Vergnügungen vorzuschlagen, aber Sie haben selber eine gefunden. Ich will von hier aus auf das aeronautische Amt telephonieren und wir wollen in Ihre Gemächer auf dem Windfahnenamt zurückkehren. Bis Sie gespeist haben, werden die Aeronauten kommen können. Sie meinen nicht, daß Sie nach dem Essen lieber –?« Er machte eine Pause.
»Ja?« sagte Graham.
»Wir hatten ein Tanzschauspiel vorbereitet – die Tänzerinnen sind vom Theater auf Capri geholt.«
»Ich hasse Ballets,« sagte Graham kurz. »Hab's stets getan. Das andere – Nein, so etwas will ich nicht sehen. Tänzerinnen haben wir auch in den alten Tagen gehabt. Was das angeht, so gab's sie schon im alten Ägypten. Aber Fliegen –«
»Freilich,« sagte Lincoln. »Obgleich unsere Tänzerinnen –«
»Sie können ganz gut warten,« sagte Graham; »sie können warten. Ich weiß. Ich bin kein Lateiner. Ich habe Fragen für einen Sachverständigen – über ihre Maschinen. Ich bin begierig. Ich will keine Zerstreuungen.«
»Sie haben die Welt zur Auswahl,« sagte Lincoln. »Was Sie auch wollen, ist Ihrs.«
Asano erschien, und unter Deckung einer starken Wache kehrten sie durch die Stadtstraßen zu Grahams Gemächern zurück. Weit größere Mengen hatten sich versammelt, um seine Rückkehr zu sehen, als sein Aufbruch angezogen hatte, und das Rufen und Jubeln dieser Volksmassen ertränkte Lincolns Antworten auf die endlosen Fragen, die Grahams Luftfahrt angeregt hatte. Erst hatte Graham das Jubeln und die Rufe der Menge durch Verbeugungen und Gesten anerkannt, aber Lincoln warnte ihn, eine solche Anerkennung werde als inkorrektes Benehmen angesehen. Graham, den die rhythmischen Höflichkeiten bereits ein wenig ermüdeten, ignorierte seine Untertanen für den Rest seiner öffentlichen Fahrt.
Sowie sie in seinen Gemächern ankamen, machte sich Asano auf die Suche nach kinematographischen Wiedergaben von Maschinen in Aktion, und Lincoln beförderte Grahams Bestellungen auf Maschinenmodelle und kleine Maschinen, um die mancherlei mechanischen Fortschritte der letzten zwei Jahrhunderte zu illustrieren. Die kleine Gruppe von Vorrichtungen für telegraphische Mitteilung zog den Herrn so stark an, daß sein köstlich bereitetes Diner, das von einer Anzahl entzückend gewandter Mädchen serviert wurde, eine Zeitlang warten mußte. Die Sitte des Rauchens ist fast von der Erde verschwunden, aber als er den Wunsch nach diesem Genuß aussprach, wurden Nachforschungen angestellt, und man entdeckte in Florida einige ausgezeichnete Zigarren, die man ihm durch Rohrpost schickte, während er noch sein Diner einnahm. Nachher kamen die Aeronauten und ein Fest von scharfsinnigen Wundern in den Händen eines modernen Ingenieurs. Vorläufig jedenfalls war die bloße Geschicklichkeit von Zähl- und Rechenmaschinen, Baumaschinen, Spinnmaschinen, Patenttüren, Explosivstoffen, Korn- und Wasserelevatoren, Schlachthausmaschinen und Erntevorrichtungen für Graham faszinierender als jede Bajadere. »Wir waren Wilde,« war sein Refrain, »wir waren Wilde. Wir lebten in der Steinzeit – hiermit verglichen ... Und was haben Sie sonst noch?«
Es kamen auch praktische Psychologen mit einigen sehr interessanten Entwicklungen in der Kunst des Hypnotisierens. Die Namen Milne Bramwell, Fechner, Liebault, William James, Myers und Gurney, fand er, hatten jetzt einen Klang, der ihre Zeitgenossen erstaunt hätte. Mehrere praktische Anwendungen der Psychologie waren jetzt in allgemeinem Gebrauch; sie hatten in der Medizin Narkotika, Antiseptika und Anästhetika weithin verdrängt, wurde von fast allen angewandt, die geistige Konzentration nötig hatten. In dieser Richtung schien eine wirkliche Erweiterung menschlicher Fähigkeit erzielt worden zu sein. Die Leistungen von »Rechenknaben«, die Wunder, als welche Graham sie anzusehen gewohnt gewesen war, von Mesmeristen waren jetzt im Bereich eines jeden, der sich die Dienste eines geschickten Hypnotiseurs leisten konnte. Längst waren die alten Examenmethoden im Unterricht durch diese Mittel vernichtet worden. Statt Jahre des Studiums machten die Kandidaten ein paar Wochen des Starrschlafs durch, und während des Schlafes brauchten die sachverständigen Pauker nur alle zur richtigen Beantwortung nötigen Punkte zu wiederholen und eine Suggestion zur posthypnotischen Erinnerung dieser Punkte hinzuzufügen. Besonders in der Mathematik war diese Hilfe von merkwürdigem Nutzen gewesen, und sie wurde unabänderlich von den Schachspielern und bei allen Spielen der Handgewandtheit angerufen, die es noch gab. Kurz, alle Operationen, die unter bestimmten Regeln vor sich gingen, das heißt, quasi mechanischer Art waren, waren jetzt systematisch von den Abirrungen der Phantasie und Gefühle befreit und zu einer unerhörten Höhe der Genauigkeit gehoben. Kleine Kinder aus den arbeitenden Klassen wurden so, sobald sie alt genug waren, daß man sie hypnotisieren konnte, in wundervoll pünktliche und vertrauenswürdige Maschinenaufseher verwandelt und alsbald von den langen, langen Gedanken der Jugend erlöst. Aeronautische Schüler, die zum Schwindel neigten, konnten von ihren imaginären Schrecken befreit werden. Auf jeder Straße standen Hypnotiseure bereit, um dem Geist dauernde Erinnerungen aufzuprägen. Wenn jemand einen Namen, eine Zahlenreihe, ein Lied oder eine Rede zu behalten wünschte, so konnte es mit Hilfe dieser Methode geschehen, und umgekehrt konnten Erinnerungen ausgelöscht, Gewohnheiten beseitigt, Begierden ausgerottet werden – kurz, eine Art psychischer Chirurgie war in allgemeinem Gebrauch. Unwürdigkeiten, demütigende Erlebnisse wurden so vergessen, verliebte Witwen konnten ihre früheren Männer tilgen, zornige Liebhaber sich aus ihrer Sklaverei befreien. Begierden einzutropfen war jedoch immer noch unmöglich, und die Tatsachen der Gedankenübertragung waren noch unsystematisiert. Die Psychologen illustrierten ihre Auseinandersetzungen mit ein paar verblüffenden Experimenten in der Mnemonik, die sie mit Hilfe einer Truppe blaßgesichtiger Kinder in Blau aufstellten.
Graham mißtraute dem Hypnotiseur wie die meisten Leute seiner Zeit, sonst hätte er sich gleich da den Geist von vielen schmerzlichen Vorurteilen befreien können. Aber trotz Lincolns Beteuerungen hielt er an der alten Theorie fest, daß die Hypnotisierung irgendwie die Aufgabe seiner Persönlichkeit, den Verzicht auf seinen Willen bedeute. Bei dem Bankett wundervoller Erlebnisse, das begann, verlangte es ihn sehr, absolut er selbst zu bleiben.
Der nächste Tag und noch ein Tag und noch ein dritter Tag vergingen mit solchen Interessen. Jeden Tag verbrachte Graham viele Stunden mit der glorreichen Unterhaltung des Fliegens. Am dritten Tag erhob er sich über Mittelfrankreich und bis die schneebekleideten Alpen in Sicht kamen. Diese kräftige Bewegung gab ihm ruhigen Schlaf, und jeder Tag brachte einen großen Fortschritt von der kraftlosen Anämie seines ersten Erwachen fort. Und so oft er nicht in der Luft war und wachte, bemühte Lincoln sich eifrig um seine Unterhaltung; alles, was in moderner Erfindung neu und merkwürdig war, wurde ihm gebracht, bis schließlich sein Verlangen nach Neuem nahezu übersättigt war. Man könnte ein Dutzend unzusammenhängender Bände mit den seltsamen Dingen füllen, die sie vorführten. Jeden Nachmittag hielt er eine Stunde oder so Hof. Er fand bald, wie sein Interesse an seinen Zeitgenossen persönlich und intim wurde. Er war hauptsächlich für das Ungewohnte und Eigentümliche wach gewesen; jede Narrheit in ihrer Kleidung, jede Dissonanz mit seinen eigenen Begriffen von Vornehmheit in ihrem Wesen hatte ihn verletzt, und es war ihm merkwürdig, wie schnell jene Fremdheit und die leichte Feindseligkeit, die daraus entsprang, verschwand; wie schnell er dahin kam, die wahre Perspektive seiner Stellung zu würdigen und die alten Viktorianischen Tage fern und wunderlich zu sehen. Er fand, daß ihm besonders die rothaarige Tochter des Geschäftsführers der Europäischen Schweinezüchtereien Vergnügen machte. Am zweiten Tag machte er nach Tisch die Bekanntschaft einer modernen Tänzerin und fand eine erstaunliche Künstlerin in ihr. Und danach weitere hypnotische Wunder. Am dritten Tage ließ Lincoln sich verleiten, anzuregen, der Herr solle sich in eine Freudenstadt begeben, aber das lehnte Graham ab; auch wollte er bei seinen aeronautischen Experimenten von den Hypnotiseurs keine Hilfe annehmen. Das Ortsband hielt ihn an London fest; er fand eine beständige Verwunderung darin, topographische Einzelheiten zu identifizieren, wie er sie im Ausland vermißt hätte. »Hier – oder hundert Fuß hierunter,« konnte er sagen, »aß ich während meiner Londoner Universitätstage meine Mittagskotelettes. Hier unten stand Waterloo, und da war die ewige Jagd nach den konfusen Zügen. Oft hab ich da unten gestanden und gewartet, die Tasche in der Hand, und über den Wald von Signalen in den Himmel gestarrt und mir wenig gedacht, daß ich eines Tages hundert Meter in der Luft herumspazieren würde. Und jetzt kreise ich in eben dem Himmel, der einst ein grauer Rauchbaldachin war, in einem Aeropil herum.«
Während dieser drei Tage war Graham so mit Zerstreuungen beschäftigt, daß die großen politischen Bewegungen, die außerhalb seines Quartiers vor sich gingen, nur einen geringen Teil seiner Aufmerksamkeit genossen. Seine Umgebung erzählte ihm wenig. Täglich kam Ostrog, der Meister, sein Großvezier, sein Majordomus, um in unbestimmten Ausdrücken über die stetige Befestigung seiner Herrschaft zu berichten; »ein wenig Unruhe« in dieser Stadt, die bald erledigt sein würde, »eine leichte Störung« in jener. Der Gesang des sozialen Aufstands drang nicht mehr zu ihm; er erfuhr nie, daß er innerhalb der Stadtgrenzen verboten worden war; und all die großen Erregungen vom Krähennest schlummerten in seiner Seele.
Aber am zweiten und dritten der drei Tage ertappte er sich trotz seines Interesses an der Tochter des Geschäftsführers der Schweinezüchtereien, oder vielleicht gerade wegen der Gedanken, die ihre Unterhaltung anregte, auf der Erinnerung an das Mädchen Helene Wotton, die auf der Versammlung im Windfahnenamt so sonderbar zu ihm gesprochen hatte. Der Eindruck, den sie gemacht hatte, war ein tiefer, obgleich ihn die unaufhörliche Überraschung neuer Verhältnisse eine Zeitlang abgehalten hatte, über ihm zu brüten. Aber jetzt kam die Erinnerung an sie zu ihrem Recht. Er fragte sich, was sie mit diesen gebrochenen, halb vergessenen Sätzen gemeint hatte; das Bild ihrer Augen und die ernste Leidenschaft ihres Gesichtes wurde lebhafter, als seine mechanischen Interessen verblaßten. Ihre Schönheit trat zwingend zwischen ihn und gewisse unmittelbare Versuchungen unedler Leidenschaft. Aber er sah sie erst nach drei vollen Tagen wieder.