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Er fuhr auf, als es dicht neben ihm hustete.
Er drehte sich scharf um und erblickte, als er hinsah, eine kleine, bucklige Gestalt, die ein paar Meter entfernt im Schatten der Einfriedigung saß.
»Haben Sie neue Nachrichten?« fragte die hohe, schnaufende Stimme eines sehr alten Mannes.
Graham zögerte. »Nein,« sagte er.
»Ich bleibe hier, bis das Licht wiederkommt,« sagte der Alte. »Diese blauen Schurken sind überall, überall.«
Grahams Antwort war eine unartikulierte Zustimmung. Er versuchte, den Alten zu sehen, aber das Dunkel verbarg sein Gesicht. Er sehnte sich sehr danach, zu antworten, zu reden, aber er wußte nicht, wie beginnen.
»Dunkel und verdammt,« sagte der Alte plötzlich. »Dunkel und verdammt. Unter all diesen Gefahren aus meinem Zimmer herausgeworfen.«
»Das ist hart,« riskierte Graham. »Das ist hart für Sie.«
»Dunkel. Ein alter Mann im Dunkeln verirrt. Und die ganze Welt verrückt geworden. Krieg und Kampf. Die Polizei geschlagen und die Schurken draußen. Warum holen sie keine Neger, um uns zu schützen? ... Keine dunklen Gänge mehr für mich. Ich bin über einen Toten gefallen.«
»In Gesellschaft ist man sicherer,« sagte der Alte, »wenn's die richtige Gesellschaft ist,« und er blickte offen geradeaus. Er stand plötzlich auf und kam auf Graham zu.
Offenbar war das Ergebnis der Prüfung befriedigend. Der Alte setzte sich, als sei ihm leichter, weil er nicht mehr allein war. »Eh!« sagte er, »aber dies ist eine schreckliche Zeit! Krieg und Kampf, und die Toten liegen herum – Männer, starke Männer, die im Dunkeln sterben, Söhne! Ich hab drei Söhne. Gott weiß, wo sie heut nacht sind.«
Die Stimme hörte auf. Dann wiederholte sie zittrig: »Gott weiß, wo sie heut nacht sind.«
Graham stand da und überlegte sich eine Frage, die seine Unwissenheit nicht verraten sollte. Wieder beschloß die Stimme des Alten die Pause.
»Dieser Ostrog wird gewinnen,« sagte er. »Er wird gewinnen. Und wie die Welt unter ihm aussehen wird, kann keiner sagen. Meine Söhne sind unter den Windfahnen, alle drei. Eine von meinen Schwiegertöchtern war eine Zeitlang seine Maitresse. Seine Maitresse! Wir sind keine gewöhnlichen Leute. Obgleich sie mich heut abend auf die Wanderschaft geschickt haben, sehn, wo ich unterkomme... Ich wußte, was vorging. Vor den meisten anderen. Aber dies Dunkel! Und plötzlich im Dunkeln über eine Leiche zu fallen!«
Man konnte sein schnaufendes Atmen hören.
»Ostrog!« sagte Graham.
»Der größte Meister, den die Welt gesehen hat,« sagte die Stimme.
Graham stöberte in seinem Geist umher. »Der Rat hat wenig Freunde unterm Volk,« sagte er aufs Geratewohl.
»Wenig Freunde. Und auch bloß arme. Die haben ihre Zeit gehabt. Eh! Hätten sich zu den gescheitesten halten sollen. Aber zweimal haben sie Wahl gehalten. Und Ostrog – Und jetzt ist es ausgebrochen, und nichts kann's halten, nichts kann's halten. Zweimal haben sie Ostrog abgewiesen – Ostrog, den Boß. Ich hörte von seiner Wut damals – er war furchtbar. Der Himmel schütze sie! Denn auf der Erde kann's nun nichts mehr, seit der die Arbeitsgesellschaften gegen sie aufgeregt hat. Das hätte sonst keiner gewagt. All die blaue Leinwand bewaffnet und auf dem Marsch! Er wird's durchsetzen. Er wird's durchsetzen.«
Er schwieg kurze Zeit. »Dieser Schläfer,« sagte er und hielt inne.
»Ja?« sagte Graham. »Und?«
Die Greisenstimme sank zu vertraulichem Flüstern, das undeutliche, blasse Gesicht kam dicht heran. »Der wirkliche Schläfer –«
»Ja,« sagte Graham.
»Was?« sagte Graham scharf.
»Seit Jahren. Tot. Seit Jahren.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!« sagte Graham –
»Doch. Mein Ernst. Er ist tot. Dieser Schläfer, der aufgewacht ist – den haben sie nachts untergeschoben. Ein armer, betäubter, bewußtlos gemachter Kerl. Aber ich darf nicht alles sagen, was ich weiß. Ich darf nicht alles sagen, was ich weiß.«
Eine kleine Weile murmelte er unhörbar weiter. Sein Geheimnis war für ihn zu schwer. »Ich kenne die nicht, die ihn eingeschläfert haben – das war vor meiner Zeit – aber ich kenne den, der die Reizmittel injiziert und ihn aufgeweckt hat. Es stand zehn gegen eines – wecken oder töten. Wecken oder töten. Ostrogs Art.«
Graham war über diese Dinge so erstaunt, daß er den Alten unterbrechen mußte, ihn seine Worte wiederholen lassen, ihn nochmals unbestimmt ausfragen, ehe er des Sinns und der Narrheit dessen, was er gehört hatte, sicher war. Und sein Erwachen war kein natürliches gewesen! War auch das der senile Aberglaube eines alten Mannes oder enthielt es die Wahrheit? Als er in den dunklen Winkeln seines Gedächtnisses umhertastete, stieß er auf etwas, was womöglich der Eindruck einer solchen anreizenden Wirkung sein konnte. Ihm dämmerte auf, daß er eine glückliche Begegnung getan hatte, daß er endlich etwas über die neue Zeit erfahren konnte. Der Alte schnaufte eine Zeitlang und spie, und dann begann die pfeifende Stimme der Erinnerung von neuem:
»Das erste Mal haben sie ihn abgewiesen. Ich habe alles verfolgt.«
»Abgewiesen, wen?« sagte Graham. »Den Schläfer?«
»Schläfer? Nein. Ostrog. Er war schrecklich – schrecklich. Und da versprach man ihm, versprach ihm sicher, das nächste Mal. Narren sind sie gewesen – ihn nicht mehr zu fürchten. Jetzt ist die ganze Stadt sein Mühlstein, und wir werden drauf zu Staub gemahlen. Werden drauf gemahlen. Bis er sich an die Arbeit machte – da schnitten sich die Arbeiter mitunter gegenseitig die Hälse ab, oder sie ermordeten einen Chinesen oder Polizisten und ließen den Rest von uns in Ruh. Leichen! Raub! Dunkel! Sowas ist seit einem Gros Jahre nicht mehr dagewesen. Eh! – aber den Kleinen geht's schlimm, wenn die Großen ausfallen! Es ist schlimm!«
»Sagten Sie – was – ist nicht mehr dagewesen – seit einem Gros Jahre?«
»Eh?« sagte der Alte.
Der Alte sagte etwas von Silbenverschlucken und ließ es ihn zum dritten Male wiederholen. »Kampf und Totschlag und Waffen in der Hand, und Narren, die Freiheit brüllen und sowas mehr,« sagte der Alte. »Mein ganzes Lebenlang ist sowas nicht dagewesen. Das ist ja wie in den alten Tagen – wahrhaftig – als das Volk in Paris ausbrach – vor drei Gros Jahren. Das, mein ich, ist nicht mehr dagewesen. Aber so geht die Welt. Es mußte wiederkommen. Ich weiß. Ich weiß. Fünf Jahre lang hat Ostrog gearbeitet, und so lange hat's Unruhen und Unruhen gegeben, und Hunger und Drohen und große Worte und Waffen. Blaue Leinwand und Geflüster. Und jetzt sind wir soweit! Aufruhr und Kampf, und der Rat am Ende angelangt!«
»Sie sind ziemlich gut unterrichtet in diesen Dingen,« sagte Graham.
»Ich weiß, was ich höre. Es ist nicht alles Schwätzmaschine.«
»Nein,« sagte Graham und fragte sich, was Schwätzmaschine heißen mochte. »Und Sie sind sicher, dieser Ostrog – Sie sind sicher, Ostrog hat diesen Aufstand organisiert und das Erwachen des Schläfers eingerichtet? Nur, um sich zu befestigen – weil er nicht in den Rat gewählt wurde?«
»Das weiß jeder, sollt' ich meinen,« sagte der Alte. »Außer – eben Narren. Er wollte irgendwie Herr werden. Im Rat oder nicht. Jeder, der überhaupt was weiß, weiß das. Und hier liegen wir mit Leichen im Dunkeln! Wo sind Sie denn gewesen, wenn Sie nichts von dem Zank zwischen Ostrog und den Verneys gehört haben? Und was meinen Sie, worum dreht sich die Geschichte? Den Schläfer? eh? Sie halten den Schläfer für wirklich, und er ist von selber aufgewacht – eh?«
»Ich bin schwer von Begriffen, älter, als ich aussehe, und vergeßlich,« sagte Graham. »Menge Dinge, die passiert sind – besonders in den letzten Jahren – Die Wahrheit zu sagen, wenn ich der Schläfer wäre, ich könnte nicht weniger von ihnen wissen.«
»Eh!« sagte die Stimme. »Alt, wirklich? Sie klingen nicht so sehr alt! Aber nicht jeder behält sein Gedächtnis bis in meine Jahre – freilich. Aber diese bekannten Dinge! Aber Sie sind nicht so alt wie ich – längst nicht so alt wie ich. Na! ich sollte andere vielleicht nicht nach mir beurteilen. Ich bin jung – für einen so alten Mann. Vielleicht sind Sie alt für einen so jungen.«
»Ja, ja,« sagte Graham. »Und ich hab 'ne wunderliche Geschichte. Ich weiß sehr wenig. Und Geschichte! Eigentlich kenn' ich gar keine Geschichte. Der Schläfer und Julius Cäsar, das ist mir alles eins. Es ist interessant, Sie von diesen Dingen reden zu hören.«
»Ich weiß ein paar Sachen,« sagte der Alte. »Ich weiß das eine oder andere. Aber – Horch!«
Die beiden verstummten und lauschten. Es gab einen schweren Stoß, eine Erschütterung, daß ihre Sitze bebten. Die Vorübergehenden blieben stehen und riefen einander zu. Der Alte war voller Fragen; er rief einen Mann an, der dicht an ihm vorbeikam. Durch sein Beispiel ermutigt, stand Graham auf und sprach andere an. Niemand wußte, was geschehen war.
Er kehrte zu seinem Sitz zurück und hörte, wie der Alte im Flüsterton unbestimmte Fragen murmelte. Eine Weile sagten sie nichts zueinander.
Das Gefühl dieses gigantischen, so nahen und doch so fernen Kampfes bedrückte Grahams Phantasie. Hatte dieser Alte recht, hatte das Gerücht des Volkes recht, und gewannen die Revolutionäre? Oder waren sie alle im Irrtum, und trieben die roten Wachen alles vor sich her? Jeden Moment konnte die Flut des Krieges in dieses stille Stadtviertel strömen und ihn von neuem erfassen. Er mußte alles erfahren, was er konnte, solange es noch Zeit war. Er wandte sich plötzlich mit einer Frage zu dem Alten und ließ sie unausgesprochen. Aber seine Bewegung trieb den Alten wieder zum Reden.
»Eh! aber wie die Dinge zusammenarbeiten!« sagte der Alte. »Dieser Schläfer, auf den alle Narren vertrauen! Ich hab die ganze Geschichte – ich bin immer gut gewesen in Geschichten. Als Junge – so alt bin ich – hab ich noch gedruckte Bücher gelesen. Sie sollen's kaum glauben. Sie haben wohl kaum welche gesehen – sie faulen und stauben so – und die Gesellschaft für Hygiene verbrennt sie, um Hausteinblenden draus zu machen. Aber auf ihre schmutzige Art waren sie bequem. Man lernte 'ne Menge. Die neumod'schen Schwätzmaschinen – Ihnen scheinen sie nicht neumodisch, eh! – die sind leicht zu hören, leicht zu vergessen. Aber die ganze Schläfergeschichte hab ich von Anfang an verfolgt.«
»Sie werden es kaum glauben,« sagte Graham langsam, »ich bin so unwissend – ich bin so von meinen eigenen kleinen Angelegenheiten in Anspruch genommen gewesen, meine Verhältnisse sind so wunderlich gewesen – ich weiß nichts von der Geschichte dieses Schläfers. Wer war er?«
»Eh!« sagte der Alte. »Ich weiß. Ich weiß. Er war ein armer Niemand und hing an einer übermütigen Frau, die arme Seele! Und er fiel in einen Starrkrampf. Diese alten Dinger, die sie hatten – die Silberphotographien – die zeigen ihn noch, wie er dalag, vor anderthalb Gros Jahren – anderthalb Gros Jahren!«
»Hing an 'ner übermütigen Frau, die arme Seele,« sagte Graham leise vor sich hin, und dann laut: »Ja – und weiter!«
»Sie müssen wissen, er hatte einen Vetter, der hieß Warming, einen einsamen Mann ohne Kinder, der machte ein großes Vermögen, indem er in Straßen spekulierte – den ersten Eadhamitstraßen. Aber das haben Sie doch wohl gehört? Nein? Wie? Er kaufte all die Patentrechte und gründete eine große Gesellschaft. In jenen Tagen, da gab's Grosse von Grossen von getrennten Geschäften und Geschäftsgesellschaften. Grosse von Grossen! Seine Straßen machten in zweidutzend Jahren die Eisenbahnen tot – die alten Dinger! er kaufte auf und eadhamitierte die Linien. Und weil er seinen großen Besitz nicht zerstückeln wollte oder ihn Aktionären überlassen, vermachte er alles dem Schläfer und unterstellte es einem Verwaltungsrat, den er ausgewählt und eingearbeitet hatte. Er wußte schon, daß der Schläfer nicht erwachen würde, daß er weiter schlafen und schlafen würde, bis er starb. Das wußte er recht gut! Und plumps! dem folgte ein Mann aus den Vereinigten Staaten, der zwei Söhne bei einem Bootunglück verlor, mit einem neuen Vermächtnis. Sein Verwaltungsrat hatte gleich beim Anfang ein Dutzend Myriaden Löwen oder mehr in Händen.«
»Wie hieß er?«
»Graham.«
»Nein – ich meine – der Amerikaner.«
»Isbister.«
»Isbister!« rief Graham. »Und ich kenne nicht einmal den Namen!«
»Natürlich nicht,« sagte der Alte. Natürlich nicht. Die Leute lernen heutzutage nicht viel in den Schulen. Aber ich weiß das alles. Er war ein reicher Amerikaner, der aus England gekommen war, und er hinterließ dem Schläfer sogar noch mehr als Warming. Wie er's gemacht hat? Das weiß ich nicht. Etwas wie Bilder mit Maschinen. Aber er hat's gemacht und hinterlassen, und so hatte der Rat seinen Anfang. Es war zuerst nichts als ein Verwaltungsrat.«
»Und wie ist er gewachsen?«
»Eh! – aber Sie verstehen auch gar nichts! Geld zieht Geld an – und zwölf Köpfe sind besser als einer. Sie haben's geschickt gespielt. Sie haben mit Geld in Politik gemacht und haben das Geld fortwährend vermehrt, indem sie Kurse und Tarife beeinflußten. Sie wuchsen – sie wuchsen. Und Jahre lang verbargen die zwölf Verwalter das Wachsen des Besitzes dieses Schläfers unter doppelten Namen und Gesellschaftstiteln und all dem. Der Rat dehnte sich durch Eigentumsbriefe, Verpfändungen, Aktien aus; jede politische Partei, jede Zeitung kauften sie auf. Wenn sie die alten Geschichten hören, werden Sie den Rat wachsen und wachsen sehen. Billionen und Billionen Löwen zuletzt – das Vermögen des Schläfers. Und alles aus einer Laune gewachsen – aus dem Testament dieses Warming und einem Unfall, der Isbisters Söhnen begegnet.«
»Die Menschen sind sonderbar,« sagte der Alte. »Für mich ist das Sonderbare, wie der Rat hat solange zusammenarbeiten können. Zwölf Mann! Aber sie haben von Anfang an in Kliquen gearbeitet. Und sie sind zurückgekommen! Wenn man in meinen jungen Tagen vom Rat sprach, das war, wie wenn ein unwissender Mensch von Gott spricht. Wir dachten gar nicht daran, daß sie unrecht tun könnten. Wir wußten nichts von ihren Weibern und all dem! Inzwischen bin ich klüger geworden.«
»Die Menschen sind sonderbar,« sagte der Alte. »Da sitzen Sie, jung und unwissend, und ich – siebenzig Jahre alt, und ich könnte eigentlich vergessen – und ich erklär's Ihnen alles, kurz und klar.«
»Siebendig,« sagte er, »siebendig, und ich höre und sehe noch – höre besser, als ich sehe. Und Kopf klar und bleib über alles auf dem Laufenden. Siebendig!«
»Das Leben ist sonderbar. Ich war zwaindig, als Ostrog noch ein Baby war. Ich kannte ihn schon, längst ehe er sich den Weg an die Spitze der Windfahnenverwaltung gebahnt hatte. Ich hab manchen Wechsel gesehen. Eh! Ich hab die blaue getragen. Und schließlich muß ich diesen Zusammensturz sehen, und das Dunkel und den Aufruhr und Leichen, die in Haufen auf den Straßen vorbeigetragen werden. Und alles sein Werk! Alles sein Werk!«
Seine Stimme erstarb in kaum artikuliertem Lobe Ostrogs.
Graham dachte nach. »Lassen Sie sehen,« sagte er, »ob ich's recht begriffen habe.«
Er hielt die Hand hin und zählte die Punkte an den Fingern her. »Der Schläfer hat geschlafen –«
»Ist ausgewechselt,« sagte der Alte.
»Vielleicht. Und inzwischen wuchs das Vermögen des Schläfers in den Händen von zwölf Verwaltern, bis es fast den ganzen großen Besitz der Welt aufschluckte. Die zwölf Verwalter sind – eben durch dies Vermögen im wesentlichen die Herren der Welt geworden. Weil sie die zahlende Macht sind – genau wie's im alten England das Parlament war –«
»Eh!« sagte der Alte. »Das ist richtig – das ist ein guter Vergleich. Sie sind nicht so –«
»Und jetzt hat dieser Ostrog – die Welt plötzlich revolutioniert, indem er den Schläfer weckte – von dem nur das abergläubische gemeine Volk je geträumt hatte, daß er erwachen würde – hat den Schläfer geweckt, um nach all den Jahren seinen Besitz vom Rat zu fordern.«
Der Alte bestätigte diese Angabe mit einem Husten. »Es ist sonderbar,« sagte er, »einem Menschen zu begegnen, der all das heut nacht zum erstenmal erfährt.«
»Ja,« sagte Graham, »es ist sonderbar.«
»Sind Sie in einer Freudenstadt gewesen?« sagte der Alte. »Mein ganzes Lebenlang hab ich mich gesehnt –« Er lachte. »Noch jetzt,« sagte er, »könnte ich mich an ein bißchen Ulk freuen. Auf jeden Fall mich freuen, wenn ich was zu sehen kriegte.« Er murmelte einen Satz, den Graham nicht verstand.
»Der Schläfer – wann ist er aufgewacht?« sagte Graham plötzlich.
»Vor drei Tagen.«
»Wo ist er?«
»Ostrog hat ihn. Er ist dem Rat vor noch nicht vier Stunden entflohen. Mein lieber Herr, wo sind Sie währenddem gewesen? Er war in der Halle bei den Märkten – wo der Kampf gewesen ist. Die ganze Stadt hat darum geschrien. Alle Schwätzmaschinen. Überall wurde es ausgerufen. Selbst die Narren, die für den Rat reden, gaben es zu. Alles stürzte weg, um ihn zu sehen – alles holte Waffen. Sind Sie betrunken gewesen oder haben Sie geschlafen? Und selbst dann! Aber Sie scherzen! Sicher, Sie tun nur so. Um das Ausrufen der Schwätzmaschinen zu unterbrechen und das Volk am Sammeln zu hindern, haben sie ja die Elektrizität abgedreht und dieses verdammte Dunkel über uns gebracht. Wollen Sie etwa sagen – –?«
»Ich hatte gehört, daß der Schläfer befreit war,« sagte Graham. »Aber – um eine Minute zurückzugreifen. Sind Sie sicher, daß Ostrog ihn hat?«
»Er wird ihn nicht gehen lassen,« sagte der Alte.
»Und der Schläfer. Sind Sie sicher, daß er nicht echt ist? Ich habe nie gehört –«
»Das denken alle Narren. Das denken Sie. Als ob's nicht tausend Dinge gäbe, von denen Sie nie gehört haben. Dazu kenne ich Ostrog zu gut. Hab ich's Ihnen erzählt? Gewissermaßen bin ich eine Art Verwandter von Ostrog. Eine Art Verwandter. Durch meine Schwiegertochter.«
»Ich vermute –«
»Ja?«
»Ich vermute, es ist keine Aussicht, daß dieser Schläfer sich durchsetzt. Ich vermute, er wird sicher eine Marionette sein – in Ostrogs Händen, oder in denen des Rats – wenn der Kampf erst vorüber ist.«
»In Ostrogs Händen – gewiß. Warum sollte er keine Marionette sein? Sehn Sie seine Stellung an. Alles für ihn getan – jeder Genuß möglich. Warum sollte er sich durchsetzen wollen?«
»Was sind diese Freudenstädte?« sagte Graham unvermittelt.
Der Alte ließ ihn die Frage wiederholen. Als er schließlich der Worte Grahams sicher war, gab er ihm einen heftigen Stoß. »Das ist zu viel,« sagte er. »Sie veralbern einen alten Mann. Ich hab mir's gedacht, daß Sie mehr wissen, als Sie vorgeben.«
»Vielleicht,« sagte Graham. »Aber nein! warum sollte ich weiterspielen? Nein, ich weiß nicht, was eine Freudenstadt ist.«
Der Alte lachte auf eine vertrauliche Art.
»Was mehr ist, ich weiß nicht, wie man Ihre Buchstaben liest, ich weiß nicht, was für Geld Sie haben, ich weiß nicht, was für fremde Länder es gibt. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich kann nicht zählen. Ich weiß nicht, wo ich zu essen, zu trinken und Unterkunft finde.«
»Nu hören Sie!« sagte der Alte. »Und wenn Sie nun ein Glas zu trinken hätten, würden Sie sich's ins Auge oder Ohr gießen?«
»Ich möchte, daß Sie mir all das erzählen.«
»Hehe! Na, Herren, die Seide tragen, müssen ihren Ulk haben.« Eine welke Hand streichelte einen Moment Grahams Arm. »Seide. Ja, ja! Aber trotz alledem, ich wollte, ich wäre der Mann, den sie als den Schläfer hingelegt haben. Der wird 'ne schöne Zeit haben. Allen Pomp und alles Vergnügen. Er hat 'n wunderliches Gesicht. Als sie noch jedermann hinließen, ihn anzusehen, hab ich Billets gehabt und bin hingewesen. Genau wie der wirkliche, den man auf Photographien sehen kann, war dieser Untergeschobene. Gelb. Aber man wird ihn herausfüttern. Es ist eine komische Welt. Denken Sie an sein Glück! Sein Glück. Ich denke mir, sie werden ihn nach Capri schicken. Da ist der beste Ulk für 'nen Grünen.«
Sein Husten unterbrach ihn von neuem. Dann begann er neidisch von Vergnügungen und seltsamen Genüssen zu brummen. »Das Glück, das Glück! Mein ganzes Leben lang bin ich in London gewesen und hab gehofft, meine Gelegenheit zu finden.«
»Aber Sie wissen nicht, daß der Schläfer gestorben ist,« sagte Graham plötzlich.
Der Alte ließ ihn seine Worte wiederholen.
»Menschen leben nicht länger als zehn Dutzend. Das liegt nicht in der Ordnung der Dinge,« sagte der Alte. »Ich bin kein Narr. Narren mögen es glauben, aber nicht ich.«
Graham wurde wütend auf die Gewißheit des Alten. »Ob Sie ein Narr sind oder nicht,« sagte er, »mit dem Schläfer haben Sie nun einmal unrecht.«
»Eh?«
»Sie haben unrecht mit dem Schläfer. Ich habe es Ihnen vorhin nicht gesagt, aber ich will es Ihnen jetzt sagen. Sie haben unrecht mit dem Schläfer.«
»Woher wissen Sie das? Ich dachte, Sie wüßten nichts – nicht einmal von den Freudenstädten.«
Graham machte eine Pause.
»Sie können es nicht wissen,« sagte der Alte. »Woher sollen Sie's wissen? Es gibt nur sehr wenige –«
»Ich bin der Schläfer.«
Er mußte es wiederholen.
Es folgte eine kurze Pause. »Das ist einfach albern, Herr, wenn Sie mich entschuldigen wollen. Wenn Sie sowas sagen, das kann Ihnen in 'ner Zeit wie dieser Unruhe schaffen,« sagte der Alte.
Graham wiederholte seine Behauptung leicht verwirrt.
»Ich sagte, ich war der Schläfer. Daß ich tatsächlich vor vielen, vielen Jahren in einem kleinen steinerbauten Dorf einschlief, in den Tagen, als es noch Baumhecken gab und Dörfer und Gasthöfe, und als das ganze Land in kleine Stücke, kleine Felder zerschnitten war. Haben Sie nie von den Tagen gehört? Und ich bin der – Ich, der mit Ihnen spricht – der heut vor vier Tagen erwacht ist.«
»Vor vier Tagen! – der Schläfer! Aber sie haben den Schläfer. Sie haben ihn und werden ihn nicht fortlassen. Unsinn! Bisher haben Sie vernünftig genug geredet. Ich kann's sehen, als wär ich da. Lincoln wird wie ein Schließer grad hinter ihm stehen; sie werden ihn nicht allein herumlaufen lassen. Verlassen Sie sich auf sie. Sie sind 'n komischer Kerl. Einer von diesen Spaßmachern. Jetzt seh ich, warum Sie Ihre Silben so merkwürdig verschluckt haben, aber –«
Er hielt plötzlich inne, und Graham konnte seine Geste sehen.
»Als ob Ostrog den Schläfer allein herumlaufen ließe! Nein, damit sind Sie an den ganz Verkehrten gekommen. Eh! als ob ich's glauben würde. Was wollen Sie denn? Und außerdem, wir haben von dem Schläfer geredet.«
Graham stand auf. »Hören Sie mich an,« sagte er. »Ich bin der Schläfer.«
»Sie sind ein komischer Mensch,« sagte der Alte. »Sitzen hier im Dunkeln, radebrechen und erzählen mir solche Lügen. Aber –«
Grahams Erbitterung löste sich in Lachen. »Es ist absurd,« rief er. »Absurd. Der Traum muß enden. Er wird immer wilder. Hier stehe ich – in diesem verdammten Zwielicht – ich habe noch nie einen Traum im Zwielicht gehabt – ein Anachronismus um zweihundert Jahre, und ich versuche, einen alten Narren zu überzeugen, daß ich ich bin, und inzwischen – Uh!«
Er machte eine Bewegung plötzlicher Gereiztheit und ging mit großen Schritten davon. Im Nu verfolgte ihn der Alte. »Eh! aber gehn Sie doch nicht weg!« rief der Alte. »Ich weiß, ich bin ein alter Narr. Gehn Sie nicht weg. Lassen Sie mich nicht in all dem Dunkel allein!«
Graham zögerte und blieb stehen. Plötzlich blitzte ihm auf, wie töricht es war, daß er sein Geheimnis verraten hatte.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen – wenn ich Ihnen nicht glaubte,« sagte der Alte, als er näher kam. »Es war nicht bös gemeint. Nennen Sie sich den Schläfer, wenn Sie wollen. Es ist ein Narrenstreich –«
Graham zögerte, machte plötzlich kehrt und ging seines Weges weiter.
Eine Zeitlang hörte er die humpelnde Verfolgung des Alten und die schnaufenden Rufe, die mehr und mehr zurückblieben. Aber schließlich verschlang ihn die Dunkelheit, und Graham sah ihn nicht mehr.