Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.
Das Erwachen

Aber darin hatte Warming unrecht. Es kam ein Erwachen.

Was für ein wunderbar kompliziertes Wesen! Diese einfach scheinende Einheit – das Selbst! Wer kann seine Nachbildung verfolgen, wie wir Morgen für Morgen erwachen, den Fluß und Zusammenstrom seiner zahllosen Faktoren, die sich verschlingen und wieder aufbauen, die dunklen, ersten Regungen der Seele, das Wachstum und die Synthese des Unbewußten zum Unterbewußten, des Unterbewußten zur dämmernden Bewußtheit, bis wir uns schließlich selber wiedererkennen. Und wie es den meisten von uns nach dem Schlaf der Nacht geht, so war es mit Graham am Schluß seines ungeheuren Schlafes. Eine dunkle Wolke der Empfindung, die Gestalt annahm, eine wolkige Öde, und er fühlte sich unbestimmt irgendwo, wo er lag, schwach, aber lebendig.

Die Pilgerfahrt zu einem persönlichen Sein schien durch ungeheure Abgründe zu gehen, Epochen zu dauern. Gigantische Träume, die zu der Zeit furchtbare Wirklichkeiten waren, hinterließen unbestimmte, verwirrende Erinnerungen seltsamer Geschöpfe, seltsamer Landschaft, wie von einem andern Planeten. Auch ein deutlicher Eindruck von einer gewichtigen Unterhaltung war vorhanden, von einem Namen – er konnte nicht sagen, von welchem Namen – der später wieder auftauchen sollte, von einer wunderlichen, lang vergessenen Empfindung der Adern und Muskeln, von einem Gefühl riesiger, hoffnungsloser Anstrengung, der Anstrengung eines Menschen, der im Dunkeln nahezu ertrinkt. Dann kam ein Panorama von blendenden, unstabilen, verschwimmenden Szenen.

Graham merkte, daß seine Augen offen waren und etwas Ungewohntes ansahen.

Es war etwas Weißes, irgendein Rand, ein Holzrahmen. Er bewegte den Kopf ein wenig, indem er dem Umriß dieses Gegenstandes folgte. Er ging über den Bereich seiner Augen hinaus. Er versuchte nachzudenken, wo er sein mochte. Kam es darauf an, wo er so elend war? Die Farbe seiner Gedanken war die düsterer Depression. Er fühlte das ausdruckslose Elend dessen, der gegen die Stunde der Dämmerung aufwacht. Er hatte die unbestimmte Empfindung, daß Geflüster und Schritte sich rasch entfernten.

Die Bewegung seines Kopfes deutete auf das Bewußtsein äußerer physischer Schwäche. Er nahm an, er liege im Bett des Hotels in dem Ort im Tal – aber er konnte sich nicht auf den weißen Rand besinnen. Er mußte geschlafen haben. Er erinnerte sich jetzt, daß er hatte schlafen wollen. Er entsann sich wieder der Klippe und des Wasserfalls, und dann besann er sich auf etwas wie ein Gespräch mit einem Vorübergehenden ...

Wie lange hatte er geschlafen? Was war das für ein Geräusch von klappernden Füßen? Und dies Steigen und Fallen, wie das Murmeln brechender Wellen und Kiesel? Er streckte seine matte Hand aus, um seine Uhr von dem Stuhl zu nehmen, auf den es seine Gewohnheit gewesen war, sie zu legen, und er berührte eine glatte harte Oberfläche, etwas wie Glas. Das war so unerwartet, daß es ihn außerordentlich erschreckte. Ganz plötzlich wälzte er sich herum, starrte einen Moment um sich und arbeitete sich dann in eine sitzende Stellung empor. Die Anstrengung war unerwartet schwer, und er war schwindlig und schwach – und verblüfft.

Er rieb sich die Augen. Das Rätsel seiner Umgebung war verwirrend, aber sein Geist war ganz klar – offenbar hatte sein Schlaf ihm wohlgetan. Er lag überhaupt in keinem Bett, wie er das Wort verstand, sondern er lag nackt auf einer sehr weichen und nachgiebigen Matratze in einer Mulde aus dunklem Glas. Die Matratze war zum Teil durchsichtig, eine Tatsache, die er mit einem seltsamen Gefühl der Unsicherheit beobachtete, und darunter lag ein Spiegel, der ihn grau zurückwarf. Um seinen Arm – und er sah mit einem Schreck, daß seine Haut seltsam trocken und gelb war – war ein merkwürdiger Gummiapparat gebunden, so kunstvoll gebunden, daß er oben und unten in die Haut überzugehen schien. Und dieses seltsame Bett lag in einem Gehäuse aus grünlich gefärbtem Glas (wie ihm schien), zu dessen weißem Rahmenwerk die Leiste gehörte, die zuerst seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Im Winkel des Gehäuses stand ein Ständer mit glitzernden und fein gearbeiteten Apparaten, zum größten Teil ihm ganz fremdartigen Erfindungen, obgleich er ein Maximal- und Minimalthermometer erkannte.

Der leicht grünliche Ton der glasartigen Substanz, die ihn auf allen Seiten umgab, verdunkelte, was dahinter lag, aber er sah, daß es ein riesiges Gemach von prachtvoller Architektur war, das ihm gegenüber einen sehr großen und einfachen weißen Bogendurchgang zeigte. Nah an den Wänden seines Käfigs standen Einrichtungsgegenstände, ein mit einem silbrigen Tuch gedeckter Tisch – silbrig wie die Seite eines Fisches, ein Paar anmutiger Stühle, und auf dem Tisch eine Anzahl von Schüsseln, auf denen allerlei lag, eine Flasche und zwei Gläser. Er wurde sich bewußt, daß er intensiven Hunger hatte.

Er konnte kein menschliches Wesen sehen, und nach einer Zeit des Zögerns kletterte er von der durchscheinenden Matratze herunter und versuchte auf dem sauberen, weißen Boden seines kleinen Gemaches zu stehen. Er hatte sich jedoch mit seiner Kraft verrechnet, stolperte und streckte die Hand nach einer glasartigen Scheibe aus, um sich zu stützen. Einen Moment widerstand sie seiner Hand, indem sie sich wie eine aufgeblasene Blase nach außen bog, dann zerbrach sie mit einem leisen Knall und verschwand – wie eine angestochene Seifenblase. Er taumelte in den Raum der Halle hinaus. Er war sehr erstaunt. Er griff nach dem Tisch, um sich zu halten und warf dabei eins der Gläser zu Boden – es klang, zerbrach aber nicht. Dann setzte er sich in einen der Sessel.

Als er sich ein wenig erholt hatte, füllte er das andere Glas aus der Flasche und trank – es war eine farblose Flüssigkeit, aber kein Wasser – von angenehmem, leichtem Aroma und Geschmack und unmittelbar kräftigend und anregend. Er setzte das Gefäß hin und blickte sich um.

Das Gemach verlor nichts an Größe und Pracht, jetzt, wo der grüne, durchscheinende Stoff, der dazwischen gelegen hatte, beseitigt war. Der Bogen, den er sah, führte zu einer Treppenflucht, die ohne trennende Tür zu einem geräumigen Quergang hinabführte. Dieser Gang lief zwischen polierten Pfeilern aus einer weißgeäderten, tief ultramarinblauen Substanz hin und von dort drang der Schall menschlicher Bewegungen und Stimmen, und ein tiefer, unablässiger, summender Ton herauf. Er saß jetzt völlig wach da und lauschte aufmerksam; er vergaß in seiner Spannung die Speisen.

Dann besann er sich mit einem Schreck, daß er nackt war, und als er sich nach einer Bedeckung umblickte, sah er ein langes, schwarzes Gewand, das auf einen der Stühle neben ihm geworfen war. Das hüllte er um sich und setzte sich zitternd wieder nieder.

Sein Geist war noch immer eine wogende Verwirrung. Offenbar hatte er geschlafen und war in seinem Schlaf anderswohin gebracht worden. Aber wohin? Und wer waren diese Menschen, die ferne Menge hinter den tiefblauen Pfeilern? Boscastle? Er schenkte sich ein zweites Glas von der farblosen Flüssigkeit ein und trank es halb aus.

Was für ein Ort war dies? Dieser Ort, der seinen Sinnen so fein wie ein lebendig Ding zu beben schien? Er blickte um sich auf die saubere und schöne Form des Gemachs, das durch keinen Zierat befleckt wurde, und sah, daß das Dach an einer Stelle von einem kreisrunden Schacht voller Licht durchbrochen wurde, und während er hinsah, kam ein stetiger, fliegender Schatten und löschte es aus und verschwand, und kam wieder und verschwand wieder. »Schlag, Schlag;« dieser Schatten hatte in dem gedämpften Tumult, der die Luft erfüllte, einen eigenen Ton.

Er wollte rufen, aber seiner Kehle entrang sich nur ein leiser Ton. Dann stand er auf, und mit den unsicheren Schritten eines Betrunkenen ging er auf das Bogentor zu. Er stolperte die Stufen hinunter, trat auf einen der Zipfel des schwarzen Mantels, den er um sich geschlungen hatte, und hielt sich aufrecht, indem er nach einem der blauen Pfeiler griff.

Der Gang lief an einer kühlen Halle aus Blau und Purpur hin und endete fern in einem wie ein Balkon umfriedigten Raum, der hell erleuchtet war und in einen Raum des Nebels vorsprang, einen Raum, der dem Inneren eines gigantischen Baues glich. Dahinter und in der Ferne sah er riesige und unbestimmte Architekturformen. Der Tumult der Stimmen stieg jetzt laut und klar herauf, und auf dem Balkon standen, den Rücken ihm zugekehrt, gestikulierend und offenbar in lebhafter Unterhaltung, drei reich in lose und leichte Gewänder von hellen, weichen Farben gekleidete Gestalten. Der Lärm einer großen Volksmenge strömte über den Balkon herauf, und einmal schien es, als ziehe die Spitze eines Banners vorüber und einmal blitzte ein hellfarbener Gegenstand, vielleicht eine in die Luft geworfene blaßblaue Mütze oder ein Gewand quer über den offenen Raum und fiel wieder nieder. Die Rufe klangen wie Englisch: das Wort »Erwache!« kam häufig vor. Er hörte einen undeutlichen schrillen Schrei, und plötzlich begannen diese drei Männer zu lachen.

»Ha, ha, ha!« lachte einer – ein rothaariger Mensch in einem kurzen Purpurgewand. »Wenn der Schläfer erwacht – Wenn!«

Er wandte die Augen lachend den Gang entlang. Sein Gesicht verwandelte sich, der ganze Mensch verwandelte sich, wurde starr. Die beiden anderen wandten sich auf seinen Ausruf rasch um und standen reglos da. Ihre Gesichter nahmen den Ausdruck der Bestürzung an, einen Ausdruck, der sich bis zur Scheu vertiefte.

Plötzlich knickten Grahams Knie unter ihm zusammen, sein gegen den Pfeiler gelehnter Arm sank schlaff herab, er taumelte vorwärts und fiel aufs Gesicht.


 << zurück weiter >>