Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8.
Die Dachräume

Wie die Fächer in der runden Öffnung des inneren Zimmers rotierten und Blicke der Nacht einließen, trieben zugleich auch dunkle Töne damit herein. Und Graham, der darunter stand und unklar mit den unbekannten Mächten rang, die ihn gefangen hielten, und die er jetzt ausdrücklich herausgefordert hatte, erschrak über den Ton einer Stimme.

Er blickte hinauf und sah in den Intervallen der Rotation dunkel und undeutlich das Gesicht und die Schultern eines Mannes, der ihn anblickte. Dann wurde eine dunkle Hand ausgestreckt, der rasche Fächer traf sie und schlug mit einem kleinen, bräunlichen Fleck auf dem Rand seines dünnen Blattes weiter, und es begann von da aus etwas auf den Boden zu fallen, still zu tröpfeln.

Graham blickte hinunter, und zu seinen Füßen waren Blutflecke. Er blickte in seltsamer Aufregung noch einmal in die Höhe. Die Gestalt war fort.

Er blieb regungslos stehen – jeden Sinn gespannt auf den flackernden Fleck des Dunkels, denn draußen war tiefe Nacht. Er wurde auf ein paar blasse, ferne, dunkle Flecke aufmerksam, die leicht durch die äußere Luft hinschwebten. Sie kamen zu ihm herab, mutwillig, wirbelnd, und sie flogen vor dem Luftstrom des Fächers zur Seite. Ein Lichtstrahl flackerte, die Flecken blitzten weiß auf, und dann kehrte das Dunkel zurück. Warm und beleuchtet, wie er war, sah er, daß es nur wenige Fuß von ihm entfernt schneite.

Graham ging durchs Zimmer und kehrte zu dem Ventilator zurück. Er sah den Kopf eines Mannes nahe vorübergleiten. Er hörte einen Flüsterton. Dann ein scharfer Schlag auf eine metallische Substanz, Anstrengung, Stimmen, und die Fächer standen still. »Fürchten Sie sich nicht,« sagte eine Stimme.

Graham stand unter dem Fächer. »Wer sind Sie?« flüsterte er.

Einen Moment hörte er nichts als ein Schwingen des Fächers, und dann wurde vorsichtig der Kopf eines Menschen in die Öffnung geschoben. Sein Gesicht erschien Graham fast umgekehrt; sein dunkles Haar war naß von schmelzenden Schneetropfen darauf. Sein Arm stieg ins Dunkel hinaus und hielt etwas Unsichtbares gefaßt. Er hatte ein jugendliches Gesicht und glänzende Augen, und die Adern seiner Stirn waren geschwollen. Er schien sich anzustrengen, um sich in seiner Stellung zu halten.

Mehrere Sekunden lang sprachen weder er noch Graham.

»Sie waren der Schläfer?« sagte der Fremde schließlich.

»Ja,« sagte Graham. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich komme von Ostrog, Sire.«

»Ostrog?«

Der Mann im Ventilator drehte den Kopf herum, so daß er Graham das Profil zuwandte. Er schien zu lauschen. Plötzlich folgte ein rascher Ausruf, und der Eindringling sprang gerade noch zur Zeit zurück, um dem Schlag des losgelassenen Fächers zu entgehen. Und als Graham hinaufspähte, war nichts als der langsam fallende Schnee zu sehen.

Es dauerte wohl eine Viertelstunde, ehe wieder etwas in den Ventilator kam. Aber zuletzt ertönte dieselbe metallische Störung von neuem; die Fächer standen still, und das Gesicht erschien von neuem. Graham war die ganze Zeit auf derselben Stelle stehen geblieben, wach und in zitternder Aufregung.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« sagte er.

»Wir wollen mit Ihnen reden, Sire,« sagte der Eindringling. »Wir wollen – ich kann das Ding nicht halten. Wir haben diese drei Tage hindurch fortwährend versucht, einen Weg zu Ihnen zu finden.«

»Ist es Befreiung?« flüsterte Graham. »Flucht?«

»Ja, Sire. Wenn Sie wollen.«

»Sie sind meine Partei – die Partei des Schläfers?«

»Ja, Sire.«

»Was soll ich tun?«

Es folgte ein Ringen. Der Arm des Fremden erschien, und seine Hand blutete. Seine Knie wurden über dem Rand des Luftschachtes sichtbar. »Treten Sie zurück,« sagte er und fiel Graham zu Füßen; er fiel ziemlich schwer auf seine Hände und eine Schulter. Der losgelassene Ventilator wirbelte geräuschvoll. Der Fremde überschlug sich, sprang behend auf und stand atemlos da, die Hand an der gequetschten Schulter und die Augen hell auf Graham gerichtet.

»Sie sind wirklich der Schläfer,« sagte er. »Ich habe Sie schlafen gesehen. Als es Gesetz war, daß jeder Sie sehen durfte.«

»Ich bin der Mann, der im Starrkrampf gelegen hat,« sagte Graham. »Sie haben mich hier gefangen gesetzt. Ich bin seit meinem Erwachen hier – wenigstens drei Tage.«

Der Eindringling schien sprechen zu wollen, hörte etwas, warf einen raschen Blick auf die Tür, ließ Graham plötzlich stehen und lief auf sie zu, indem er rasche, zusammenhanglose Worte rief. Ein glänzender Stahlkeil blitzte ihm in der Hand, und er begann Tick, Tack, eine rasche Folge von Schlägen auf die Angeln. »Achtung!« rief eine Stimme. »O!« Die Stimme kam von oben.

Graham blickte hinauf, sah die Sohlen zweier Füße, duckte sich, wurde von einem auf die Schulter getroffen, und ein schweres Gewicht warf ihn zu Boden. Er fiel auf die Knie und nach vorn, und das Gewicht stürzte ihm über den Kopf. Er kniete auf und sah einen zweiten Menschen von oben vor sich sitzen.

»Ich sah Sie nicht, Sire,« keuchte der Mann. Er stand auf und half Graham beim Aufstehen. »Sind Sie verletzt, Sire?« keuchte er. Es begann eine Folge schwerer Schläge auf den Ventilator, dicht neben Grahams Gesicht fiel etwas nieder, und ein bebender Rand weißen Metalls tanzte, überschlug sich und blieb dann flach am Boden liegen.

»Was ist dies?« rief Graham verwirrt mit einem Blick nach den Ventilatoren. »Wer sind Sie? Was wollen Sie beginnen? Bedenken Sie, ich verstehe nichts von allem.«

»Treten Sie zurück,« sagte der Fremde und zog ihn unter den Ventilatoren fort, als wieder ein Metallstück schwer zu Boden stürzte.

»Wir wollen, daß Sie mitkommen, Sire,« keuchte der Neuangekommene, und Graham, der ihm wieder ins Gesicht blickte, sah, daß auf seiner Stirn ein frischer Schnitt von weiß zu rot übergegangen war, und daß ein paar kleine Bluttropfen aus ihm herausliefen. »Ihr Volk ruft nach Ihnen.«

»Mitkommen, wohin? Mein Volk?«

»Zu den Hallen um die Märkte. Hier ist Ihr Leben in Gefahr. Wir haben Spione. Wir erfuhren es nur gerade rechtzeitig. Der Rat hat – eben heute – entschieden, Sie entweder zu narkotisieren oder zu töten. Und alles ist bereit. Das Volk ist gedrillt, die Windfahnenpolizei, die Ingenieure und die Hälfte der Straßenlenker sind mit uns. Wir haben die Hallen gedrängt voll – alles ruft. Die ganze Stadt schreit gegen den Rat. Wir haben Waffen.« Er wischte sich mit der Hand das Blut ab. »Hier ist Ihr Leben keinen –«

»Aber warum Waffen?«

»Das Volk hat sich erhoben, Sie zu schützen, Sire. Was?«

Er drehte sich rasch um, als der Mann, der zuerst heruntergekommen war, durch die Zähne zischte. Graham sah ihn zurückfahren, ihnen Zeichen machen, sich zu verbergen, und sich bewegen, als wolle er sich hinter der aufgehenden Tür verstecken.

Als er das tat, erschien Howard, ein kleines Tablett in der Hand, das schwere Gesicht niedergebeugt. Er fuhr zusammen, blickte auf, die Tür schlug hinter ihm zu, das Tablett kippte zur Seite und das Stahlbeil traf ihn hinterm Ohr. Er stürzte wie ein gefällter Baum und blieb quer überm Boden des äußeren Zimmers liegen. Der Mann, der ihn getroffen hatte, bückte sich eilig, studierte einen Moment sein Gesicht, sprang auf und kehrte zu seiner Arbeit an der Tür zurück.

»Ihr Gift!« sagte Graham eine Stimme ins Ohr.

Dann waren sie plötzlich im Dunkeln. Die unzähligen Simslampen waren verlöscht. Graham sah die Öffnung des Ventilators mit dem geisterhaft darüber wirbelnden Schnee und mit dunklen Gestalten, die sich rasch bewegten. Drei knieten auf dem Flügel. Etwas Undeutliches – eine Leiter – wurde durch die Öffnung herabgelassen und eine Hand erschien, die ein flackerndes gelbes Licht hielt.

Er zögerte einen Moment. Aber das Wesen dieser Männer, ihre rasche Beweglichkeit, ihre Worte gingen so vollständig mit seiner eigenen Furcht vor dem Rat zusammen, mit seinem Gedanken und seiner Hoffnung auf Flucht, daß es keinen Moment dauerte. Und sein Volk erwartete ihn!

»Ich verstehe nicht,« sagte er. »Ich vertraue Ihnen. Sagen Sie mir, was zu tun ist.«

Der Mann mit der aufgeschnittenen Stirn faßte Graham am Arm. »Klettern Sie die Leiter hinauf,« flüsterte er. »Schnell. Sie müssen uns gehört haben –«

Graham tastete mit ausgestreckten Händen nach der Leiter, setzte den Fuß auf die unterste Sprosse und sah, als er den Kopf umdrehte, über die Schultern des nächsten Mannes hinweg, im gelben Flackern des Lichtes, den ersten gespreizt über Howard stehen und noch an der Tür arbeiten. Graham wandte sich wieder zur Leiter und wurde von seinem Führer gedrängt und von denen oben gehoben, und dann stand er auf etwas Hartem und Kaltem und Glitschigem außerhalb des Ventilationsschachtes.

Ihn schauderte. Er wurde sich eines großen Temperaturunterschieds bewußt. Ein halbes Dutzend Männer stand um ihn, und leichte Schneeflocken berührten ihm Hände und Gesicht und schmolzen. Einen Moment war es dunkel, dann ein Blitz von gespenstisch violettem Weiß, und dann war alles wieder dunkel.

Er sah, daß er auf das Dach des riesigen Stadtbaus heraufgekommen war, der an die Stelle der wirren Häuser, Straßen und offenen Plätze des viktorianischen Londons getreten war. Der Ort, wo er stand, war eben, und riesige Kabel lagen in allen Richtungen gewunden da. Die runden Räder einer Menge Windmühlen ragten undeutlich und gigantisch durch das Dunkel und den Schneefall und brüllten mit wechselnder Tonkraft, je wie der stoßweise Wind sich hob und legte. Eine Strecke weit entfernt schoß ein intermittierendes Licht von unten herauf, tauchte die Schneewirbel in ein flüchtiges Glitzern und schuf ein schwindendes Gespenst in der Nacht; und hier und dort, weit unten, flackerte eine vag umrissene windgetriebene Maschine mit fahlen Funken.

All dies würdigte er auf eine fragmentarische Art, als seine Befreier ihn umstanden. Irgend jemand warf ihm einen dicken, weichen Mantel von pelzartiger Textur um und befestigte ihn über Hüften und Schultern mit Schnallengurten. Man sprach kurz, entscheidend. Jemand schob ihn vorwärts.

Ehe noch seine Gedanken klar wurden, faßte ihn eine dunkle Gestalt am Arm. »Hier entlang,« sagte diese Gestalt und drängte ihn vorwärts, indem sie Graham in der Richtung auf einen dunklen, halbkreisförmigen Lichtnebel zu über das flache Dach wies. Graham gehorchte.

»Achtung!« sagte eine Stimme, als Graham über die Kabel stolperte. »Zwischen ihnen hin, nicht über sie weg,« sagte die Stimme. Und: »Wir müssen eilen.«

»Wo ist das Volk?« sagte Graham. »Das Volk, sagten Sie, erwartet mich?«

Der Fremde antwortete nicht. Er ließ Grahams Arm los, als der Pfad enger wurde, und führte mit raschen Schritten. Graham folgte blind. In einer Minute merkte er, daß er lief. »Kommen die anderen?« keuchte er, erhielt aber keine Antwort. Sein Gefährte blickte zurück und lief weiter. Sie kamen zu einer Art Pfad aus durchbrochener Metallarbeit, der zu der Richtung, die sie gekommen waren, quer stand. Sie schwenkten ab und folgten ihm. Graham blickte zurück, aber der Schneesturm hatte die anderen verborgen.

»Kommen Sie!« sagte sein Führer. Sie liefen weiter und kamen an eine kleine Windmühle, die hoch in der Luft wirbelte. »Bücken Sie sich,« sagte Grahams Führer, und sie wichen einem endlosen Laufriemen aus, der brüllend zur Welle des Windrads hinauflief. »Hier entlang!« und sie traten knöcheltief in eine Gasse auftauenden Triebschnees zwischen zwei niedrigen Metallwänden, die sich bald brusthoch erhoben. »Ich will vorangehen,« sagte der Führer. Graham zog den Mantel fester um sich und folgte. Dann kam plötzlich ein schmaler Abgrund, über den die Rinne in das schneeige Dunkel der anderen Seite hinwegsprang. Graham blickte einmal über den Rand, und der Abgrund war schwarz. Einen Moment bedauerte er seine Flucht. Er wagte nicht, wieder hinzublicken, und der Kopf schwamm ihm, als er durch den halbflüssigen Schnee dahinwatete.

Dann kletterten sie aus der Rinne hinauf und eilten über einen weiten flachen Raum, der von tauendem Schnee naß war und nach der Mitte zu dunkel Lichter durchscheinen ließ, die sich darunter hin und her bewegten. Er zögerte vor dieser unsicher aussehenden Substanz, aber sein Führer lief weiter, ohne darauf zu achten, und so kamen sie auf schlüpfrigen Stufen, die sie hinaufkletterten, zum Rand einer großen Glaskuppel. Die umgingen sie. Weit unten schienen eine Menge von Leuten zu tanzen, und durch die Kuppel sickerte Musik herauf ... Graham meinte, durch den Schneesturm ein Rufen zu hören, und sein Führer trieb ihn mit einer neuen Anspannung der Eile vorwärts. Sie kletterten atemlos zu einem Raum riesiger Windmühlen hinauf, von denen eine so ungeheuer war, daß der untere Rand ihrer Fächer ins Gesichtsfeld fegte und wieder hinauffegte und sich in der Nacht und im Schnee verlor. Sie eilten eine Zeitlang über das kolossale metallene Stabwerk ihres Unterbaus weiter und kamen schließlich über einen Platz mit gleitenden Plattformen, dem Platz gleich, auf den Graham von dem Balkon aus hinabgeblickt hatte. Sie krochen über die abschüssige durchsichtige Masse, die diese Plattformstraße eindeckte, krochen auf Händen und Füßen, weil der Schnee alles schlüpfrig gemacht hatte.

Meist war das Glas betaut, und Graham sah nur neblige verzerrte Umrisse von den Gestalten unten, aber in der Nähe des Firstes war das Glas des durchsichtigen Daches klar, und er blickte senkrecht auf das alles nieder. Eine Zeitlang gab er trotz des Drängens seines Führers dem Schwindel nach und blieb, übel gelähmt, gespreizt auf dem Glase liegen. Weit unten ging das Volk der schlaflosen Stadt – bloße Punkte und Flecken in Bewegung – in seinem ewigen Tageslicht, und die gleitenden Plattformen liefen auf ihrer unaufhörlichen Reise dahin. Boten und Menschen mit unbekannten Zielen schossen die hängenden Kabel entlang, und die gebrechlichen Brücken waren gedrängt voll Menschen. Es war, als blicke er in einen riesigen Bienenkorb aus Glas hinab, und er lag senkrecht darüber, und nur ein zähes Glas von unbekannter Dicke schützte ihn vor einem Sturz. Die Straße war warm und hell, und Graham war jetzt vom tauenden Schnee bis auf die Haut naß, und die Füße waren ihm vor Kälte taub. Eine Zeitlang konnte er sich nicht rühren. »Kommen Sie!« rief sein Führer mit Schrecken in der Stimme. »Kommen Sie!«

Graham erreichte mit Mühe den First des Daches.

Als er hinüber war, folgte er dem Beispiel seines Führers, drehte sich um und glitt den anderen Hang unter einer kleinen Schneelawine sehr rasch hinunter. Während des Gleitens dachte er daran, was geschehen würde, wenn auf dem Wege eine Lücke gebrochen wäre. Am Rande stolperte er auf die Füße, die bis an die Knöchel im Schneeschlamm standen, und dankte dem Himmel, daß er wieder auf undurchsichtigem Boden stand. Sein Führer kletterte schon ein metallenes Blendgitter zu einer ebenen Fläche hinauf.

Durch die selteneren Schneeflocken darüber ragte wieder eine Linie riesiger Windmühlen, und dann durchdrang plötzlich den gestaltlosen Aufruhr der rotierenden Räder ein betäubender Ton. Es war ein mechanisches Schrillen von außerordentlicher Intensität, das von allen Punkten des Kompasses zugleich zu kommen schien.

»Sie haben uns schon vermißt!« rief Grahams Führer im Ton des Schreckens, und plötzlich wurde die Nacht in einem blendenden Blitz zum Tag.

Über dem treibenden Schnee erschienen auf der Höhe der Windräder riesige Masten, die Kugeln lebhaften Lichtes trugen. Sie zogen sich in jeder Richtung in unbegrenzten Reihen hin. So weit sein Auge den Schneefall durchdringen konnte, glänzten sie.

»Da hinauf,« rief Grahams Führer und stieß ihn zu einem langen Gitter schneefreien Metalls vorwärts, das wie ein Band zwischen zwei leicht geneigten Schneeflächen hinlief. Es kam Grahams tauben Füßen warm vor, und ein leichter Dampfwirbel stieg von ihm auf.

»Weiter!« rief sein Führer zehn Meter voraus und lief, ohne zu warten, rasch durch den glühenden Glanz auf den eisernen Unterbau der nächsten Reihe von Windmühlen zu. Graham, der sich von seinem Staunen erholte, folgte ebenso schnell, überzeugt von seinem drohenden Fang ...

In ein paar Sekunden standen sie auf einem Maßwerk aus Licht und schwarzen Schatten, die mit beweglichen Stangen durchschossen waren, unter den ungeheuren Rädern. Grahams Führer lief eine Weile weiter, schoß plötzlich zur Seite und verschwand in einem schwarzen Schatten an der Ecke des Fußes eines riesigen Stützbaus. Im nächsten Moment war Graham neben ihm.

Sie kauerten atemlos nieder und starrten hinaus.

Die Szene, auf die Graham blickte, war sehr wild und unheimlich. Das Schneien hatte jetzt fast völlig aufgehört; nur hin und wieder flog noch eine verspätete Flocke über das Bild. Aber die breite ebene Fläche vor ihm war ein gespenstisches Weiß, das nur von gigantischen Massen und sich bewegenden Gestalten und langen Streifen undurchdringlichen Dunkels, riesigen, ungestalten Schattentitanen, unterbrochen war. Rings um sie verschlangen sich ungeheure Metallkonstruktionen und eiserne Strebepfeiler, unmenschlich groß, so schien es ihm, und die Räder von Windmühlen, die sich in der eingetretenen Stille kaum noch bewegten, zogen in großen, leuchtenden Kurven steiler und steiler hinauf in einen leuchtenden Nebel. Wohin auch das schneeschimmernde Licht fiel, zogen Balken und Strebepfeiler und endlose Laufriemen, die mit einer zögernden, unbezähmbaren Entschlossenheit liefen, ins Schwarze hinauf und hinab. Und trotz all dieser gewaltigen Aktivität, trotz eines allgegenwärtigen Gefühls von Grund und Absicht schien diese schneebekleidete Maschinenwüste doch, abgesehen von ihnen selber, menschenleer, sie schien so pfadlos und verlassen, vom Menschen so unbesucht wie ein unzugängliches alpines Schneefeld.

»Sie werden uns jagen,« rief der Führer. »Wir sind kaum erst halb hin. So kalt es ist, wir müssen uns hier eine Zeitlang verbergen, wenigstens, bis es wieder dichter schneit.«

Die Zähne klapperten ihm im Kopf.

»Wo sind die Märkte?« fragte Graham und spähte hinaus. »Wo ist all das Volk?«

Der andere gab keine Antwort.

» Sehn Sie!« flüsterte Graham, kauerte sich niedrig hin und wurde sehr still.

Der Schnee war plötzlich wieder dicht geworden, und mit den kreisenden Wirbeln kam aus dem schwarzen Nichts des Himmels vag und groß und sehr schnell etwas hergeglitten. Es kam in einer steilen Kurve herab und fegte herum, weite Flügel gespreizt und hinter sich einen Schweif weißen Dampfes, der sich kondensierte; es stieg mit leichter Geschwindigkeit und glitt die Luft wieder empor, fegte wagerecht in weiter Kurve nach vorn und verschwand wieder in den dampfenden Schneeflocken. Und durch die Rippen seines Körpers sah Graham zwei kleine Menschen, sehr winzig und beweglich, die die schneeigen Flächen um ihn, wie ihm schien, mit Feldgläsern absuchten. Eine Sekunde waren sie klar, dann durch einen dichten Schneewirbel neblig, dann nur noch klein und fern zu sehen, und in einer Minute waren sie verschwunden.

» Jetzt!« rief sein Gefährte. »Kommen Sie!«

Er zog Graham am Ärmel und alsbald liefen die beiden jäh den Bogengang von Eisenwerk unter den Windrädern entlang. Graham lief blind darauf los und prallte auf seinen Führer, der sich plötzlich zu ihm zurückgewandt hatte. Er sah sich zwölf Meter vor einem schwarzen Schlund, der sich, so weit er sehen konnte, nach rechts und links hin dehnte. Er schien ihren Fortschritt in beiden Richtungen abzuschneiden.

»Tun Sie wie ich,« flüsterte sein Führer. Er legte sich hin und kroch an den Rand, schob den Kopf hinüber und bog ein Bein hinab. Er schien mit dem Fuß nach etwas zu tasten, fand es und glitt über den Rand in den Abgrund hinunter. Sein Kopf erschien wieder. »Es ist eine Randleiste,« flüsterte er. »Im Dunkeln den ganzen Weg hin. Tun Sie wie ich.«

Graham zögerte, warf sich auf alle Viere, kroch bis an den Rand und spähte in ein samtenes Schwarz. Einen Moment hatte er weder Mut vorwärts noch rückwärts zu gehen, dann setzte er sich, ließ das Bein hinunterhängen, fühlte die Hände seines Führers an sich ziehen, hatte das furchtbare Gefühl, er glitte über den Rand in das Unermeßliche, schlug auf und fühlte sich in einer schlammigen Rinne in undurchdringlichem Dunkel.

»Hier entlang,« flüsterte die Stimme, und er begann durch den nassen, tauenden Schnee die Rinne entlang zu schleichen, indem er sich gegen die Mauer drückte. Sie gingen einige Minuten in ihr weiter. Ihm war, er mache hundert Stufen des Elends durch, mache Minute für Minute hundert Grade der Kälte, Nässe und Erschöpfung durch. In kurzem fühlte er Hände und Füße nicht mehr.

Die Rinne führte abwärts. Er sah, daß sie jetzt viele Fuß unter dem Rand der Gebäude waren. Reihen gespenstischer weißer Formen, den Geistern verhängter Fenster gleich, erhoben sich über ihnen. Sie kamen zu dem Ende eines über einem dieser weißen Fenster befestigten Kabels, das, nur matt sichtbar, in undurchdringliche Schatten hinabfiel. Plötzlich traf seine Hand die seines Führers. » Still!« flüsterte der letztere sehr leise.

Er blickte erschreckt nach oben und sah die riesigen Flügel der Flugmaschine langsam und geräuschlos zu Häupten über das breite Band des schneebefleckten graublauen Himmels gleiten. In einem Moment war sie wieder verborgen.

»Bleiben Sie still; sie wenden nur.«

Eine Weile blieben beide regungslos, dann stand Grahams Gefährte auf, griff nach den Befestigungen des Kabels und arbeitete an einem undeutlichen Takelwerk herum.

»Was ist das?« fragte Graham.

Die einzige Antwort war ein leiser Schrei. Der Mann kauerte sich reglos hin. Graham spähte und sah sein Gesicht undeutlich. Er starrte das lange Himmelsband hinunter, und Graham folgte seinen Augen und sah die Flugmaschine klein und blaß und fern. Dann sah er, wie sich die Flügel zu beiden Seiten ausdehnten, wie sie auf sie zu wendete, wie sie jeden Moment größer wurde. Sie folgte dem Rand des Abgrunds auf sie zu.

Die Bewegungen des Mannes wurden krampfhaft. Er warf Graham zwei Querstangen in die Hand. Graham konnte sie nicht sehen, er fühlte ihre Form. Sie hingen an dünnen Schnüren am Kabel. Auf der Schnur waren Handgriffe aus einer elastischen Substanz. »Stecken Sie sich das Kreuz zwischen die Beine,« flüsterte der Führer hysterisch, »und fasten Sie die Handgriffe. Fassen Sie fest, fassen Sie!«

Graham tat, wie ihm gesagt wurde.

»Springen Sie,« sagte die Stimme. »In des Himmels Namen, springen Sie!«

Einen bedeutungsvollen Moment lang konnte Graham nicht reden. Er war nachher froh, daß ihm das Dunkel das Gesicht verborgen hatte. Er sagte nichts. Er begann heftig zu zittern. Er blickte seitwärts auf den schnellen Schatten, der den Himmel verschlang, wie er auf ihn zu stürzte.

»Springen Sie! Springen Sie – in Gottes Namen! Oder sie haben uns,« rief Grahams Führer und stieß ihn in der Heftigkeit seiner Leidenschaft nach vorn.

Graham stolperte krampfhaft, stieß einen schluchzenden Schrei aus, einen unwillkürlichen Schrei, und fiel dann, als die Flugmaschine über sie wegfegte, nach vorn in diesen Abgrund des Dunkels, sitzend auf dem Kreuzholz, die Schnüre mit dem Griff des Todes in den Händen. Irgend etwas krachte, etwas schlug scharf gegen eine Mauer. Er hörte die Rolle der Wiege auf dem Kabel summen. Er hörte die Luftschiffer rufen. Er fühlte, wie sich ihm ein paar Knie in den Rücken gruben ... Er fegte jäh durch die Luft, fiel durch die Luft. All seine Kraft lag in den Händen. Er hätte geschrien, aber er hatte keinen Atem.

Er schoß in ein blendendes Licht, unter dem er fester zugriff. Er erkannte den großen Weg mit den gleitenden Straßen, die hängenden Lichter und die verschlungenen Strebepfeiler. Sie stürzten empor und an ihm vorbei. Er war wieder im Dunkel und fiel und fiel; er hielt sich mit schmerzenden Händen fest und siehe! ein Schall, ein Lichtstrom, und er war in einer hell erleuchteten Halle mit einer brüllenden Volksmenge zu seinen Füßen.

Das Volk! Sein Volk! Ein Proszenium, eine Bühne stürzte zu ihm empor, und sein Kabel fegte zu einer runden Öffnung rechts davon hinunter. Er fühlte, daß er langsamer flog und dann plötzlich sehr viel langsamer. Er unterschied Rufe: »Gerettet! Der Meister. Er ist gerettet!« Die Bühne stürzte mit rasch geringer werdender Geschwindigkeit auf ihn zu. Und dann –

Er hörte den Mann, der sich hinter ihm anklammerte, wie in plötzlichem Schreck schreien, und seinem Schrei echote ein Schrei von unten. Er fühlte, daß er das Kabel nicht mehr entlang glitt, sondern mit ihm fiel. Er hörte einen Aufruhr von Rufen, Schreien, Kreischen. Er fühlte etwas Weiches an seiner ausgestreckten Hand und den Stoß eines gebrochenen Falles durch seinen Arm hinzittern...

Er wollte still liegen, und das Volk hob ihn auf. Er glaubte später, er wurde auf die Bühne getragen und erhielt zu trinken, aber er erfuhr es nie sicher. Er beachtete nicht, was aus seinem Führer wurde. Als sein Geist wieder klar war, stand er auf den Füßen, eifrige Hände stützten ihn. Er war in einem großen Alkoven, der die Stelle einnahm, die in seiner früheren Erfahrung für die unteren Logen bestimmt war. Wenn dies überhaupt ein Theater war.

Ein gewaltiger Aufruhr lag ihm in den Ohren, ein Donnergebrüll, das Schreien einer zahllosen Volksmenge. »Es ist der Schläfer! Der Schläfer ist mit uns!«

»Der Schläfer ist mit uns! Der Herr – der Besitzer! Der Herr ist mit uns. Er ist gerettet.«

Graham hatte eine wogende Vision von einer großen Halle, die gedrängt voll Volks war. Er sah keinen einzelnen, er sah nur einen Schaum rosiger Gesichter, winkende Arme und Gewänder, er fühlte den geheimen Einfluß einer ungeheuren Menge über sich strömen, ihn aufschwellen. Er sah Balkone, Galerien, große Bogen, die weitere Perspektiven gaben, und überall Volk, eine riesige Arena von dicht gedrängtem und jubelndem Volk. Über dem Vordergrund lag wie eine riesige Schlange das gebrochene Kabel. Es war am oberen Ende von den Leuten in der Flugmaschine abgeschnitten und war in die Halle hinabgeglitten. Es schien, man schleppte es beiseite. Aber der ganze Eindruck war unbestimmt, die Gebäude selber pochten und zitterten vom Sturm der Stimmen. Er stand unsicher und sah die um ihn an. Einer stützte ihn am einen Arm. »Laßt mich in ein kleines Zimmer gehn,« sagte er weinend; »ein kleines Zimmer«, und er konnte nichts mehr sagen. Ein Mann in Schwarz trat vor und nahm seinen freien Arm. Er sah, wie diensteifrige Leute eine Tür vor ihm öffneten. Einer führte ihn zu einem Stuhl. Er stolperte. Er setzte sich schwer und bedeckte das Gesicht mit den Händen; er zitterte heftig, die Beherrschung seiner Nerven war zu Ende. Er wurde von seinem Mantel befreit, wie, darauf konnte er sich nicht besinnen: seine Purpurhose, sah er, war vor Nässe schwarz. Die Leute um ihn liefen, es gingen Dinge vor, aber eine Zeitlang gab er keine Acht auf sie.

Er war entkommen. Das sagten ihm Myriaden Rufe. Er war sicher. Dies war das Volk, das auf seiner Seite stand. Eine Zeitlang schluchzte er nach Atem und dann saß er mit bedecktem Gesicht still da. Die Luft war erfüllt vom Rufen unzähliger Menschen.


 << zurück weiter >>