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Das Riesenlager

I

Bald darauf saß Redwood in einem Zuge, der südwärts über die Thames fuhr. Einen Augenblick sah er den Fluß unter dem Fenster aufleuchten und den Rauch von dem Ort aufsteigen, wo die Granate ins Nordufer geschlagen hatte, und wo eine riesige Menschenmenge organisiert war, um die Herakleophorbia aus dem Boden auszubrennen. Das Südufer war dunkel; aus irgendeinem Grunde waren selbst die Straßen nicht beleuchtet; nur die Umrisse der Alarmtürme waren deutlich sichtbar, und die Massen von Wohnhäusern und Schulen; und nach einer Minute spähenden Suchens wandte er dem Fenster den Rücken zu und versank in Gedanken. Bis er die Söhne sah, war nichts mehr zu sehen noch zu tun ...

Er war von den Bedrängnissen der letzten zwei Tage abgespannt; ihm schien, seine Gefühle müßten erschöpft sein, aber er hatte sich vor dem Aufbruch mit starkem Kaffee gekräftigt, und seine Gedanken liefen dünn und klar. Sein Geist rührte an viele Dinge. Er ließ – aber jetzt in der Beleuchtung vollendeter Ereignisse – die Art, in der der Nährstoff in die Welt getreten war und sich entfaltet hatte, noch einmal Revue passieren.

»Bensington meinte, er könne eine ausgezeichnete Kindernahrung werden,« flüsterte er mit einem leichten Lächeln vor sich hin. Dann traten ihm lebendig, als wären sie noch unbeantwortet, seine eigenen furchtbaren Zweifel vor den Geist, nachdem er sich hatte hineinziehen lassen, indem er ihn seinem Sohn gab. Von da aus hatte sich der Nährstoff trotz aller Anstrengungen der Menschen, zu helfen und zu hindern, mit stetiger, unentwegter Expansion durch die ganze Menschenwelt ausgebreitet. Und jetzt?

»Selbst wenn sie sie alle töten,« flüsterte Redwood, »bleibt die Sache geschehen.«

Das Geheimnis seiner Herstellung war weit und breit bekannt. Das war sein eigenes Werk gewesen. Pflanzen, Tiere, eine Menge bedrängter wachsender Kinder mußten sich unwiderstehlich verschwören, um die Welt zu zwingen, daß sie auf den Nährstoff zurückgriff, was auch im gegenwärtigen Kampf geschehen mochte. »Die Sache ist geschehen,« sagte er, während sein Geist sich unbezwingbar wandte, um auf dem gegenwärtigen Schicksal der Kinder und seines Sohnes zu verweilen. Würde er sie von den Anstrengungen der Schlacht erschöpft vorfinden, verwundet, verhungernd, am Rande der Niederlage, oder noch kräftig und hoffnungsvoll, bereit für den Kampf von morgen? ... Sein Sohn war verwundet! Aber er hatte eine Nachricht geschickt!

Sein Geist kehrte zu seiner Unterredung mit Caterham zurück.

Er erwachte aus seinen Gedanken, als der Zug auf dem Bahnhof von Chiselhurst hielt. Er erkannte den Ort an dem riesigen Rattenalarmturm, der Camden Hill bekrönte, und an der Riesenschierlingreihe, die an der Straße hinlief.

Caterhams Privatsekretär kam aus dem anderen Wagen zu ihm und sagte, eine halbe Meile weiterhin sei die Linie unterbrochen, und der Rest der Reise müsse im Automobil gemacht werden. Redwood stieg auf einen Perron hinaus, der nur von einer Handlaterne beleuchtet war, und über den die kühle Nachtbrise hinstrich. Die Ruhe dieses verlassenen, waldbewachsenen, krautgebetteten Vororts – denn alle Einwohner hatten beim Ausbruch des gestrigen Kampfes in London Zuflucht gesucht – machte starken Eindruck. Sein Führer führte ihn die Stufen hinunter, wo ein Automobil mit blendenden Laternen hielt – das einzige Licht, das man sah – übergab ihn der Sorge des Chauffeurs und sagte ihm Lebewohl.

»Sie werden Ihr Bestes für uns tun,« sagte er mit einer Anlehnung an den Ton seines Herrn, als er Redwoods Hand hielt.

Sowie Redwood eingehüllt war, fuhren sie in die Nacht hinaus. Einen Moment standen sie noch still, und dann schoß das Automobil weich und schnell die Senkung vom Bahnhof hinab. Sie nahmen eine Ecke, dann noch eine, folgten den Windungen einer Villenstraße, und dann dehnte sich die Chaussee vor ihnen. Das Automobil fauchte sich bis zu seiner größten Geschwindigkeit empor, und die schwarze Nacht fegte an ihnen vorbei. Alles war dunkel unter dem Sternenlicht, und die ganze Welt kauerte geheimnisvoll und schwand langsam dahin. Kein Hauch bewegte die am Weg hinfliegenden Dinge; die verlassenen, blassen, weißen Villen auf beiden Seiten, mit ihren schwarzen, unbeleuchteten Fenstern, erinnerten ihn an eine geräuschlose Prozession von Schädeln. Der Führer neben ihm war ein schweigsamer Mann, oder er war durch die Bedienung des Wagens zum Schweigen verurteilt. Er beantwortete Redwoods Fragen mürrisch und einsilbig. Quer über den südlichen Himmel warfen die Strahlen der Scheinwerfer geräuschlose Streifen: die einzigen seltsamen Zeugnisse des Lebens in dieser ganzen verlassenen Welt um die eilende Maschine.

Gleich darauf wurde die Straße auf beiden Seiten von gigantischen Schwarzdornschößlingen eingesäumt, die sie sehr dunkel machten, und von hohem Gras und großen Himmelsröschen; mächtige Riesentodesnesseln flackerten so hoch wie Bäume dunkel im Schattenriß zu Häupten vorbei. Hinter Keston kamen sie zu einem steigenden Hügel, und der Führer fuhr langsam. Auf der Höhe hielt er an. Die Maschine pochte und verstummte. »Dort,« sagte er, und er wies mit seinem dicken, behandschuhten Finger, einem schwarzen, mißgestalteten Ding, vor Redwoods Augen hin.

In weiter Ferne, so schien es, erhob sich der große Damm, bekrönt von dem Feuer der Scheinwerfer, vor dem Himmel. Diese Strahlen kamen und gingen unter den Wolken und dem hügeligen Land rings um sie, als zeichneten sie geheimnisvolle Zauber.

»Ich weiß nicht,« sagte der Führer zuletzt, und es war klar, er fürchtete sich, weiter zu fahren.

Da fegte ein Scheinwerfer den Himmel herab auf sie zu, hielt wie zusammenfahrend inne und untersuchte sie – ein blendender Glanz, der von einem dazwischenstehenden riesigen Krautstengel oder so mehr verwirrt als gemildert wurde. Sie saßen da, ihre Handschuhe vor den Augen, und versuchten, darunter hervor dem Licht entgegenzusehen.

»Weiter,« sagte Redwood nach einer Weile.

Der Führer hatte noch immer seine Zweifel, er versuchte sie auszudrücken und erstarb von neuem zu einem: »Ich weiß nicht.«

Schließlich wagte er sich weiter. »So,« sagte er und weckte seine Maschine wieder zur Bewegung, scharf verfolgt von jenem großen, weißen Auge.

Redwood war es lange Zeit hindurch, als seien sie nicht mehr auf der Erde, sondern in einem Zustand herzpochenden Jagens in einer leuchtenden Wolke. Die Maschine brummte angestrengt vorwärts, und hin und wieder – ich weiß nicht, welchem nervösen Impuls gehorsam – ließ der Führer sein Horn ertönen.

Sie kamen in das willkommene Dunkel einer hocheingesäumten Gasse, und dann einen Hohlweg hinab und an ein paar Häusern vorbei wieder in den blendenden Schein hinein. Dann lief die Straße eine Weile nackt über eine Düne, und es war, als hingen sie pochend in der Unermeßlichkeit. Noch einmal erhoben sich die Riesenkräuter um sie und wirbelten vorbei. Dann ragte ganz plötzlich dicht neben ihnen die Gestalt eines Riesen auf, hellleuchtend, wo sie unten der Scheinwerfer faßte und oben vor dem Himmel schwarz. »Hallo da!« rief er, und »Halt! Da hinten hört der Weg auf ... Ist das Vater Redwood?«

Redwood stand auf und stieß als Antwort einen unbestimmten Ruf aus, und dann stand Cossar neben ihm auf der Straße, faßte ihn bei beiden Händen und zog ihn aus dem Wagen heraus.

»Mein Sohn?« fragte Redwood.

»Dem geht's gut,« sagte Cossar. » Dem haben sie nichts Ernsthaftes verletzt.«

»Und Ihre Jungen?«

»Wohl. Alle wohl. Aber wir haben einen Kampf drum gehabt.«

Der Riese sagte etwas zu dem Automobilführer. Redwood trat zur Seite, als die Maschine umkehrte, und dann verschwand Cossar plötzlich, alles verschwand, und er stand eine Zeitlang in absolutem Dunkel. – Der Schein folgte dem Rücken des Automobils bis zur Höhe von Keston Hill. Er beobachtete das kleine Fahrzeug, wie es in dem weißen Kranz entschwand. Es sah merkwürdig aus – als bewege es sich gar nicht, nur der Schein. Eine Gruppe krieggeschwärzter Riesenerlen blitzte zu hageren Gesten auf und wurde wieder von der Nacht verschlungen ... Redwood wandte sich Cossars dunklem Umriß wieder zu und faßte seine Hand. »Ich bin zwei ganze Tage gefangen und in Unwissenheit gehalten worden,« sagte er.

»Wir haben sie mit dem Nährstoff beschossen,« sagte Cossar. »Selbstverständlich! Dreizehn Schuß. Eh!«

»Ich komme von Caterham.«

»Ich weiß.« Er lachte mit einem Ton der Bitterkeit. »Ich vermute, er wischt es aus.«

II

»Wo ist mein Sohn?« sagte Redwood.

»Er ist wohl. Die Riesen warten auf Ihre Botschaft.«

Er ging mit Cossar einen langen, schrägen Tunnel hinunter, der einen Moment rot erleuchtet war und dann wieder dunkel wurde, und gleich darauf kam er in die große Schutzgrube, die die Riesen gemacht hatten.

Redwoods erster Eindruck war der einer ungeheuren, von sehr hohen Klippen umgrenzten Arena, deren Boden sehr eng bepackt war. Abgesehen von den Scheinwerfern der Wächter, die beständig hoch zu Häupten umherwirbelten, und von einem roten Schein, der in einem fernen Winkel, wo zwei Riesen unter metallischem Getöse zusammen arbeiteten, kam und ging, lag sie im Dunkel. Vor dem Himmel sah er, wenn der Schein sich drehte, die vertrauten Umrisse der alten Arbeits- und Spielschuppen, die für die Cossarjungens erbaut worden waren. Sie hingen jetzt gleichsam auf der Stirn einer Klippe, wunderlich verzerrt und verzogen von den Kugeln der Caterhamschen Beschießung. Darüber sah man Spuren einer riesigen Kanonenanlage, und näher standen Haufen gewaltiger Zylinder, die vielleicht aus Munition bestanden. Über den ganzen weiten Raum unten standen die Formen großer Maschinen und unverständlicher Massen in unbestimmter Unordnung verstreut. Die Riesen erschienen und verschwanden unter diesen Masten und im ungewissen Licht; große Gestalten waren es, nicht außer Verhältnis zu den Dingen, unter denen sie sich bewegten. Einige waren geschäftig, einige saßen und lagen, als suchten sie Schlaf, und einer, ganz nahe, dessen Rumpf verbunden war, lag auf einer groben Streu von Fichtenzweigen; er schlief sicherlich. Redwood spähte nach diesen dunklen Formen aus; seine Augen schweiften von einem bewegten Umriß zum andern.

»Wo ist mein Sohn, Cossar?«

Dann sah er ihn.

Sein Sohn saß unterm Schatten einer großen Stahlmauer. Er war nichts als eine schwarze Gestalt, kenntlich nur durch seine Stellung – seine Züge waren unsichtbar. Er saß da, das Kinn auf der Hand, wie müde oder in Gedanken verloren. Neben ihm entdeckte Redwood die Gestalt der Prinzessin, nur eine dunkle Andeutung von ihr, und dann, als der Schein von dem fernen Eisen wieder aufleuchtete, sah er einen Moment, rot erleuchtet und zart, die unendliche Güte ihres beschatteten Gesichtes. Sie stand da und blickte auf ihren Geliebten herab, die eine Hand gegen den Stahl gestützt. Es schien, sie flüsterte mit ihm.

Redwood wäre auf sie zugegangen.

»Gleich,« sagte Cossar. »Erst Ihre Botschaft.«

»Ja,« sagte Redwood, »aber – –«

Er hielt inne. Sein Sohn blickte jetzt auf und sprach zu der Prinzessin, aber mit zu leiser Stimme, als daß sie es hätten hören können. Der junge Redwood hob das Gesicht, und sie beugte sich zu ihm nieder und warf, ehe sie sprach, einen Blick zur Seite.

»Aber wenn wir geschlagen werden,« hörten sie die flüsternde Stimme des jungen Redwood.

Sie hielten inne, und der rote Schein zeigte ihre Augen hell vor unvergossenen Tränen. Sie beugte sich näher zu ihm herab und sprach noch leiser. In ihrer Haltung und ihrem weichen Ton lag etwas so Inniges, so Abgeschlossenes, daß Redwood, der zwei ganze Tage lang an nichts als an seinen Sohn gedacht hatte, sich hier als Eindringling fühlte. Plötzlich stand er still. Zum erstenmal in seinem Leben vielleicht empfand er, wieviel mehr ein Sohn seinem Vater sein kann, als ein Vater je seinem Sohn sein kann; er empfand die volle Herrschaft der Zukunft über die Vergangenheit. Hier zwischen diesen beiden hatte er keinen Platz. Seine Rolle war ausgespielt. Er wandte sich in der momentanen Erkenntnis zu Cossar. Ihre Augen begegneten sich. Seine Stimme war verwandelt; sie trug den Ton eines grauen Entschlusses.

»Jetzt will ich meine Botschaft melden,« sagte er. »Nachher – – ... Es wird dann noch früh genug sein.«

Die Grube war so ungeheuer und so voll bepackt, daß es ein langer und gewundener Weg bis dahin war, von wo aus Redwood zu ihnen allen reden konnte.

Er und Cossar folgten einem steil abfallenden Pfad, der unter einem Bogen zusammengekoppelter Maschinerie durchführte, und kamen so zu einem weiten, tiefen Gang, der quer durch den Boden der Grube lief. Dieser Gang – weit und leer und doch relativ eng – verschwor sich mit allem rings, um Redwoods Gefühl von der eigenen Kleinheit zu verstärken. Er wurde gleichsam zu einer ausgegrabenen Schlucht. Hoch zu Häupten, von ihm getrennt durch Klippen des Dunkels, blendeten und drehten sich die Scheinwerfer und gingen die leuchtenden Formen hin und her. Riesenstimmen riefen einander dort oben zu und forderten die Riesen zum Kriegsrat zusammen, um die Vorschläge anzuhören, die Caterham geschickt hatte. Der Gang war immer noch abwärts geneigt, abwärts zu schwarzen Ungeheuerlichkeiten, zu Schatten und Geheimnissen und unvorstellbaren Dingen, in die Redwood mit widerstrebenden Schritten langsam hinabstieg, Cossar jedoch mit zuversichtlichem Tritt ...

Redwoods Gedanken waren geschäftig.

Die beiden Männer kamen in das vollständigste Dunkel, und Cossar faßte seinen Gefährten am Handgelenk. Sie gingen jetzt gezwungen langsam.

Redwood fühlte den Drang zu reden. »All dies«, sagte er, »ist seltsam.«

»Groß,« sagte Cossar.

»Seltsam. Und seltsam, daß es mir seltsam sein kann – mir, der ich gewissermaßen der Anfang von allem bin. Es ist – –«

Er hielt inne, da er mit seinen flüchtigen Gedanken rang, und warf eine ungesehene Geste gegen die Klippe.

»Ich habe noch nie daran gedacht. Ich habe zu tun gehabt, und die Jahre sind hingegangen. Aber hier sehe ich – – Es ist eine neue Generation, Cossar, es sind neue Empfindungen und neue Bedürfnisse. All dies, Cossar – –«

Cossar sah jetzt seine dunkle Geste gegen die Dinge rings umher.

»All dies ist Jugend.«

Cossar gab keine Antwort, und seine unregelmäßigen Schritte gingen weiter.

»Es ist nicht unsere Jugend, Cossar. Sie übernehmen die Dinge. Sie beginnen auf Grund ihrer eigenen Empfindungen, ihrer eigenen Erfahrungen, auf ihre eigene Art. Wir haben eine neue Welt geschaffen, und sie ist nicht unsere Welt. Sie ist nicht einmal – mit uns verwandt. Dieser große Bau – –«

»Ich habe ihn entworfen,« sagte Cossar mit verschlossenem Gesicht.

»Aber jetzt?«

»Ah! ich habe ihn meinen Söhnen gegeben.«

Redwood konnte die lose Armbewegung fühlen, die er nicht sehen konnte.

»Das ist es. Wir sind vorbei – oder fast vorbei.«

»Ihre Botschaft!«

»Ja. Und dann – –«

»Sind wir vorbei.«

»Und – –?«

»Natürlich sind wir beiden da heraus, wir beiden alten Leute,« sagte Cossar mit seinem vertrauten Ton plötzlichen Zorns. »Natürlich. Selbstverständlich. Jeder für seine Zeit. Und jetzt – beginnt ihre Zeit. Ganz in Ordnung. Schachtmeister. Wir tun, was wir zu tun haben, und gehen. Verstehen? Dazu ist der Tod da. Wir arbeiten all unser bißchen Gehirn und unser bißchen Empfindung ab, und dann beginnt die andere Schicht von neuem. Frisch und frisch! Ganz einfach. Wo liegt die Schwierigkeit?«

Er hielt inne, um Redwood zu ein paar Stufen zu führen.

»Ja,« sagte Redwood, »aber man fühlt – –«

Er ließ seinen Satz unvollendet.

»Dazu ist der Tod da,« hörte er Cossar unter sich beharren. »Wie könnte die Sache anders gemacht werden? Dazu ist der Tod da.«

III

Nach weiten Windungen und Anstiegen kamen sie auf einen vorspringenden Rand hinaus, von dem aus es möglich war, den größeren Teil der Grube der Riesen zu überblicken, und von dem aus Redwood sich ihrer ganzen Versammlung vernehmbar machen konnte. Die Riesen waren bereits unter und um ihn auf verschiedenen Höhen erschienen, um die Botschaft, die er brachte, zu hören. Der älteste Sohn Cossars stand oben auf dem Damm und verfolgte die Offenbarungen der Scheinlichter, da sie einen Bruch des Waffenstillstands fürchteten. Diejenigen, die in dem Winkel an dem großen Apparat gearbeitet hatten, standen klar in ihrem eigenen Lichte da; sie waren fast nackt; sie wandten Redwood ihre Gesichter zu, aber mit wachsender Aufmerksamkeit wandten sie sich immer von Zeit zu Zeit wieder den Gußstücken zu, die sie nicht verlassen konnten. Er sah diese näheren Gestalten in schwankender Undeutlichkeit. Sie traten aus den Tiefen großer Dunkelheiten heraus und verschwanden wieder in ihnen. Denn diese Riesen hatten in der Grube nicht mehr Licht, als sie unbedingt brauchten, damit ihre Augen bereit blieben, jede Angriffsmacht sehen zu können, die aus den Finsternissen rings auf sie einspringen mochte.

Hin und wieder griff ein zufälliger Schein diese oder jene Gruppe großer und gewaltiger Formen heraus und zeigte sie; die Riesen aus Sonderland waren in überspringende Metallplatten gekleidet, und die anderen in Leder, in gewebtes Tau oder in gewebtes Metall, wie ihre Lebensbedingungen es bestimmt hatten. Sie saßen mitten zwischen Maschinen und Waffen, die ebenso gewaltig waren wie sie, oder sie stützten ihre Hände darauf, oder sie standen aufgerichtet darunter, und alle ihre Gesichter zeigten, wenn sie aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare hervortraten oder umgekehrt, feste Augen.

Er versuchte zu beginnen und tat es nicht. Dann glühte einen Moment das Gesicht seines Sohnes in einem heißen Aufflackern des Feuers auf, das Gesicht seines Sohnes, der zu ihm aufblickte, zärtlich sowohl wie stark; und da fand er die Stimme, sie alle zu erreichen, und er sprach wie über einen Abgrund hin zu seinem Sohne.

»Ich komme von Caterham,« sagte er. »Er hat mich zu euch geschickt, um euch den Vergleich zu bringen, den er anbietet.«

Er hielt inne. »Ich weiß, es sind unmögliche Bedingungen; ich weiß es jetzt, da ich euch hier alle beisammen sehe; es sind unmögliche Bedingungen, aber ich bringe sie euch, weil ich euch alle sehen wollte – und meinen Sohn. Noch einmal ... wollte ich meinen Sohn sehen ...«

»Sagen Sie ihnen die Bedingungen,« sagte Cossar.

»Dies ist Caterhams Anerbieten. Er will, ihr sollt von uns fortgehen und diese Welt verlassen!«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht. Unbestimmt irgendwo in der Welt soll ein großes Gebiet abgetrennt werden ... Und ihr sollt keinen Nährstoff mehr herstellen, keine eigenen Kinder haben, sollt eure Zeit auf eure Weise ausleben und dann für immer zu Ende sein.«

Er hielt inne.

»Und das ist alles?«

»Das ist alles.«

Es folgte eine große Stille. Die Dunkelheit, die die Riesen verschleierte, schien ihn gedankenvoll anzusehen.

Er fühlte eine Berührung am Ellbogen, und Cossar hielt ihm einen Stuhl hin, ein wunderliches Fragment von Puppenmöbeln unter diesen aufgetürmten Unermeßlichkeiten. Er setzte sich und kreuzte die Beine, und dann legte er eins über das Knie des andern und faßte nervös seinen Stiefel; er fühlte sich klein und bewußt und scharf sichtbar und an absurdem Platz.

Dann vergaß er sich beim Klang einer Stimme wieder.

»Ihr habt es gehört, Brüder,« sagte diese Stimme aus dem Schatten.

Und eine zweite antwortete: »Wir haben es gehört.«

»Und die Antwort, Brüder?«

»An Caterham?«

»Lautet: Nein!«

»Und dann?«

Es folgte einige Sekunden lang ein Schweigen.

Dann sagte eine Stimme: »Diese Leute haben recht. Das heißt, nach ihrer Einsicht. Sie hatten recht, wenn sie alles töteten, was größer wurde als es bisher war. Tier und Pflanze und jede Art großer Dinge, die sich erhob. Sie hatten recht, wenn sie versuchten, uns hinzuschlachten. Sie haben recht, wenn sie sagen, wir dürfen nicht unsersgleichen heiraten. Nach ihrer Einsicht haben sie recht. Sie wissen – es ist Zeit, daß auch wir es erfuhren – man kann in einer Welt nicht Pygmäen und Riesen zusammen haben. Caterham hat das immer wieder gesagt – deutlich genug – ihre Welt oder unsere.«

»Wir sind jetzt kein halbes Hundert mehr,« sagte ein anderer, »und sie haben endlose Millionen.«

»Das mag sein. Aber die Sache ist, wie ich gesagt habe.«

Dann wieder ein langes Schweigen.

»Und so sollen wir sterben?«

»Gott behüte!«

»Sollen sie es?«

»Nein.«

»Aber das ist, was Caterham sagt! Er will, wir sollen unser Leben zu Ende leben, einer nach dem andern sterben, bis nur noch einer nach ist, und dieser eine wird zuletzt auch sterben, und sie wollen all die Riesenpflanzen und Kräuter niederhauen, das niedere Riesenleben töten, die Spuren des Nährstoffs ausbrennen – und uns und dem Nährstoff auf immer ein Ende machen. Dann wäre die kleine Pygmäenwelt sicher. Sie würden weiterleben – auf ewig sicher – würden ihr kleines Pygmäenleben leben, würden einander Pygmäengüte und Pygmäengrausamkeit antun; sie würden vielleicht sogar ein Art Pygmäenmillennium erreichen, dem Kriege ein Ende machen, der Überbevölkerung ein Ende machen, sich in einer weltenweiten Stadt niedersetzen, um Pygmäenkünste zu üben, und einander verehren, bis die Welt zu gefrieren beginnt ...«

Im Winkel fiel donnernd ein Stück Eisen zu Boden.

»Brüder, wir wissen, was wir zu tun gedenken.«

In einem Flackern des Lichts von den Scheinwerfern sah Redwood, wie sich die ernsten jugendlichen Gesichter seinem Sohn zuwandten.

»Es ist jetzt leicht, den Nährstoff zu machen. Es würde uns leicht, für die ganze Welt genug zu machen.«

»Du meinst, Bruder Redwood,« sagte eine Stimme aus dem Dunkel, »die kleinen Leute haben den Nährstoff zu essen?«

»Was bleibt sonst zu tun?«

»Wir sind kein halbes Hundert, und sie sind viele Millionen.«

»Aber wir haben uns behauptet.«

»Bisher.«

»Wenn es Gottes Wille ist, können wir uns auch weiter behaupten.«

»Ja. Aber denkt an die Toten!«

Eine andere Stimme griff diesen Ton auf. »Die Toten,« sagte sie. »Denkt an die Ungeborenen ...«

»Brüder,« kam des jungen Redwood Stimme, »was können wir Anderes tun, als gegen sie kämpfen, und wenn wir sie schlagen, sie zwingen, den Nährstoff zu nehmen? Sie können nicht anders mehr, als den Nährstoff nehmen. Angenommen, wir sollten auf unser Erbe verzichten, und diese Narrheit begehen, die Caterham vorschlägt! Angenommen, wir könnten es! Angenommen, wir geben dieses Große auf, das sich in uns regt, weisen das ab, was unsere Väter für uns taten, was du, Vater, für uns tatest, und schwinden, wenn unsere Zeit gekommen ist, im Verfall des Nichts dahin! Was dann? Sie mögen gegen die Größe in uns kämpfen, die wir die Kinder der Menschen sind, aber können sie siegen? Selbst wenn sie uns, jeden einzeln, vernichten, was dann? Würde das sie retten? Nein! Denn die Größe lebt nicht nur in uns, nicht nur im Nährstoff, sondern im Zweck aller Dinge! Sie liegt in der Natur aller Dinge, sie ist ein Teil von Raum und Zeit. Wachsen und immer weiter wachsen, vom Anfang bis zum Schluß, das ist das Dasein, das ist das Gesetz des Lebens. Welches andere Gesetz wäre möglich?«

»Anderen helfen?«

»Wachsen. Es ist immer noch, wachsen.«

»Wenn wir ihnen nicht zum Scheitern helfen ...«

»Sie werden schwer kämpfen, um uns zu überwinden,« sagte eine Stimme.

Und eine andere: »Was tut das?«

»Sie werden kämpfen,« sagte der junge Redwood. »Wenn wir diesen Vergleich abweisen, zweifle ich nicht, daß sie kämpfen werden. Ich hoffe sogar, sie werden offen sein und kämpfen. Wenn sie schließlich doch Frieden bieten, so wird es nur sein, um uns desto besser unversehens fassen zu können. Begeht keinen Fehler, Brüder; so oder so werden sie kämpfen. Der Krieg hat begonnen, und wir müssen bis zum Ende kämpfen. Wenn wir nicht klug sind, könnten wir plötzlich entdecken, daß wir nur gelebt haben, um ihnen bessere Waffen gegen unsere Kinder und unsere Art zu geben. Bisher ist es nur erst die Dämmerung der Schlacht gewesen. Einige von uns werden in der Schlacht getötet werden, einige von uns wird man überfallen. Es gibt keinen leichten Sieg, keinen Sieg, der für uns mehr wäre als eine halbe Niederlage. Dessen seid versichert. Was tut es? Wenn wir nur einen Fußbreit halten, wenn wir nur eine wachsende Schar hinter uns lassen, die kämpft, wenn wir fort sind!«

»Und morgen?«

»Wollen wir den Nährstoff aussprengen; wollen wir die Welt mit Nährstoff sättigen.«

»Und wenn sie zu einem Vergleich kommen?«

»Unsere Bedingung ist der Nährstoff. Es ist nicht, als könnten Klein und Groß in irgendwie vollkommenem Kompromiß zusammenleben. Es heißt eins oder das andere. Welches Recht haben Eltern zu sagen, mein Kind soll kein Licht haben als das Licht, das ich gehabt habe, soll nicht größer werden, als ich geworden bin? Spreche ich für euch, Brüder?«

Beistimmendes Murmeln antwortete ihm.

»Und den Kindern, die Frauen werden, ebenso wie denen, die Männer werden,« sagte eine Stimme aus dem Dunkel.

»Mehr noch – damit sie Mütter einer neuen Rasse werden ...«

»Aber für die nächste Generation muß es Groß und Klein geben,« sagte Redwood, die Augen auf seines Sohnes Gesicht gerichtet.

»Für viele Generationen noch. Und die Kleinen werden die Großen hindern, und die Großen werden die Kleinen drücken. So muß es sein, Vater.«

»Es wird Kampf geben.«

»Endlosen Kampf. Endloses Mißverstehen. Das ist alles Leben. Groß und Klein können einander nicht verstehen. Aber in jedem vom Menschen geborenen Kinde, Vater Redwood, lauert ein Samenkorn der Größe – und harrt des Nährstoffs.«

»So soll ich zu Caterham zurückgehen und ihm sagen – –«

»Du wirst bei uns bleiben, Vater Redwood. Unsere Antwort geht mit Sonnenaufgang zu Caterham.«

»Er sagt, er will kämpfen ...«

»So sei es,« sagte der junge Redwood, und seine Brüder murmelten Beifall.

» Das Eisen wartet,« rief eine Stimme, und die beiden Riesen, die im Winkel arbeiteten, begannen ein rhythmisches Hämmern, das eine gewaltige Musik zu der Szene abgab. Das Metall glühte weit heller als zuvor und gab Redwood einen klareren Anblick des Lagers, als er bislang gehabt hatte. Er sah den länglichen Raum in voller Ausdehnung, und die großen Kriegsmaschinen waren fertig und handbereit aufgestellt. Dahinter und an höherer Stelle stand das Haus der Cossars. Um ihn standen die jungen Riesen, gewaltig und schön, glitzernd in ihren Panzern, unter den Rüstungen für den morgigen Tag. Ihr Anblick hob ihm das Herz. Sie waren von so selbstverständlicher Kraft! Sie waren so groß und anmutig! Sie waren in ihren Bewegungen so fest! Da stand unter ihnen sein Sohn, und die erste von allen Riesenfrauen, die Prinzessin ...

Da sprang ihm im Geist der wunderlichste Kontrast auf, eine Erinnerung an Bensington, hell und klein – Bensington mit seiner Hand in den weichen Brustfedern jenes ersten großen Kückens, wie er in jenem, seinem konventionell eingerichteten Zimmer stand und zweifelnd über seine Brille spähte, als Cousine Jane die Tür zuschlug ...

Das alles war in einem Gestern von einundzwanzig Jahren geschehen.

Dann plötzlich faßte ihn der seltsame Zweifel, dieser Ort und diese gegenwärtige Größe sei vielleicht nichts als ein Traumgewebe; er träume und werde jeden Moment erwachen und sich wieder in seinem Arbeitszimmer vorfinden, die Riesen seien hingeschlachtet, der Nährstoff unterdrückt, und er als ein Gefangener eingeschlossen. Was war denn das Leben anders als das – stets ein eingeschlossener Gefangener zu sein! Dies war der Höhepunkt und das Ende seines Traumes. Er mußte in Blutvergießen und Schlacht erwachen, um seinen Nährstoff als die törichtste der Einbildungen zu erkennen, und seine Hoffnungen und seinen Glauben an eine größere kommende Welt als nichts denn den farbigen Dunst auf einem Pfuhl abgründigen Verfalls. Die Kleinheit unbesiegbar! ...

So stark und tief war diese Welle der Verzweiflung, diese Andeutung drohender Enttäuschung, daß er auf die Füße sprang. Er stand da und preßte sich die geballten Fäuste in die Augen, und so blieb er einen Moment stehen, da er sich fürchtete, sie zu öffnen und zu sehen, daß der Traum schon geschwunden war ...

Die Stimmen der Riesenkinder sprachen zueinander, ein Unterton zu jener dröhnenden Melodie der Schmiede. Seine Flut des Zweifels ebbte. Er hörte die Riesenstimmen; er hörte immer noch ihre Bewegungen um sich. Er war wirklich sicher, es war wirklich – so wirklich wie gehässige Taten! Wirklicher, denn diese großen Dinge sind vielleicht die kommenden Dinge, und die Kleinheit, Bestialität und Schwäche des Menschen sind das Schwindende. Er öffnete die Augen.

»Fertig,« rief einer der Eisenarbeiter, und sie warfen die Hammer hin.

Oben erklang eine Stimme. Cossars Sohn, der auf dem großen Damm stand, hatte sich umgedreht und sprach nun zu ihnen allen.

»Nicht, als wollten wir die kleinen Leute aus der Welt vertreiben,« sagte er, »damit wir, die wir von ihrer Kleinheit erst einen Schritt nach oben sind, ihre Welt für immer besitzen können. Wir kämpfen für den Schritt und nicht für uns ... Zu welchem Ende, Brüder, sind wir hier? Um dem Geist und dem Ziel zu dienen, die in unser Leben gehaucht sind. Wir kämpfen nicht für uns – denn wir sind nur die momentanen Hände und Augen des Lebens der Welt. So hast du, Vater Redwood, uns gelehrt. Durch uns und durch das kleine Volk blickt und lernt der Geist. Von uns muß er durch Wort und Geburt und Tat – auf noch größeres Leben übergehen. Diese Erde ist kein Ruheort; diese Erde ist kein Spielplatz; sonst könnten wir wahrlich dem Messer der kleinen Leute den Hals hinhalten, denn wir hätten kein größeres Recht ans Leben als sie. Und sie wieder könnten den Ameisen und dem Gewürm Platz machen. Wir kämpfen nicht für uns, sondern für das Wachstum, das Wachstum, das ewig fortgeht. Morgen wird, ob wir leben oder sterben, das Wachstum durch uns siegen. Das ist auf ewig das Gesetz des Geistes. Zu wachsen nach dem Willen Gottes! Aus diesen Schrunden und Spalten, aus diesen Schatten und Dunkelheiten herauszuwachsen, in die Größe und das Licht hinein! Größer,« sagte er und sprach mit langsamer Überlegung, »größer, meine Brüder! Und dann – immer größer. Wachsen und immer wieder – wachsen. Schließlich in die Gemeinschaft und das Verständnis Gottes hineinwachsen. Wachsen ... Bis die Erde nur noch ein Schemel ist ... Bis der Geist die Furcht ins Nichts zurückgetrieben und sich ausgebreitet hat ...« Er schwang den Arm gen Himmel: – » Dort –!«

Seine Stimme verklang. Der weiße Glanz eines der Scheinwerfer wirbelte herum und fiel einen Moment auf ihn, als er gigantisch mit gegen den Himmel erhobener Hand dastand.

Einen Moment leuchtete er auf, wie er, panzerumkleidet, jung und stark, entschlossen und still, furchtlos in die Sternentiefen emporsah. Dann war das Licht vorbeigehuscht, und er war nur noch ein großer, schwarzer Umriß vor dem Sternenhimmel, ein großer, schwarzer Umriß, der mit einer einzigen gewaltigen Geste das Firmament des Himmels und all seine Sternenscharen bedrohte.


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