Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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41

In dem stillen, vornehmen Notting Hill kam es ungefähr eine Stunde später zu einer wüsten Keilerei. Ein Arbeiter, der mit großer Gründlichkeit den Verputz einer Gartenmauer ausbesserte, geriet plötzlich mit einem müßigen Bummler in einen handgreiflichen Streit, und da beide Gegner sofort Helfer fanden, gab es binnen kurzem einen dichten, hin und her wogenden Knäuel

Der Wagen, der in rascher Fahrt von Kensington Gardens her kam, mußte einen großen Bogen fahren, um keinen der erbitterten Kampfhähne unter die Räder zu bekommen, und gleich darauf nahm er kühn eine Ecke und schoß in das zufällig geöffnete Haupttor der Gartenmauer.

»Mr. Donald Ramsay«, stellte Maud sehr förmlich, aber mit etwas unsicherer Stimme vor, und Mrs. Adelina Derham streckte dem Besucher mit einem ungemein liebenswürdigen Lächeln die weiche weiße Hand entgegen. Und im gleichen Augenblick hatte sie auch schon eine Erinnerung eingefangen, mit der sich ein nettes und vielleicht recht ergiebiges Gespräch beginnen ließ.

»Ramsay, oh . . .«, sagte sie lebhaft. »Ich habe eine Miss Ramsay gekannt, aber . . .« – sie zögerte verlegen – »ja, es ist dies allerdings schon ziemlich lange her. Ich bin nämlich als kleines Mädchen in der Schweiz erzogen worden, und da hatten wir im Institut eine Miss Geneviève Ramsay. Sie war damals bereits eine erwachsene junge Dame, ich erinnere mich ihrer jedoch noch sehr gut, weil wir alle für sie geschwärmt haben. Sie war sehr hübsch und sehr lieb und hat immer irgendwelche lustigen Streiche aufgeführt. Wir waren sehr traurig, als sie uns verließ. Sie hat einen Lord . . .«

Mrs. Derham wollte nur einen Augenblick nachdenken, um auf den Namen des Lords zu kommen, denn es war doch schon etwas lange her; der Besucher ließ ihr jedoch keine Zeit dazu.

»Es scheint allen Ramsays im Blute zu liegen, Streiche aufzuführen«, fiel er mit auffallender Hast ein, lächelte aber dabei so gewinnend, daß ihm Tante Ady wegen der Störung ihres Gedankenganges nicht böse sein konnte. Sie fand ihn sogar mit jeder Minute netter, und als Maud nach einer Viertelstunde mit den Augen sehr deutlich auf sie einzusprechen begann, war es nicht bloß die umfangreiche Figur, die Mrs. Derham das Aufstehen so schwerfallen ließ.

»Also, nun lassen Sie mich zunächst einmal den Brief des besorgten Mr. Gardner lesen, Miss Hogarth«, sagte Ramsay, kaum daß sie allein waren, und Maud fand diese Eile, zu ihren geschäftlichen Angelegenheiten zu kommen, geradezu unhöflich. Es lag doch an ihr, dieses Thema anzuschneiden, und sie wollte nun wirklich nicht so mit sich herumkommandieren lassen.

»Was haben Sie an der Stirn?« fragte sie.

»Eine kleine Schramme.«

Mauds Finger trommelten gereizt auf der Stuhllehne. »Danke, das sehe ich. – Wovon?«

Ramsay lachte sie vergnügt an. »Von einem Wiedersehen mit dem Störenfried aus Richmond.«

Maud fuhr erschreckt auf. »Sie sind ihm noch einmal begegnet? Er hat wieder auf Sie geschossen?«

»Ja, er kam auf den unglücklichen Einfall.«

Der leichte Ton, mit dem Ramsay über das Abenteuer hinwegging, verfehlte seine Wirkung. Maud Hogarth saß plötzlich mit gesenktem Kopf und krampfhaft verschlungenen Händen, und als sie endlich zu sprechen begann, hatte ihre flackernde Stimme einen so seltsamen Klang, daß der junge Mann betroffen aufhorchte.

»Sie sollten vorsichtiger sein«, stieß sie hervor, und es war mehr eine flehentliche Bitte als ein wohlgemeinter Rat. Und dann kamen die Worte abgerissen und wie ein Aufschluchzen von ihren Lippen. »Ich kann das nicht ausdenken. Das wäre schrecklicher als alles andere. Weil . . . Ich habe doch sonst niemanden, mit dem . . . Und überhaupt . . .«

Die Stimme versagte, und der feine dunkle Kopf sank noch tiefer.

Ramsay war aufgeschnellt und neigte sich über die Weinende. Dann hob er mit zaghaften Fingern das zuckende Mädchengesicht und blickte mit einer stummen Frage in die verschleierten Augen, denen diese Stunde allen abweisenden Stolz genommen hatte. Es lag nur bange Sorge darin.

Und noch etwas anderes, das den kühlen, korrekten Mann alle Selbstbeherrschung verlieren ließ. Er preßte in jäher Aufwallung seine Lippen auf die tränenfeuchten Wimpern des Mädchens und auf den bebenden Mund und fand in diesen stürmischen Liebkosungen kein Ende. Sie waren ein leidenschaftliches Geständnis und tröstender Zuspruch zugleich und bedurften keiner Worte. »Liebste . . . Ärmste . . .«, war das einzige, was Ramsay immer wieder flüsterte.

Maud Hogarth ließ diesen Überfall ohne das leiseste Widerstreben über sich ergehen. Er hatte sie nicht erschreckt und gelähmt, aber er hatte in ihr mit einem Schlag alles zusammenbrechen lassen, was ihr bisher ein Halt gewesen war. Sie gab sich hemmungslos dem neuen Gefühl hin, das über sie gekommen war. Sie dachte nicht daran, daß sie von dem Mann, dessen Zärtlichkeiten sie duldete, soviel wie nichts wußte, und sie fragte sich nicht, wohin das Geschehen dieser Minuten führen sollte. Sie war sich nur darüber klar, daß ihr dieser Fremde bereits so viel bedeutete, daß sie ihn nicht wieder verlieren durfte, und sie empfand unter seinen Küssen einen süßen Rausch, der sie über alle Bitternisse der Vergangenheit und alle Sorgen der Gegenwart hinwegtrug.

Donald Ramsay war der erste, der sich wiederfand. Er richtete sich plötzlich auf und begann mit großen Schlitten umherzugehen.

»So, und jetzt wollen wir eine Weile vernünftig sein, Maud«, sagte er. »Die Sache muß nun doppelt rasch zu Ende kommen.« Dann nahm er wieder neben ihr Platz. »Also zunächst den Brief, Maud . . .«

Jetzt war sie ihm dankbar, daß er auf dieses Thema zu sprechen kam, und brachte das Schreiben Gardners zum Vorschein. Und dann hatte sie ziemlich lange Zeit, sich zu fassen, denn der Mann an ihrer Seite konnte mit der Lektüre der wenigen Zeilen nicht fertig werden. Er mußte sie bereits einige Male überflogen haben, äußerte jedoch noch immer kein Wort. Maud suchte in seinen Mienen zu lesen, aber diese blieben unbewegt.

»Was kann das zu bedeuten haben?« fragte sie endlich mit neu aufsteigender Besorgnis, aber statt einer beruhigenden Antwort kam eine Gegenfrage, die sie in höchste Bestürzung versetzte.

»Was stand auf dem Papier, Maud, das du von Foster mitgenommen hast?«

»Das kann ich nicht sagen. – Niemandem . . .«, stieß sie nach Sekunden hervor, und ihre Stimme hatte den früheren kampfbereiten Klang.

»Hast du es vernichtet?« forschte Ramsay.

»Nein«, erklärte sie. »Ich habe es zu dem andern gelegt.«

Ramsay fand das wieder einmal ›großartig‹. »Es liegt zwar nicht viel daran«, fügte er hinzu, »aber so ist es doch besser. Schon um deinetwillen.« Er steckte den Brief Gardners zu sich. »Also, Lady Falconer hat ebenfalls den dringenden Wunsch, dich heute zu sehen?«

Die Selbstverständlichkeit, mit der er das vertrauliche Du gebrauchte, ließ Maud ihre Befangenheit nicht los werden. »Ja«, sagte sie, ohne den Blick zu heben. »Ich habe ihr versprochen, zu einer Tasse Tee zu kommen . . . Soll ich also zu Gardner fahren?«

»Zu Gardner? – Das überlege ich eben. – Jedenfalls kannst du Lady Falconer sagen, daß du die Absicht hättest. Damit sie dich nicht zu lange aufhält. Ob es wirklich dazu kommt, wird sich ja zeigen . . .«

Das war wiederum eine recht sonderbare Antwort, er ließ ihr jedoch keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Die ›Weile‹, die er vernünftig sein wollte, war offenbar abgelaufen, denn er zog Maud abermals in die Arme. Plötzlich jedoch sah er sie ernst an.

»Es war eine schrecklich harte Strafe, Maud – aber ein wenig war sie verdient«, sagte er.

»Eine Strafe? Was? Wofür?« flüsterte sie verständnislos.

»Was du gelitten hast – für zu viel Liebe – und zu wenig Vertrauen. Das darf es zwischen uns nicht geben. Wenn du mich wirklich lieb hast, mußt du an mich auch glauben, was auch geschehen mag. Willst du mir das versprechen?«

Maud vermochte von all dem nur seine inständige Bitte zu fassen und bot ihm mit einem wortlosen Nicken den Mund . . .

Tante Ady pflegte glücklicherweise nicht wie eine Elfe durchs Haus zu schweben, und da sie überdies in großer Eile kam, war sie bereits geraume Zeit vor ihrem Auftauchen zu hören. Ihre ungewöhnliche Beweglichkeit hatte einen triftigen Grund. »Nun ist mir endlich eingefallen, wen Geneviève Ramsay geheiratet hat«, platzte sie sofort mit dem letzten Atem heraus, der ihr übrig geblieben war. »Einen Lord Trenton. Ich habe den ganzen Almanach durchgeblättert. Er ist oben in York begütert . . .«

»Oh . . .«, sagte der liebenswürdige Gentleman mit höflichem Interesse. Maud aber hatte für diese wichtige Feststellung so wenig übrig, daß sie sich nicht einmal vom Fenster wandte.

 

Kurz vor zwei Uhr kam Brook zum zweiten Male an diesem Tag in das stille Haus unweit der Westminster Brücke, aber diesmal wurde ihm die Hofpforte nicht von der sanften Mrs. Machennan, sondern von Pheny, dem Mädchen, aufgetan. Pheny machte zur Begrüßung mit ihren stämmigen Beinen eine richtige tiefe Kniebeuge und grinste sehr höflich, und in der Halle deutete sie mit dem besenstieldicken Daumen einladend nach der Treppe zum Oberstock.

Ramsay verriet in seinem Wesen nichts von dem großen persönlichen Erlebnis, das ihm die letzte Stunde gebracht hatte. Er war gelassen wie immer, nur seine Stimme klang etwas belegter als sonst. Brook schrieb dies der Wichtigkeit der Anweisungen zu, die er zu hören bekam, und spannte alle Sinne an, um sich jedes Wort einzuprägen. Er fühlte, daß es wieder einmal der Entscheidung entgegenging, und da konnte jede Kleinigkeit von Bedeutung sein.

»So«, schloß Ramsay endlich, »das wäre alles. Ich will nur die Rückkehr von Mrs. Machennan abwarten, dann mache ich ebenfalls einige Wege. Die beiden Leute mit dem Wagen und der Radfahrer haben pünktlich um vier Uhr beim Hydepark-Eingang in der Oxford Street zu sein. Suchen Sie die tüchtigsten aus, die zur Verfügung sind. Und Sie selbst werden auch gut daran tun, jemanden mitzunehmen, denn das Haus muß scharf beobachtet werden. Vor sechs Uhr dürfte kaum etwas los sein, aber dann passen Sie genau auf, wer aus und ein geht. Merken Sie sich das Aussehen der Leute, und notieren Sie auch die Zeit auf die Minute. Das kann von großer Wichtigkeit sein. Und« – Ramsays ernste Augen hefteten sich vielsagend auf Brook – »falls etwas geschehen sollte, mischen Sie sich nicht ein. Es genügt, wenn wir davon wissen. Spätestens um halb acht können Sie Ihren Posten wieder verlassen. Halten Sie sich dann hier auf; sollte ich aber nicht zu Hause sein, treffe ich Sie und Peter Owen um halb zehn in Chelsea.«

Er nickte verabschiedend, und obwohl Brook wieder einmal höchst aufgeregt war, da er an die gewissen hundert Pfund dachte, von denen einmal die Rede gewesen war, erwiderte er mit seiner gelangweiltesten Miene: »Sehr wohl, Sir.«


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