Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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13

Ramsay saß an einem kleinen Tisch dicht an dem mit Lorbeerstauden verkleideten Säulengang, der für das bedienende Personal bestimmt war. Er beschäftigte sich ausschließlich mit dem Dinner und hatte anscheinend für seine Umgebung keinen einzigen Blick. Trotzdem wußte er genau, daß der gewisse aufgeregte Mann einige Tische weiter zu seiner Linken ihn scharf beobachtete und von Minute zu Minute in immer größere Unruhe geriet. Zum dritten Male war er eben in seiner wuchtigen Art in das Vestibül gestürzt. Donald nahm die Weinkarte auf und winkte aus dem Säulengang einen älteren Kellner heran.

»Musigny«, sagte er nach kurzer Überlegung, »und Pommery Nature.« Dann fügte er rasch noch einige leise Worte hinzu, und der Mann entfernte sich mit wohlabgewogener Würde.

Der unruhige Gast blieb diesmal eine geraume Weile aus, aber als er zurückkehrte, trug er ein stark verändertes Wesen zur Schau. Er zeigte nun ebenfalls nur mehr Interesse für die wechselnden Platten und Schüsseln, und erst als sich Maud Hogarths Einzug unter so allgemeinem Aufsehen vollzog, wurde er wieder zappelig. Seine gespannte Aufmerksamkeit galt jedoch nicht der blendenden Erscheinung der jungen Dame, sondern einzig und allein wieder seinem Gegenüber mit der chinesischen Nelke, an dem sich seine stechenden Augen förmlich festsogen.

Doch er bekam nichts zu sehen, denn Donald Ramsay vermochte selbst dieses Ereignis nicht aus seiner Gleichgültigkeit aufzurütteln. Er hob zwar flüchtig den Kopf, weil die plötzliche Stille auch ihn berührte, aber schon in der nächsten Sekunde handhabte er sein Besteck gelassen weiter, obwohl ihn diese Entwicklung der Dinge doch einigermaßen beschäftigte. Er war Maud Hogarth noch nie im Leben begegnet, ahnte aber sofort, wer die Frau war, die eine derartige Bestürzung in dieser wohlerzogenen Gesellschaft hervorrief. Und es schien ihm mit einem Mal sicher, daß alle Andeutungen über die chinesische Nelke, die ihm seit dem vorgestrigen Morgen zugeflogen waren, vor allem aber die kleine Episode, die er eben erlebt hatte, ausschließlich mit dieser stolzen Schönheit in Beziehung standen.

Ramsay blinzelte nach der Blume in seinem Knopfloch und bedauerte in diesem Augenblicke fast, sie so hartnäckig verteidigt zu haben. Die Geheimnisse um Miss Hogarth interessierten ihn nicht, obwohl sie von besonderer Art zu sein schienen. Er hatte sich um Wichtigeres zu kümmern, und was damit nicht zusammenhing, durfte ihn nicht ablenken. Sein sechster Sinn hatte ihn diesmal offenbar getäuscht, und die chinesische Nelke hatte für ihn wahrscheinlich weiter keine Bedeutung. Er hätte sie jetzt gerne abgelegt, denn es war ihm nicht entgangen, daß auch die junge Dame die gleichen ungewöhnlichen Blüten trug. Das konnte auffallen und zu allerlei phantasievollen Fehlschlüssen verleiten. Aber er sagte sich, daß er die Sache nur verschlimmern würde, nachdem sein Knopflochschmuck von wenigstens zwei Personen bereits höchst unliebsam bemerkt worden war. Er konnte nichts Klügeres tun als sich völlig unbefangen geben und vorerst einmal den Wein abwarten, der ihm trotz der sonst so tadellosen Bedienung noch immer nicht serviert worden war.

Es dauerte aber noch eine weitere Viertelstunde, bis der Kellner wieder auftauchte, den Kübel mit dem Champagner absetzte und den weißen Burgunder entkorkte. Dann rückte er die Flasche auf dem Tisch so zurecht, daß der Gast die Marke gerade vor Augen hatte, und zog sich mit einer steifen Verneigung zurück.

Erst nach einer Weile goß Ramsay sich von dem Burgunder ein, und dabei blieb ein kleines Papierröllchen in seiner Hand. Es war auf ein gespaltenes Streichholz aufgewickelt, und Donalds lässig auf dem Tischtuch tändelnde Finger hatten keine besondere Mühe, den schmalen Zettel unauffällig zu entfalten und zu glätten. Der Mann mit den tückischen Augen sandte zwar immer wieder einen blitzschnellen Blick herüber, der gleichzeitig auch Maud Hogarth streifte, aber damit erschöpfte sich seine Aufmerksamkeit. Ramsay konnte in aller Ruhe die flüchtig hingekritzelten Zeilen überfliegen, die sich von dem Papierstreifen unter seinem lose aufgelegten Handteller abhoben:

Der Erste nach Bild Iwan Simonow. Asiatische Abteilung Nr. L 19. – Gefährlich. – Letzter Anruf: Klub der Globetrotter. – Der andere . . .

Donald Ramsay las weiter, was der Zettel ihm über den zweiten Mann zu sagen hatte, dem seine chinesische Nelke so ins Auge gefallen war, und der nun hier im Saal in Gesellschaft speiste. Diese Auskunft lautete weit weniger bedenklich als die erste. Sie war die bloße Abschrift einer Besuchskarte, die Eintritt in die allerersten Kreise gewährte – und doch bestimmte sie den Gentleman mit der chinesischen Nelke, sein Verhalten mit einem Schlag zu ändern.

Während er mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand das dünne Papier förmlich zu Mehl zerrieb, begann er mit der Linken auffallend an der Blume im Knopfloch zu nesteln und versuchte plötzlich ganz unverhohlen, die Aufmerksamkeit Maud Hogarths auf sich zu lenken.

Diese saß etwas schräg gegenüber in der Mitte des Saales, ihr Gesicht war jedoch durch eine große Vase mit Mistelzweigen und Rivierablüten verdeckt. Donald mußte den Platz wechseln, wenn er Ausblick gewinnen wollte, und er scheute nun sogar auch davor nicht zurück. Auf seinen Wink kam der Aufsichtskellner, der wieder seinen Posten im Säulengange bezogen hatte, neuerlich herbeigestelzt und legte mit einigen geschickten Handgriffen das Gedeck um. Dann rückte er den Stuhl davor zurecht, aber bevor Ramsay seinen neuen Platz einnahm, blieb er einige Sekunden hoch aufgerichtet stehen und sah in so aufdringlicher Art zu den beiden Frauen hinüber, daß sich an den nächsten Tischen bereits einige Köpfe in gespannter Neugierde hoben.

Nur Maud Hogarth merkte von diesem taktlosen Gebaren ebenso wenig wie von allem andern, was um sie vorging. Sie sprach unablässig lebhaft auf Tante Ady ein, und diese nickte ebenso unablässig lebhaft zurück. Sprechen konnte Mrs. Derham noch nicht, denn der schreckliche Einzug lag ihr noch immer ein bißchen in den Gliedern. Aber etwas wohler fühlte sie sich bereits, denn das Dinner war wirklich erstklassig.

Donald Ramsay mußte also einen günstigen Augenblick abwarten, und er gab sich alle Mühe, diesen nicht zu verpassen.

Über den Mann am Nebentisch aber war plötzlich eine starre Ruhe gekommen. Er saß mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern, und der Gentleman mit der chinesischen Nelke wußte, daß er nun auf der Hut zu sein hatte.


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