Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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31

Alles das war schneller gegangen, als Mauds Gedanken zu arbeiten vermochten, und sie rang noch immer mit dem lähmenden Schreck, als eine erregte und besorgte Stimme an ihr Ohr schlug.

»Ist Ihnen etwas geschehen, Miss Hogarth?«

»Ich – ich glaube nicht . . .«, stammelte sie.

»Gott sei Dank«, kam es erleichtert zurück. »Es muß ein böser Fall gewesen sein, aber es blieb mir keine andere Wahl. Ich hatte den Burschen leider zu spät bemerkt. Bitte, nur noch einen Augenblick, dann mache ich wieder Licht. Ich hätte die Laden schließen sollen, wollte Sie aber nicht zu sehr ängstigen.«

Kaum war Licht, als auch schon die ganze Bewohnerschaft aufgeschreckt ins Zimmer stürzte. Die guten Leute mochten wohl etwas anderes, noch Schlimmeres befürchtet haben; was sie vorfanden, genügte aber, um sie angstvoll an die Schwelle zu bannen.

Ramsay besah sich zunächst die Scheibe des Fensters, von der nur mehr wenige Scherben im Rahmen steckten, dann trat er zu der gegenüberliegenden Wand und tippte nach einem raschen Blick mit der Fingerspitze auf vier Einschläge, die sich deutlich von der hellen Fläche abhoben. Zwei davon lagen genau hinter dem Platz, auf dem er gesessen hatte, die andern beiden in gleicher Höhe etwas rechts davon.

»Vier Schüsse und jeder wohlgezielt«, sagte er halblaut und wandte sich dann an den völlig verstörten Wirt. »Es dürfte nicht viel Zweck haben, deshalb die Polizei zu alarmieren. Der Strolch ist inzwischen jedenfalls längst über alle Berge, und die Spuren im Garten werden kaum einen brauchbaren Anhalt ergeben. Glücklicherweise ist ja auch nichts Ernstliches geschehen.«

Die Wirtin erwies sich weit gefaßter als ihr Mann. »Es ist sehr freundlich, Sir, daß Sie die Sache so auffassen«, sprudelte sie lebhaft hervor. »Wir würden mit der Polizei nur eine Menge Scherereien haben, und die schreckliche Geschichte könnte uns das ganze Geschäft verderben. Die Herrschaften müßten sich ja fürchten, zu uns zu kommen. Obwohl es doch nur ein Verrückter gewesen sein kann . . .«

Auf Maud Hogarth hatte dieses neue Erlebnis derart eingewirkt, daß sie aus ihrer Benommenheit erst erwachte, als ihr Zweisitzer längst wieder nach London unterwegs war. Ramsay saß am Steuer, das sie ihm widerspruchslos überlassen hatte, da sie sich außerstande fühlte, den Wagen zu lenken. Sie war nicht furchtsam und nicht feige, aber die ernsten Gefahren, die sich ihr in so rascher Aufeinanderfolge offenbarten, hatten für sie etwas Unheimliches, weil sie nicht wußte, woher sie kamen und wie sie ihnen begegnen konnte. Der Mann aber, der sich ihr Verbündeter nannte und der gewiß manchen Aufschluß hätte geben können, hüllte sich hartnäckig in tiefes Schweigen. Immerhin schien er aber einiges Verständnis für ihre Lage zu haben, denn plötzlich begann er aus seiner Nachdenklichkeit heraus ganz unvermittelt davon zu sprechen.

»Sie werden es wohl sehr rücksichtslos finden, Miss Hogarth, daß ich Sie so im dunkeln tappen lasse«, sagte er ernst, »aber unter Umständen ist das besser, als sehend einen schlimmen Weg zu gehen. Schließlich müssen Sie ja auch nicht tappen, sondern sich nur vertrauensvoll von mir führen lassen. Ist Ihnen übrigens jemals ein Mann mit einem fast völlig kahlen spitzen Schädel begegnet?«

»Ich wüßte nicht . . .«, stammelte Maud, von der zusammenhanglosen Frage aufgestört, aber Ramsay schien auch kein Gewicht auf eine Antwort zu legen.

»Ich kann nur nicht verstehen«, fuhr er halblaut wie im Selbstgespräch fort, »weshalb der seltsame Kauz seine leuchtende Scheibe zu dem gefährlichen Unternehmen nicht bedeckt hatte. Hätte er Hut oder Kappe aufgehabt, wäre ich vielleicht nicht auf ihn aufmerksam geworden . . .«

Diese Frage beschäftigte Donald Ramsay dermaßen, daß er bis Notting Hill nicht ein einziges weiteres Wort verlor. Und die ebenso stille Maud Hogarth versuchte krampfhaft, darüber froh zu werden, daß der Mann an ihrer Seite nichts anderes im Kopf zu haben schien als ihren Pakt und was damit zusammenhing.


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