Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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12

Je näher der schreckliche Abend rückte, desto beklommener wurde der ruhe- und friedliebenden Mrs. Derham zumute, und sie versuchte daher noch in allerletzter Stunde, Maud wenigstens ein kleines Zugeständnis abzuringen.

Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit entwickelte sie bei der Toilette eine Ungeduld, über die sich die altjüngferliche Zofe allerlei heitere Gedanken machte, und es war noch nicht ganz halb sieben, als sie bereits in vollem Staat in die Zimmer der Nichte rauschte. Sie war trotz ihrer Fülle, der sie übrigens heute gehörig Gewalt angetan hatte, wirklich immer noch eine sehr gutaussehende Frau, und selbst die kritischen Blicke Mauds fanden an ihr nichts auszusetzen. Aber so glatt ging es nicht ab.

»Du kannst noch etwas mehr Schmuck anlegen«, sagte Maud mit einem kleinen boshaften Lächeln. »Vor allem das große Perlenkollier, das ja an dir genug Platz hat und daher besonders zur Geltung kommen wird.«

Mrs. Derham wußte zwar nicht recht, wie sie mit dieser Bemerkung daran war, aber sie nickte bereitwillig. »Gut. Ich dachte nur – weil du doch sonst nicht dafür bist . . .«

»Ich bin allerdings nicht dafür«, erklärte Maud, indem sie vor dem Spiegel mit der Fingerspitze an der bösen Falte zwischen den Brauen herumradierte, »aber andere sind es. Es gibt sogar Frauen, die so viel für diese Dinge übrig haben, daß sie die Gelbsucht bekommen, wenn sie solchen Schmuck am Halse einer andern sehen. Also, bitte, recht viel, liebste Tante Ady, und das Protzigste, was du unter unserem Familienschmuck auftreiben kannst.«

»Ich werde mich beeilen«, versicherte Mrs. Derham und fand, daß nun vielleicht eine günstige Gelegenheit sei, ihren Vorstoß zu wagen. »Mittlerweile wirst du wohl auch fertig sein, und dann können wir gleich fahren«, sagte sie. »Ich habe den Wagen auf sieben Uhr bestellt. Je früher wir dort sind, desto besser. In der letzten Viertelstunde kommt man immer in ein so furchtbares Gedränge . . .«

Sie bemühte sich, ihre Gründe möglichst unbefangen und überzeugend vorzubringen, war aber ihrer Sache gar nicht sicher, und ihr Herz klopfte gewaltig. Wenn das Kind wieder »Nein« sagte . . .

»Nein«, sagte das Kind tatsächlich. »Wir werden in kein Gedränge kommen, denn wir werden die Letzten sein. Und ich hoffe, daß unseren lieben Freunden gerade der beste Bissen im Munde stecken bleiben wird, wenn wir auftreten.«

»Oh«, hauchte Mrs. Derham verstört und weinerlich, »da werde ich ja so schrecklich lange in meinem hohen Mieder herumlaufen müssen!«

»Du kannst es noch reichlich eine Stunde ablegen«, erwiderte Maud ungerührt. Und es blieb so, wie sie es bestimmt hatte.

Und es geschah auch alles andere fast genauso, wie sie es sich gedacht hatte.

 

Es ging bereits gegen neun Uhr, als durch den großen Speisesaal plötzlich eine spannungsvolle Stille zu fluten begann. Sie kam vom Haupteingang her, wo das Stimmengemurmel mit einem Male abbrach und die wohlerzogenen Gäste jäh zu steifer Förmlichkeit erstarrten. Und dann lief sie von Tisch zu Tisch bis an die äußersten Enden des Saales, wo sich neugierig die Köpfe reckten.

Der Weg, den der geschmeidige Hoteldirektor die beiden Neuankömmlinge geleitete, war weit, aber nun, da es keine Rettung mehr gab, marschierte ihn Mrs. Derham mit dem Mut der Verzweiflung. »Haltung!« hatte ihr Maud vor der Flügeltür noch einmal ins Ohr gezischt, und der schneidende Ton war Tante Ady wie eine Stahlsäge in die zitternden Beine gefahren. Ihren Oberkörper aber straffte das hohe Mieder, und den Kopf hielt das breite Band kirschkerngroßer erlesener Perlen, das vom Halsansatz bis unter das Doppelkinn reichte. Nur die Augen richtete die tapfere Frau zu Boden.

Die endlose Minute wäre für die arme Mrs. Derham weniger schrecklich gewesen, wenn sie gewußt hätte, daß man sie trotz ihrer Stattlichkeit zunächst so gut wie gar nicht beachtete, da die Hunderte von offenen und verstohlenen Blicken ausschließlich ihrer Nichte galten.

Maud Hogarth hätte aber sicher auch unter anderen Umständen und in einem anderen Kreis die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, denn sie war unbestritten von ganz außergewöhnlicher Schönheit. Überraschenderweise hatte sie heute alles Herbe abgelegt, und sogar die kleine Falte an der Nasenwurzel war verschwunden. Sie schritt durch die starrenden Gruppen mit der Miene einer höchst uninteressierten jungen Dame und tat so, als ob sie nicht einem einzigen dieser gespannten Gesichter je im Leben begegnet wäre; und auch als sich sogar hier und dort ein Kopf zu einem verschämten Gruß neigte, hatte sie dafür nur kühles Befremden.

Mit einer einzigen Ausnahme . . .

Auch Admiral Sheridan hatte überrascht aufgeblickt, als es rings um ihn plötzlich so still geworden war, und dann hatte er das Besteck niedergelegt und mit seinen scharfen, lebhaften Augen den Auftritt verfolgt. Er war ein Mann von sehr impulsiver Art und hatte schon wiederholt vor aller Öffentlichkeit verblüffende Beweise davon gegeben.

 

Die Teilnehmer an diesem ereignisvollen Weihnachtsdinner sollten nun eine neue Geschichte von Sir John erzählen können.

Es geschah, als die bedauernswerte Mrs. Adelina Derham auf ihrem Leidensweg auf ungefähr zehn Schritte an seinen Tisch herangekommen war. In diesem Augenblick gab der Admiral seinem Sessel einen kräftigen Ruck und stand auch schon zu seiner vollen gewaltigen Höhe aufgerichtet; breitbeinig und gebieterisch, wie auf der Kommandobrücke seines Flaggschiffes. Dann ließ er den Blick durch den Saal gehen, als ob es gälte, eine Horde aufmuckender Blaujacken zu bändigen. Und als Mrs. Derham wie eine Nachtwandlerin an ihm vorübertappte, neigte er den wuchtigen weißhaarigen Kopf zum Gruße; kurz, militärisch, aber sehr ehrerbietig.

Tante Ady hielt das wahrscheinlich für Spuk und marschierte krampfhaft weiter; der alte Gentleman kümmerte sich jedoch nicht darum. Er wartete, bis er Mauds Augen begegnete, und dann wiederholte er die Begrüßung. Sie fiel diesmal äußerst herzlich aus, denn Sir John fühlte sich veranlaßt, dabei ermunternd zu blinzeln und seine Linke an die breite Brust zu drücken.

Da ließ auch Maud Hogarth für Sekunden ihre Maske fallen, und Admiral Sheridan erntete ein so liebes, dankbares Lächeln, daß sich sein Nußknackermund von einem Ohr bis zum andern verzog. Hierauf sah Sir John noch einmal über die Tische hinweg und rückte schließlich seinen Sessel ebenso kräftig wieder zurecht, wie er ihn vorher zurückgeschoben hatte.

Mrs. Derham saß bereits, und die Perlen an ihrem Hals wogten lebhaft auf und nieder. Sie behauptete später, als sie zu sprechen imstande war, daß ihre Kräfte auch nicht einen einzigen Schritt weiter gereicht hätten.

Dagegen hatte Maud es gar nicht so eilig, sich der peinlichen Aufmerksamkeit zu entziehen. Diese war übrigens plötzlich sehr abgeflaut. Die so nachdrücklich unterstrichene Höflichkeit des Admirals hatte wie eine kalte Brause gewirkt, denn Sir John war jemand und galt auch in der Gesellschaft etwas. Dabei war mit ihm nicht gut Kirschen essen. Man zog es daher vor, die unterbrochenen Tischgespräche rasch und unbefangen wieder aufzunehmen und die große Sensation nur im Flüstertone zu verarbeiten.

Maud Hogarth wußte das, und es störte sie so wenig, daß sie mit gelassener Umständlichkeit den Pelzumhang ablegte, bevor sie Platz nahm. Zum Unterschied von der wirklich effektvoll behangenen und besteckten Tante Ady trug sie als einziges Schmuckstück eine Brillantspange, die drei weiße Blüten festhielt.

Es waren wundervolle chinesische Nelken, und man fand, daß diese Kühnheit allem die Krone aufsetzte.


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