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Einunddreißigstes Kapitel.
Vorhang!

Ferris Mance weigerte sich beharrlich, ein volles Geständnis abzulegen. »Es gibt eine Menge Dinge, die ich getan habe, von denen ihr nichts wißt,« meinte er mit einem falsch angebrachten Humor, »warum soll ich mich selbst mehr belasten, als nötig ist?«

»Du kannst für einen Mord genau so gut aufgehängt werden wie für sechs,« betonte Kay bei der Gelegenheit, und der Gefangene lächelte.

»Das stimmt,« sagte er ruhig, »aber ich werde überhaupt nicht gehängt werden.«

»Du willst fliehen?« fragte Bromley Kay halb mitleidig.

»Das habe ich nicht gesagt,« entgegnete Mance rätselhaft und brach ab. Aber in Bromley Kay erweckte diese Bemerkung unbehagliche Neugier, und er hielt es für seine Pflicht, bestimmte Dinge zu klären.

»Bilde dir nicht ein, daß du nicht gehängt wirst,« sagte er ernst, »die Beweise gegen dich sind überwältigend, du hast keine Aussichten auf Freisprechung.«

»Vorläufig bin ich noch gar nicht vorm Richter gewesen,« entgegnete Ferris Mance ausweichend, und dabei blieb es.

Mance ließ es jedoch zu, daß über einige ungeklärte Punkte der Verbrechen, die man ihm zur Last legte, Klarheit geschaffen wurde, und sprach mit bezeichnendem Stolz von dem Überfall auf den Nachtzug. Er erklärte, daß er selbst im Zuge gewesen sei und sich im passenden Moment in der Harmonikaverbindung des Waggons aufgestellt hätte. Vorher hatte er sich einen Schlüssel angefertigt, der es ihm ermöglichte, die Tür zu öffnen, die aus dem letzten Waggon in den Packwagen führte.

Das Geräusch des Öffnens wurde vom Rattern des Zuges übertönt, und als die überraschten Männer ihn anstarrten, hob er das Blasrohr an die Lippen. Ein Glaskügelchen nach dem andern zersplitterte auf dem Boden des Wagens. Um ganz sicher zu gehen, schloß er die Tür ein paar Sekunden, während er eine Gasmaske überstülpte.

Das Gas tat seine Wirkung. Er betrat den Güterwagen und verschloß die Verbindungstür. Der Zug war jetzt gerade in der Steigung, und er machte sich eilig ans Werk. Die Goldkisten wurden umgekippt und rollten nacheinander die Böschung hinunter. Als die letzte erledigt war, kletterte er aus dem Güterwagen hinaus und sprang ab. Außer ein paar Schrammen tat er sich keinen Schaden.

Die Plutarch-Affäre war sogar noch einfacher in ihrem Hergang. Da war er imstande gewesen, seinen Leuten genaue Instruktionen zu geben und so ihre Handlungen auf die Sekunde genau einzuteilen. Der Angriff auf ihn selbst diente dem doppelten Zweck, den Verdacht von ihm abzulenken und ihm die Möglichkeit zu geben, die Verfolger einige Sekunden aufzuhalten, damit die andern einen kleinen Vorsprung gewinnen konnten. Comstocks Alibi hatte man natürlich vorher zurechtgelegt, und gewisse Punkte, die kontrolliert werden konnten, waren sorgfältig ausgekundschaftet worden. Dadurch, daß er dem Wagen selber folgte, war es Mance möglich gewesen, die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken.

»Comstock wußte zu viel,« sagte er achselzuckend, »er hatte mich ohne Maske gesehen, und ich wußte, daß er mich bei der nächsten Gelegenheit der Polizei verraten hätte.«

Daß er immer als ein schwarzhaariger, dunkeläugiger Mann beschrieben worden war, während er in Wirklichkeit hellblaue Augen und blondes Haar hatte, machte ihm viel Vergnügen.

»Gewöhnliches Haaröl macht das Haar dunkel und glänzend, wenigstens für ein paar Stunden,« erklärte er, »man kann ihm später durch Waschen die natürliche Farbe wiedergeben. Und es wundert mich, daß Sie den alten Trick nicht kennen, wie man sich die Augen färbt: Dazu gehört nichts weiter als ein feiner Pinsel und eine ruhige Hand. Dann brauchen Sie nur ein wenig von der Farbe, die die Augen erhalten sollen, auf die Wurzeln der Wimpern aufzutragen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.«

Zu ein paar berühmten Irrenärzten war er sehr liebenswürdig. Zu einem von ihnen sagte er: »Ihrer Ansicht nach bin ich vollkommen verrückt, darüber wollen wir nicht streiten.«

Nur einen Menschen wollte er durchaus nicht sehen. Wenn man George Emmerson nur erwähnte, geriet er in wahnsinnige Wut.

Sein Benehmen während der Gerichtsverhandlung war bemerkenswert. Er versuchte nicht, sich zu verteidigen. Er stellte bestimmte Einzelheiten der Anklageschrift richtig, aber an der Gesamtdarstellung der ihm zur Last gelegten Verbrechen hatte er nichts zu beanstanden.

»Sie haben ganz recht,« sagte er bei jedem neuen Fall, »aber ob Sie recht haben oder nicht, wird am letzten Ergebnis nichts ändern.«

Er empfing das Todesurteil ohne jede Erregung. Das einzige Zeichen von Interesse war ein überlegenes Lächeln.

Aber er äußerte in den folgenden Tagen immer wieder, daß er keineswegs gehängt werden würde. Der Direktor des Gefängnisses, in dem seine Hinrichtung erfolgen sollte, fragte ihn offen, ob er damit sagen wolle, daß er zu fliehen beabsichtige.

»Nicht, wie Sie meinen,« antwortete er vieldeutig, und darum glaubte man, daß er Selbstmord begehen wolle.

Er wurde besonders streng bewacht, und ihm wurde jede Möglichkeit zum Selbstmord oder zur Flucht genommen. Er lächelte nur über ihre Vorsichtsmaßnahmen; denn auf die Überraschung, die er in Bereitschaft hatte, war wahrscheinlich niemand von ihnen gefaßt.

In der Frühe eines trüben Dezembermorgens kam der Henker mit den notwendigen Stricken, und Ferris Mance stand lächelnd auf.

Das war das letzte, was er auf Erden tat; im nächsten Augenblick wurde sein Gesicht dunkelrot, er stieß einen schrecklichen, gurgelnden Laut aus. Er starb sofort.

»Ein sehr einfacher Tod, und doch konnte ihn niemand vorhersehen,« sagte der Gefängnisarzt zu Bromley Kay und dem Gefängnisdirektor.

»Was hat ihn eigentlich getötet?« fragte der Kommissar neugierig.

»Er hat seine eigene Zunge verschluckt,« sagte der Arzt und erklärte, wie das möglich wäre.

*

Es dauerte viele Wochen, bis Peggy Forrest wieder ganz hergestellt war. Sie hatte einen Nervenchok erlitten, und nur die Zeit konnte sie vollständig heilen.

Als der Sommer kam, lebte sie wieder auf, und auf Wunsch des Arztes fuhr sie zur Erholung an die See.

Am Strande eines Seebades, das wir nicht nennen wollen, fand George Emmerson sie endlich. Er kam über die Dünen, als die Sonne unterging.

Das Mädchen blickte auf, als er sich näherte, und ihr blasses Gesicht bekam Farbe.

»Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen, George. Was führt dich denn her?«

»Du Peggy. Ich würde dir bis ans Ende der Welt folgen.«

Das Mädchen sagte nichts, sondern strich mit den Fingern müßig durch den Sand.

»Du solltest lieber mein Haar streicheln als den Sand, Peggy.«

»Komm her!« flüsterte sie.

Sie saßen eine Weile und schienen beide befangen zu sein. Das Mädchen spürte, was er vorhatte, sie war darüber erfreut und zugleich ein wenig erschrocken. Es begann zu dämmern, und die Dunkelheit umhüllte sie. »Peggy, willst du mich heiraten?« sagte der Mann endlich.

Das Mädchen antwortete nicht sofort.

»Ich denke, ich habe dir oft genug eine Antwort auf diese Frage gegeben,« sagte sie nach einer Pause.

»Ja, das hast du. Aber ich lasse mich nicht so leicht abweisen.«

»Das sehe ich, George. Aber habe ich dir nicht gesagt, daß ich überhaupt nicht die Absicht habe zu heiraten?«

»Ist es, weil ich ...« sagte er und brach dann ab.

»Wegen Ferris?« sagte sie ruhig. »Nein, deswegen nicht. Ich hatte schon mit ihm gebrochen, ehe er gefaßt wurde, teils, weil ich sah, daß wir zusammen niemals glücklich geworden wären, und teils, weil ich eine dunkle Ahnung hatte, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte, obgleich ich – offen gestanden – die schreckliche Wahrheit nicht ahnte.«

»Dann ist also keine Hoffnung für mich?« sagte Emmerson langsam.

Das Mädchen rückte hin und her, ohne zu antworten.

»Ich glaube, du bist dir über dich selbst nicht im klaren,« sagte Emmerson bestimmt, »du wirst mich heiraten, ob du willst oder nicht, und zum Beweis meiner Entschlossenheit werde ich dich jetzt in die Arme nehmen und so lange küssen, bis du mich bittest aufzuhören.«

Das Mädchen rührte sich nicht. Mit einer schnellen Bewegung schloß er sie in die Arme und küßte sie. Da schlang sie zu seiner größten Überraschung die Arme um seinen Hals und preßte ihre Lippen auf die seinen.

»Du lieber, törichter Mann,« murmelte sie, »wie viele Gelegenheiten hast du vorübergehen lassen! Das hättest du schon lange tun sollen!«

»Ich weiß nicht,« sagte er verlegen, »ich hatte doch noch keine Gelegenheit.«

»Ich besinne mich auf eine Gelegenheit, und du ließest sie ungenutzt,« flüsterte sie.

Er sah sie überrascht an. »Wann war das?« fragte er.

»Das war in der Nacht, als du mich aus dem schrecklichen Hause befreitest. Du trugst eine Maske, aber ich erkannte dich.«

»Dann mußt du auch Ferris Mance erkannt haben, als er dich entführte,« sagte er einfach.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe mir nur eingebildet, daß ich den armen Ferris liebte, aber in Wirklichkeit liebe ich dich. Als du mich in der Nacht in deinen Armen die Treppe hinuntertrugst, fühlte ich, daß du es warst und daß du mich sehr lieb hast.«

»Wie kam das?« fragte er neugierig.

Das Mädchen bewegte den blonden Kopf ein wenig an seiner Schulter, Und ihr warmer Atem streifte seine Wange.

»Manche Dinge fühlt man eben,« sagte Peggy verträumt.

»Trotz alledem hattest du unrecht, und ich hatte recht,« sagte George. »Du meintest, ich würde das Mädchen bekommen, das ich verdiene.«

»Stimmt das nicht?«

»Nein, das Mädchen, das ich bekommen habe, ist viel zu gut für mich.«

»Jedenfalls mußt du mich nehmen, wie ich bin. Du kannst jetzt nicht mehr zurück. Ich werde dich niemals mehr von mir lassen.«

Sie bekräftigte ihre Worte dadurch, daß sie ihn fest in die Arme schloß.

 

Ende

 


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