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Zweites Kapitel.
Der Mann, der den falschen Brief erhielt

Camden Hale war früher nur ein bescheidener Geschäftsmann gewesen. In seiner Jugend hatte er die Dummheit begangen, eine vollkommen ungebildete Frau zu heiraten. Er machte seinen Irrtum wieder »gut«, indem er sie nach einem halben Jahre verließ und sein Leben von neuem begann, als ob sie niemals existiert hätte. Als er später Erfolg hatte und reich geworden war, heiratete er eine Frau aus seinen Kreisen, in der Erwartung, fortan ein behagliches, angenehmes Leben zu führen.

Donald McNab hatte unter dem Namen J. Green hiervon auf verschiedenen Wegen Kenntnis erhalten. Eines Nachts, als die ehrbaren Bürger schon im Bett lagen, steckte er – wie er glaubte – durch den Spalt in der Haustür Camden Hales einen Brief, in dem er sein Wissen mitteilte und den Preis für sein Schweigen nannte.

Hale wohnte Canover Straße 54. Aber in der Zwischenzeit, da McNab die Adresse feststellte und den Brief ablieferte, war die Nummer entfernt worden und dafür eine 78 gesetzt.

Der Mann, der in dem nunmehr mit Nr. 54 bezeichneten Hause zufällig den Brief erhielt und öffnete, las ihn voll Überraschung, dann begann er laut zu lachen; denn die Geschichte Camden Hales war kurz erzählt, ein Schweigegeld genannt und ein Treffpunkt für die Nacht bestimmt.

»Das ist zwar nicht für mich bestimmt, aber ich sehe nicht ein, warum ich nicht Vorteil daraus ziehen soll. Solche Göttergeschenke sind sehr selten. Das Geld wird in meiner Tasche genau so nützlich sein wie in der Mr. Greens.«

Er faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Brusttasche. Dort war er noch, als er um elf Uhr abends an einer bestimmten Stelle des Clapham Parkes aus dem Dunkel heraustrat und auf ein Auto zuging, das gerade dicht an die Bordschwelle fuhr. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen; denn die Nacht war kühl. Die Hutkrempe hatte er tief in die Augen gezogen.

»Steigen Sie ein,« sagte eine schroffe Stimme, »setzen Sie sich neben mich und legen Sie die Hände auf die Knie, damit ich Sie genau sehen kann.«

Der Fremde tat, wie ihm befohlen wurde, er zeigte sich durchaus nicht widerspenstig, im Gegenteil, er handelte mit der größten Bereitwilligkeit, als ob dieses Abenteuer gerade nach seinem Geschmack sei. Er lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete aufmerksam den Mann am Steuer. Aber er konnte außer dem beschatteten Gesicht, das wie sein eigenes durch den hochgeschlagenen Mantelkragen und die heruntergezogene Hutkrempe fast verdeckt war, nichts erkennen.

Der Wagen fuhr durch die Vororte, bis er eine dunkle Stelle erreichte, wo weit und breit niemand zu sehen war. Der Mann am Steuer stoppte mit einem quietschenden Geräusch, das den unkundigen Fahrer verriet, und wandte sich zu dem Fremden.

»Nun können wir über unser Geschäft sprechen, Mr. Hale,« sagte er wohlwollend.

Der Fremde lachte leise. »Das will ich gern tun,« sagte er, »aber Sie sind im Irrtum, wenn Sie mich Hale nennen, das ist nicht mein Name.«

»Konnte Mr. Hale nicht kommen? Hat er Sie deshalb gesandt?« fragte der angebliche Mr. Green.

»Ob er kommen konnte oder nicht, weiß ich nicht,« erwiderte der andere freundlich. »Um ganz offen zu sein: Er hat Ihren Brief gar nicht bekommen.«

»Oh!« – Es klang etwas wie Schreck in dem Ausruf. »Wer sind Sie denn?«

»Mein Name tut nichts zur Sache, nehmen wir an, ich sei ebenso wie Sie ein einfacher und unbekannter Mann. Nein? Nun, es genügt Ihnen zu wissen, daß ich den Inhalt des Briefes kenne, den Sie an Mr. Hale geschickt haben. Ich bin vollkommen damit einverstanden. Ich habe nicht die Absicht einzugreifen, nur möchte ich eine bessere Methode vorschlagen und natürlich den Gewinn teilen, sagen wir: jeder die Hälfte.«

»Das ist Erpressung,« sagte J. Green heiser.

»Allerdings, es ist Erpressung. Aber bitte, fuchteln Sie nicht mit den Händen so herum. Können Sie nicht ohne solche waghalsige Hilfe sprechen? Ich weiß, es unterstützt die Unterhaltung, aber ich bin etwas nervös und könnte schießen. Sie glaubten, ich hätte keine Waffe, wie? Nun, ich habe seit zehn Minuten eine in der Hand, natürlich nur zur Vorsicht.«

Er öffnete seine Hand und zeigte ein winziges, vernickeltes Spielzeug, das trotz seiner geringen Größe auf kurze Entfernung wirksam genug sein konnte. »Man soll sich niemals Überraschungen aussetzen, nicht wahr?«

J. Green zuckte die Achseln, denn unter seinem Decknamen hätte er manches tun können, was Donald McNab nicht erlaubt war.

»Nun,« sagte er, nachdem er schweigend überlegt hatte, »was denken Sie zu tun?«

Der Fremde betrachtete ihn nachdenklich. »Es scheint mir, daß sich aus Ihren Kenntnissen allerlei herausholen läßt, vorausgesetzt, daß die Sache richtig gehandhabt wird. Ich schlage vor, daß wir unser Unternehmen auf solide geschäftliche Grundlage stellen. Wir wollen ein Syndikat bilden und Verstand, Informationen und Gewinn zusammenwerfen.«

»Je mehr da sind, desto kleiner der Anteil,« murrte Green.

»Das ist wohl richtig, aber andererseits besteht die Möglichkeit, daß sich durch den Zusammenschluß ein größerer Gewinn erzielen läßt. Ich nehme an, daß Ihre verbrecherische Tätigkeit – fahren Sie bei dem Wort nicht gleich hoch, es ist vollkommen richtig – Ihnen nicht mehr als einige tausend Pfund jährlich einbringt. Unterwerfen Sie sich meinem Befehl, tun Sie genau, was ich sage, und ich verpflichte mich, Ihr Einkommen zu verdoppeln, vielleicht zu verdreifachen! Was sagen Sie dazu?«

»Ich liefere mich damit vollkommen in Ihre Hände,« meinte J. Green.

»Das haben Sie schon jetzt getan; ich hoffe, daß Ihnen das klar ist,« sagte der andere. »Aber wir wollen darüber nicht streiten. Ich warne Sie: Wenn Sie mein Angebot jetzt nicht annehmen, werde ich es nicht wiederholen. Ich werde dann meine eigenen Wege gehen, und Sie werden finden, falls Sie meinen Weg kreuzen, daß ich ein zäher Kunde bin, mit dem nicht zu spaßen ist. Es ist vorteilhafter, mit mir als gegen mich zu arbeiten.«

»Es bleibt mir nichts anderes übrig,« sagte J. Green gequält.

Eine schnelle Betrachtung der Lage hatte ihn überzeugt, daß es wirklich besser sei, mit diesem Mann als gegen ihn zu arbeiten.

»Ich bin überzeugt, Sie haben den besseren Weg gewählt. Schlagen Sie den Hut hoch und den Mantelkragen herunter! Ich möchte wissen, wer Sie sind. J. Green kann nicht Ihr richtiger Name sein, das sehe ich aus der Art, wie Sie mit den Händen reden.«

Für eine Sekunde zauderte der andere, dann gehorchte er widerwillig. Der Fremde beugte sich vor und ließ den Strahl einer elektrischen Lampe auf das Gesicht seines Gefährten fallen.

»Ah, Sie sind es, Mr. Donald McNab,« lachte er, »ich hatte so eine Ahnung, Ihre Stimme kam mir bekannt vor. Ich habe Sie lange beobachtet, aber daß Sie und Mr. Green derselbe seien, ist mir nicht in den Sinn gekommen.«

Als er die Taschenlampe löschte und einsteckte, berührte Donald McNab seinen Arm. »Wäre es nicht besser, wenn ich Ihr Gesicht ebenfalls sähe?« schlug er fragend vor.

»Nein,« antwortete der andere kurz, »der Augenblick, wo Sie mich kennen, wird Ihr letzter sein.«

Donald McNab alias J. Green unterwarf sich.

Auf dem Heimwege war er still und nachdenklich; denn obwohl die neue Verbindung ihm verlockende Aussichten bot, hatte sie doch auch Nachteile, das erkannte McNab wohl. Trotzdem, er war dem andern zu sehr ausgeliefert; wenn er auch gewollt hätte, er konnte nicht zurück. Selbst wenn er nur den Vorschlag machte, könnte es ihm vielleicht schlecht bekommen.

»Sie werden wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen von mir hören,« bemerkte der Unbekannte, als er an der Stelle, wo sie sich getroffen hatten, den Wagen verließ.

»Versuchen Sie nicht, mit mir in Verbindung zu treten! Sie werden sagen, Sie könnten das nicht, weil Sie mich nicht kennen. Doch vielleicht haben Sie die Absicht, mir zu folgen; da warne ich Sie in Ihrem eigenen Interesse.«

Donald McNab lächelte vor sich hin, als er beobachtete, wie der Fremde in der Dunkelheit verschwand. Es stimmte, was der Mann gesagt hatte, er kannte ihn nicht, aber er hoffte, daß er am nächsten Morgen den Schleier würde lüften können.

Das Glück wollte es, daß fast gegenüber von Nummer 54 der Canover Straße der Laden eines Tabak- und Zeitungshändlers war. McNab trat ein, scheinbar, um einige Einkäufe zu erledigen, in Wirklichkeit aber, um die notwendigen Erkundigungen einzuziehen.

»Übrigens, können Sie mir sagen, wo Nummer 54 ist,« bemerkte er, als er sein Geld einsteckte.

»Fast gegenüber,« sagte der Ladeninhaber mit der Hand zeigend. Durch die offene Ladentür konnte man das Haus sehen. »Das ist es,« setzte er erklärend hinzu.

»Wissen Sie, ob dort ein Mr. Smith, Mr. John Smith, wohnt?«

»Nein, der wohnt da nicht,« sagte der Tabakhändler, »wenn Sie Mr. Smith suchen, müssen Sie mal die Straße etwas weiter hinuntergehen. Die Nummern der Häuser sind vor kurzem geändert, und ich glaube, einige Häuser weiter ist ein neuer Besitzer eingezogen.«

»Das ist offenbar ein Irrtum,« sagte Donald McNab mit zusammengekniffenen Brauen, »ich könnte schwören, daß 54 die Nummer ist, die man mir gab. Ich – ich glaube, ich habe sie mir aufgeschrieben.«

Er zog ein dünnes Notizbuch aus der Tasche und tat, als ob er suche, »Ja, 54 ist bestimmt die Nummer,« sagte er.

»Aber Sie müssen doch wohl einige Häuser weiter suchen, in Nummer 54 wohnt kein Mr. Smith. Dort wohnt Mr. Emmerson, eine Art Detektiv, hat mit der Polizei zu tun. Augenblicklich ist er verreist und kommt vor Ende der Woche nicht zurück. Ich weiß es, weil er seine Zeitungen bei mir kauft.«

»Ich danke Ihnen von Herzen,« sagte McNab mit umständlicher Höflichkeit, die er sonst nur für seine besten Kunden bereit hatte.

Als er die Straße entlang ging, waren seine Gedanken ein Chaos.

»Das kann unmöglich Emmerson gewesen sein, den ich letzte Nacht traf,« beschloß er bei sich. »Vielleicht einer, der ihn kennt. Verdammt – ich hätte den Händler fragen sollen, ob ein Dienstbote im Hause ist. Von dem hätte ich wahrscheinlich was erfahren können.«

»Aber nun ist es zu spät, um zurückzugehen und zu fragen,« setzte er ärgerlich hinzu.


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