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Die Nachricht von der Flucht und dem Tode Donald McNabs traf den »Würger« wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er wußte wohl, daß in letzter Zeit auf McNab kein Verlaß mehr gewesen war, aber er hatte nicht erwartet, daß er eine Flucht versuchen würde.
Er nahm die Zeitung und las die Nachricht noch einmal sehr sorgfältig durch. Der Bericht über seine Beziehungen zu McNab war in mehr als einer Hinsicht ungenau. Aber im großen und ganzen war er genau genug, um ihn vor Angst erschauern zu lassen. Als er weiterlas und anfing, gar zwischen den Zeilen zu lesen, steigerte sich seine Unruhe zur Aufregung.
Der Mann, der den Zeitungen die Nachricht geliefert hatte, schien sehr gut unterrichtet zu sein, er entfaltete ein unheimliches Wissen über Dinge, von denen der »Würger« bestimmt glaubte, daß sie unbekannt seinen.
Die Geschichte seiner Taten war kurz aufgezeichnet, und zum ersten Male erhielt die Öffentlichkeit einen Hinweis auf die gewaltige Organisation der Verbrechen, die mit der Erpressung und dem folgenden Tod Camden Hales begonnen hatten. Die Taten des »J. Green« wurden dargelegt, und an diesem Tage muß es eine ganze Anzahl von Leuten gegeben haben, die zum erstenmal in ihrem Leben von dem kleinen Vermittlungsbüro hörten, das unter diesem Namen geführt wurde, und sie verstanden nun, wie manche ihrer verborgenen Sünden dem Erpresser zu Ohren gekommen waren. Und bei dieser Feststellung werden viele von ihnen zum ersten Male seit Jahren wieder frei aufgeatmet haben.
Doch es gab wichtige und augenfällige Lücken in dem Bericht. Das Geheimnis des Plutarch-Raubes blieb zum Beispiel ohne befriedigende Aufklärung, und da waren gewisse Punkte in Verbindung mit der Nachtzug-Episode, die keine Lösung fanden.
»Der Hauptverbrecher, der unter dem Namen der ›Würger‹ bekannt ist, ist noch auf freiem Fuße,« schloß der Artikel, »aber die Polizei verfolgt eine Spur, und für die nächsten Tage sind interessante Enthüllungen zu erwarten. In gutunterrichteten Kreisen der Polizei wird darauf hingewiesen, daß die Entlarvung der wahren Person des Führers dieser Räuberbande für die Öffentlichkeit eine große Überraschung sein wird.«
Der »Würger« las den letzten Satz zweimal und als er die Zeitung hinlegte, zeigte sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck.
»Es sollte mich wundern, ob nicht doch irgendein schlauer Spürhund unter all den Strohköpfen schließlich auf die richtige Fährte gestoßen ist,« sagte er halblaut.
In einer plötzlichen Aufwallung von Ärger ballte er das Blatt zusammen, zerriß es und warf die Stücke in das offene Feuer. »So möchte ich es mit allen machen! Sie in die Hand nehmen und in Stücke reißen,« zischte er.
Sein Gesicht zuckte vor Leidenschaft, und seine Augen glänzten in einem Licht, das mehr der roten Flamme des Wahnsinns als der Wut glich.
Schließlich beruhigte er sich, trat an das Fenster und starrte hinaus. Die Dämmerung senkte sich draußen auf die Straßen, und die Lichter der Stadt blitzten auf. »Es wird trotzdem eine gute Nacht für mich werden,« murmelte er, »eine dunkle Nacht zum dunklen Werk. Gut, ein letzter Streich, eine kleine Privatrache, und dann Flucht.«
Er ging in sein Schlafzimmer und schloß die Tür zu einem kleinen Schreibtisch auf. Diesem entnahm er einen Schminkkasten, wie ihn die Schauspieler gebrauchen, setzte sich, stellte einen kleinen dreieckigen Spiegel vor sich hin und wählte einen feinen Pinsel aus.
»Bald werde ich keine Ähnlichkeit mehr mit mir haben,« murmelte er und lächelte, als er die Spitze des Pinsels in die Schminke tauchte.
*
Der »graue Bock« saß ärgerlich in einem Stuhl und sog gedankenvoll an der Pfeife. Die Nacht war nicht kalt, dessenungeachtet prasselte das Feuer. Es sah aus, als ob es dem »grauen Bock« nicht warm genug werden konnte. Wahrscheinlich war es das Interview – wenn man es so nennen konnte – das er eben gehabt hatte, welches einen Schauer der Furcht hinterlassen hatte, die wohl kein Feuer der Welt bannen konnte.
Die Nachricht von Donald McNabs Tod hatte ihn furchtbar erregt. Es schien, als ob die Polizei ein Netz um die verschiedenen Mitglieder der Bande des »Würger« geworfen hätte, dem zu entwischen unmöglich war. Ein Umstand allein gab ihm ein Fünkchen Trost, das war der Glaube, daß es wenig oder gar keine Beweise gegen ihn gab. Im Grunde hatte er niemals an irgendeiner der Taten des »Würgers« teilgenommen. Seine ganze Mitarbeit hatte hauptsächlich darin bestanden, daß er ihm bei der Organisation der Verbrecherbande behilflich gewesen war.
Und nun ... Gut, sie waren alle erledigt außer ihm und dem »Würger«. Auch diesem war man auf der Spur. Er wollte noch eine letzte Tat ausführen, die er nur angedeutet hatte, die der »graue Bock« aber erraten hatte. Denn schließlich war er kein Dummkopf. In diesem Augenblick rang der Alte mit seinem Entschluß, der ihn nicht wenig quälte. In seinen Kreisen herrschte die Gewohnheit, daß man dem Manne, der gut zahlte, auch die Treue hielt. Und der Graue konnte nicht vergessen, daß der »Würger« auf der Höhe seines Erfolges außerordentlich gut bezahlt hatte. Doch die Lage, in der er sich jetzt befand, war ganz anders. Er konnte nur hoffen, daß er falsch geraten hatte. Wenn das nicht der Fall war ...
Seine Betrachtungen wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Es war ein seltsames Zusammentreffen, das nur eine Bedeutung haben konnte. Er stand gemächlich auf und ging durch den Laden zur Eingangstür.
Mit verstellter Überraschung begrüßte er die beiden draußenstehenden Männer.
»N'abend, Mr. Emmerson, n'Abend, Mr. Kay! Ich habe nicht erwartet, Sie um diese Zeit zu sehen.«
Er lächelte krampfhaft und trat beiseite, um seine Besucher eintreten zu lassen. Kay ging in das Zimmer hinter dem Laden, aber Emmerson wartete.
»Nach dir, William,« meinte er zum Alten. »Ich habe es nicht gern, wenn Leute hinter mir gehen. Das verursacht mir immer so ein unangenehmes Gefühl. Ein Wahrsager erzählte mir einmal, ich könnte erstochen werden, wenn ich nicht vorsichtig wäre. Da ist es schon besser, daß man sich in acht nimmt, nicht wahr William?«
»Ich denke ja,« sagte der andere mürrisch.
»O ja, das kann ich dir versichern, wenn dein Freund Donald McNab ein bißchen vorsichtiger gewesen wäre, würde er heute wohl noch am Leben sein, und es ginge ihm gut, wohin er auch reisen würde.«
An der Tür des Wohnzimmers blieb er stehen.
»Hu, hier ist es ja wie in einem Ofen. Warum hast du denn in einer so milden Nacht ein solches Feuer? Hast du etwas verbrannt?«
»Nein,« sagte der ›graue Bock‹ laut, vermied es aber, Emmerson anzusehen.
»Nun, vielleicht hast du nicht selbst etwas verbrannt,« fiel Kay ein, »aber sicherlich dein Freund, der ›Würger‹.«
»Ich ... habe ihn wer weiß, wie lange, nicht gesehen,« sagte der »Graue« schnell, aber die winzige Pause zwischen dem ersten und zweiten Wort genügte, um den beiden Detektiven alles zu verraten, was sie wissen wollten.
»Lüge uns nichts vor, mein Freund, er ist heute abend hier gewesen, und wenn du ihn nicht gesehen hast, so geschah es, weil du die Augen geschlossen hieltest,« sagte Kay ernst.
Kay hatte das nicht aufs Geratewohl gesagt; er hatte in dem kleinen Aschenbecher auf dem Tisch ein winziges Häufchen Asche gesehen, das sicher nicht vom Pfeifentabak herrührte. Ein Streichholz lag im Aschenbecher, ein Streichholz, das gebraucht worden war, um die Zigarette anzuzünden, und dann von dem Manne zerbrochen worden war. Das Zerbrechen eines gebrauchten Streichholzes war eine kleine Eigenart, die jemandem zur Gewohnheit geworden war und auf eine bestimmte Person deutete.
»Er ist hier gewesen,« fuhr Kay fort, »er ist in der letzten Stunde hier gewesen.« Das war wieder eine Vermutung, aber sie konnte von der Wirklichkeit nicht weit entfernt sein – »und ich glaube, er wollte dir erzählen, daß das Spiel aus ist.«
Der »Graue« starrte den Detektiv an. Er war so sichtbar überrascht, daß er diesmal nicht einmal versuchte zu leugnen.
»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden,« erklärte er, aber es klang wenig überzeugend.
»Nein?« George Emmerson drehte sich plötzlich zu ihm um. »William,« fuhr er ihn an, »versuche nicht, uns etwas vorzumachen, sonst wirst du mit dem ›Würger‹ zusammen baumeln! Ich weiß nicht, ob du an den Morden beteiligt warst, aber das kann ich dir sagen: Wenn wir dich auf die Anklagebank bringen, dann haben wir so viele Beweise gegen dich, daß das Gericht das Schlimmste von dir denken wird.«
»Das werden Sie nicht tun, Mr. Emmerson,« sagte der andere zitternd, »nicht wahr, Mr. Kay?«
Bromley Kay zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Wenn es uns nicht gelingen sollte, den ›Würger‹ zu fassen,« sagte er offen, »dann werden wir dich an seiner Stelle aufknüpfen. Anderseits ist die Belohnung mit der zugesicherten Straffreiheit noch zu vergeben.«
In den Augen des »grauen Bocks« leuchtete es auf. Von der Seite hatte er die Dinge noch gar nicht betrachtet. Für gewöhnlich würde er den »Würger« unter keinen Umständen verraten haben, aber nun wurde er dazu aus zwei Gründen getrieben. Der eine war die Tatsache, daß er selbst in Gefahr gekommen war, der andere war der Gedanke an eine gewisse Äußerung, die der »Würger« gelegentlich getan hätte.
Die beiden Männer warteten atemlos eine kurze Zeit. Da sagte der Alte unsicher: »Ich könnte Ihnen etwas erzählen. Wenn es stimmt, was ich denke, dann werden Sie ihn fangen und gleichzeitig ein neues Verbrechen verhüten.«
Er warf einen Blick auf die Kaminuhr und befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zungenspitze.
»Ich muß es Ihnen schnell erzählen; denn wenn es stimmt, dürfen Sie keine Zeit verlieren.«
»Schnell, heraus damit!« sagte George Emmerson scharf. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, um was es sich handelte.
Der »graue Bock« gehorchte. Er holte tief Atem, und dann stürzten die Worte nur so hervor.
*
Ungefähr eine Stunde später schlich ein Mann die Treppen eines Hauses hinauf. Er bewegte sich vorsichtig und verstohlen. Als einmal eine Diele unter seinen Füßen knarrte, blieb er eine ganze Minute stehen und lauschte gespannt, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Beim Treppenabsatz hielt er an und zog eine flache Pistole aus der Tasche, prüfte sie sorgfältig, überzeugte sich, daß sie entsichert sei, und steckte sie wieder in die Tasche.
Vor einer bestimmten Tür blieb er stehen und drückte vorsichtig die Klinke nieder. Sie bewegte sich leicht, ohne das geringste Geräusch, und mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung öffnete der Mann die Tür und schlüpfte hinein.
Die Fenstervorhänge waren zurückgezogen, der blasse Mond ließ die Gegenstände in einem ungewissen Licht erscheinen. Der Mann sah rasch um sich und schlich auf das Bett zu, das in der gegenüberliegenden Ecke stand.
Der Lockenkopf auf den Kissen bewegte sich leicht, ein weißer Arm wurde sichtbar.
Der Anblick brachte ihn in Wut. Er zog die Schultern hoch, als ob er im Begriff wäre, sich auf die Schlafende zu stürzen. Mehr und mehr näherte er sich dem Bett, eine dämonische Gestalt, deren Scheußlichkeit durch eine schwarze Maske mit langen Fransen noch betont wurde.
Sein Schatten fiel auf das Gesicht des schlafenden Mädchens. Wie von etwas Häßlichem berührt, bewegte sie sich unruhig und öffnete die Augen.
Beim Anblick der dunklen Augen, die aus der schwarzen Maske funkelten, stieß sie einen Schrei des Schreckens aus, der sofort abgeschnitten wurde, als sich stahlharte Finger fest um ihre Kehle legten.
Im selben Augenblick hörte sie ein schnelles Rascheln. Wie im Traum sah sie eine andere dunkle Gestalt sich erheben und auf ihren Angreifer stürzen. Sie hörte einen dumpfen Schlag, und der Mann, der ihre Kehle gepackt hatte, taumelte seitwärts und glitt zu Boden.
Im nächsten Augenblick war das Zimmer hell erleuchtet. Sie blickte entsetzt empor und begegnete dem ängstlichen Gesicht George Emmersons.
»Bist du verletzt, Peggy?« fragte er zitternd.
Das Mädchen antwortete nicht. Sie hüllte sich in ihr Nachtgewand, das am Halse zerrissen war. Der Hals zeigte eine blutige Kratzwunde. Sie begann laut zu weinen.
Emmerson blickte sie an und machte eine Bewegung nach dem Bett hin. Dann hielt er plötzlich inne und wandte sich rasch der Gestalt auf dem Fußboden zu. Es glitzerte etwas im Licht, ein Paar Fesseln legten sich um die Handgelenke des maskierten Mannes.
Emmerson richtete sich wieder auf und wandte sich dem Mädchen zu.
»Es tut mir leid, Peggy, aber es wäre nicht gut, ihn entwischen zu lassen,« sagte er.
Er legte sanft den Arm um sie, der Lockenkopf fiel auf seine Schulter.
»O, George, ich habe furchtbare Angst! Was ist geschehen?« murmelte sie gebrochen.
»Ich bin gerade zu rechter Zeit gekommen, um dich vor einem gräßlichen Tode zu bewahren.«
»Jemand packte mich an der Kehle und würgte mich,« sagte sie mit einem Schauder. Ihre Augen suchten die gefesselte Gestalt am Boden, und sie erschauerte wieder.
»Lieber George, wer ist das? Was ist geschehen?« fragte sie.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich will es dir lieber nicht erzählen, jetzt noch nicht.«
Schritte ertönten draußen auf dem Gang, es wurde an die Tür geklopft. Emmerson stand auf und antwortete: »Kommen Sie herein, Mr. Kay, hier ist Emmerson!«
Bromley Kay und drei uniformierte Polizisten traten ein. Der Kommissar staunte beim Anblick des Mädchens, und die Polizisten machten dumme Gesichter.
»Wir müssen wegen unserer Zudringlichkeit um Entschuldigung bitten, Miß Forrest,« sagte der Kommissar höflich, »aber es war nötig.«
Das Mädchen sagte nichts. Sie wurde dunkelrot, und ihre Augen irrten wieder suchend nach dem Mann am Boden. Dieser bewegte sich schwach und schien zu versuchen, auf die Füße zu kommen. Zwei Polizisten halfen gutmütig. Der dritte hielt ihm eine Pistole vor und sagte barsch: »Machen Sie keinen Unsinn!«
»Conway Wallack? Ich habe immer schon geahnt, daß er es ist,« sagte Kay.
George Emmerson sagte leise etwas, was das Mädchen nicht verstand, und Kay zog die Augenbrauen hoch.
»Führt ihn hinaus!« befahl er.
Die Polizisten packten ihn bei den Armen. Der Mann begann, sich zu wehren. Während des Tumults lockerte sich jedoch seine schwarze Maske, und als er seine haßerfüllten Augen George Emmerson und dem Mädchen zuwandte, riß das Band, und die Maske fiel zu Boden.
Peggy Forrest starrte mit ungläubigem Schrecken auf den Gefangenen. »Ferris Mance!« flüsterte sie und fiel ohnmächtig in George Emmersons Arme.