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Bill Scarfe kam am nächsten Morgen vors Gericht und wurde so behandelt, wie man ihm versprochen hatte. Er mußte eine Geldstrafe zahlen und den Schaden ersetzen, den er dem Wirt der Kneipe verursacht hatte. Er zahlte ohne Murren und ging als ein freier Mann davon. Der Fall war so uninteressant und unbedeutend, daß die Reporter im Gerichtssaal keine Notiz davon nahmen.
Scarfe hatte etwas von einem Taktiker an sich. Sofort, als er das Gericht verließ, ging er zum »grauen Bock« und berichtete von seiner Verhaftung, obgleich er ahnte, daß dieser schon von seinem Arrest wußte. Aber er überlegte ganz richtig, daß es Verdacht erregen würde, wenn er es dem ungekrönten König der Unterwelt verheimlichte.
Ein Mann, der mit den Händen in den Taschen dahinschlenderte, beobachtete Scarfe, als er das Gericht verließ, und folgte ihm. Zehn Minuten später ging Scarfe in ein Lokal, um etwas zu trinken. Der Mann, der ihm gefolgt war, lehnte sich an eine Mauer und schloß halb die Augen. Er gähnte, dann rieb er sein rechtes Auge mit dem Zeigefinger der rechten Hand. Ein anderer Mann in Arbeiterkleidung kam vorbei und bat um ein Streichholz.
Der erste Mann gab ihm eine Streichholzschachtel und betrachtete ihn gleichgültig, während der ein Streichholz anriß und eine Zigarette anzündete.
»Danke schön,« sagte er, als er die Schachtel von dem Arbeiter zurücknahm, dann fügte er leise hinzu, »er ist hineingegangen, um etwas zu trinken. Folge ihm, wenn er herauskommt!«
Der Arbeiter nickte mit dem Kopf, und der erste Mann verschwand unauffällig.
Eine Kette solcher Männer überlieferte ihn von einem zum anderen, bis zuletzt ein Zeitungshändler ihn in den Laden des »grauen Bocks« eintreten sah und diese Nachricht dem Mann telefonierte, in dessen Diensten er stand.
»Nun,« sagte der Graue freundlich, als Bill Scarfe den Laden betrat, »du hast schon wieder Pech gehabt?«
Der andere nickte: »Ich hatte in der Nacht ein bißchen getrunken,« entschuldigte er sich, »und war etwas angeheitert. Der Polizist steckte mich ein, weil ich einen Mauerstein in das Fenster des alten Barney warf.«
»Das sieht dir ähnlich! Wenn du getrunken hast, weißt du nicht mehr, was du tust.«
»Nun ja, warum soll ich nicht? Ich muß einmal richtig feiern.«
»Ein Mann, der nicht wie ein Gentleman trinken kann, hat überhaupt kein Recht zu trinken; ein Bursche wie du sollte den Alkohol nicht einmal riechen. Ich glaube, wenn du betrunken bist und versuchst dann, etwas aufzusprengen, wirst du noch einmal mit dem ganzen Haus in die Luft fliegen. Du hast dir wohl für das Geld, das du von dem Unbekannten bekommen hast, eine lustige Nacht gemacht?«
»Nein,« sagte Bill Scarfe entrüstet, »ich habe nur wenig getrunken.«
»Aber genug, um redselig zu werden, wie?«
»Ja, ich habe viel gesungen,« gestand Bill Scarfe, »und mir ist so, als ob ich einen Blauen geküßt habe, doch er hat mich deswegen nicht angezeigt.«
»Wieviel mußtest du zahlen?«
»Fünf Pfund, das eingeworfene Fenster und was ich sonst noch zerschlagen habe. Im ganzen mußte ich zwanzig Pfund bezahlen.«
»Eine teure Nacht für dich! Geh' lieber hinein, ich werde ungefähr in einer Minute nachkommen, dann können wir weitererzählen. Übrigens war heute morgen ein Herr hier, der dich suchte.«
»Doch nicht –,« begann Bill erschrocken, aber der andere unterbrach ihn kurz.
»Nein, er war es nicht, er wird seine Zeit kaum an eine so jämmerliche Gestalt verschwenden, wie du es bist. Obgleich du es eigentlich verdient hättest, daß er sich einmal um dich kümmert. Nein, es war Emmerson.«
»Emmerson?« rief Scarfe. »Den kenne ich nicht.«
»Natürlich nicht, aber er kennt dich.«
Scarfe ging mit zuckendem Gesicht ins Wohnzimmer, und während er sich auf einen Stuhl fallen ließ, zündete er sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. Was wollte Emmerson von ihm? Obgleich er geleugnet hatte, wußte er ganz genau, daß Emmerson derjenige war, der den Mord an Camden Hale bearbeitete; er dachte nach, was sich wohl ereignet hätte.
Er hatte ungefähr eine Viertelstunde gewartet, als Stimmen aus dem Laden klangen, und er hörte den Alten sagen: »Ja, er ist da drin, Mr. Emmerson. Gehen Sie nur hinein, wenn Sie ihn sprechen möchten!«
Ohne Zweifel war Emmerson wiedergekommen, um ihn aufzusuchen. Als er eintrat, riß Bill Scarfe sich zusammen und saß aufrecht auf dem Stuhl, aber die Lippen, die die Zigarette hielten, zitterten.
»Hallo, Bill,« sagte Emmerson fröhlich, »wie geht es dir heute morgen? Du siehst sehr schlecht aus.«
»Ich hatte eine schlimme Nacht, Mr. Emmerson,« sagte er mit mühsamem Lächeln, »ich wurde wegen Trunkenheit und unordentlichen Betragens festgenommen.«
»Was? Ich muß mich ja deinetwegen schämen. Wieviel haben Sie dir denn abgeknöpft?«
»Ich muß fünf Pfund und den Schaden, den ich angerichtet habe, bezahlen.«
Emmerson zog die Augenbrauen zusammen. »Was? Das ist seltsam. Du hättest ins Gefängnis kommen müssen, statt eine Geldstrafe zu erhalten. Du weißt doch, daß du vorbestraft bist.«
»Sie scheinen es übersehen zu haben,« meinte Bill Scarfe unbehaglich.
Emmerson schüttelte den Kopf. »So etwas vergißt die Polizei nicht, sie hatten sicher einen anderen Grund. Aber darüber wollte ich mit dir ja nicht sprechen. Wie wäre es, wenn wir einen kleinen Spaziergang machten? Es ist hier etwas stickig.«
»Das habe ich noch gar nicht bemerkt.«
»Vielleicht hast du es nicht bemerkt, es kann aber auch sein, daß du dich nicht in meiner Gesellschaft sehen lassen willst. Wahrscheinlich bist du um deinen guten Ruf besorgt. Oder hast du ein so großes Mißtrauen gegen mich, daß du nicht mit mir allein sein möchtest? Wir können uns aber auch hier unterhalten. Zunächst, womit hast du in letzter Zeit deinen Unterhalt verdient?«
»Ich habe gearbeitet,« sagte Bill prompt.
»Du langweilst mich. Selbst mit meinem beschränkten Verstand hatte ich mir das schon gedacht. Welche Art Arbeit, möchte ich gern wissen.«
»Mr. Emmerson, ich weiß, daß meine Vergangenheit nicht einwandfrei ist, aber ich habe mir Mühe gegeben, den geraden Weg zu gehen. Warum wollen Sie mir nicht glauben? Ich arbeite wirklich.«
»Aber für wen?«
Die hingeworfene Frage rührte Bill nicht, ohne Zögern beantwortete er sie.
»Für Mr. Dean,« sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken, »und wenn Sie es nicht glauben wollen, können Sie ihn ja selbst fragen.«
»Ich glaube es zwar nicht,« sagte Emmerson darauf, »trotzdem werde ich unsern Freund nicht fragen; denn er erzählte mir heute morgen schon dasselbe. Er wollte mich sogar hinausführen, um mir die Mauer zu zeigen, die du errichtet hast. Um es gelinde zu sagen, ihr seid ein Paar unverbesserliche Schwindler.«
Bill Scarfe zeigte sich tiefverletzt.
Emmerson lachte. »Sieh mich nicht so an, als ob ich dir leid tun könnte und du an meinem Verstand zweifelst! Ich kenne dich, Bill, und weiß, du könntest gar nicht ehrlich sein, selbst wenn du es versuchtest. Du gehörst zur Sorte derer, die ihre eigene Mutter für ein Glas Bier verkaufen würden. Was du alles tun würdest, wenn deine eigene Haut in Gefahr ist, will ich mir gar nicht vorstellen. Jedenfalls möchte ich nicht einer deiner Freunde sein.«
Er sprang auf und schaute auf den Mann nieder. Scarfe war verstummt, er saß wie versteinert.
»Du gehörst zu den Menschen, die ich am liebsten zwischen meine beiden Hände nehmen und zerdrücken möchte, wie ein schädliches Insekt.«
Er sprach mit allen Anzeichen tiefer Erregung, und Scarfe, der ihn neugierig und ängstlich betrachtete, sah mit Schrecken, wie sich die Hände des Detektivs schlossen. Dann wanderten Bill Scarfes entsetzte Augen langsam von den starken Händen zum Haar des andern. Es war schwarz und glatt. Auch die Augen waren fast schwarz.
Alles Leben schien Bill zu verlassen, und plötzlich fiel er bewußtlos in seinen Stuhl.
»Ich glaube, es ist besser, wenn du hineingehst und dich einmal um Bill Scarfe kümmerst,« sagte Emmerson einige Sekunden später dem Grauen, »es scheint mir, er ist ohnmächtig geworden.«
Der »graue Bock« erwiderte nichts, sah aber den Detektiv scharf an. Für einen Augenblick trafen sich ihre Augen. Was der Alte in diesen Augen sah, kann kein Mensch sagen, aber was es auch war, es hatte die Wirkung, daß er sich schnell umdrehte, um nach Bill Scarfe zu sehen.
Als er aus dem Wohnzimmer zurückkehrte, war Emmerson verschwunden.