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Neunzehntes Kapitel.
Herr Pinner

Herr Pinner war ein Mann der Wissenschaft, ein Chemiker. Er hatte eine tiefe Abneigung gegen einen Mann namens Taplow. Woher diese Abneigung stammte, gehört nicht zu dieser Geschichte. In den langen Stunden in seinem Laboratorium wuchs diese Abneigung, bis sie sich in einen tiefen Haß verwandelt hatte.

Pinners besonderes Arbeitsgebiet waren Gase. Man sagte von ihm, daß er mehr über sie wüßte als irgendeiner.

Eines Nachts gegen Ende des Septembers schlich er sich in Taplows Haus, indem er an einer dunklen Stelle über die Gartenmauer kletterte. Das Haus lag tief zwischen Bäumen versteckt und weit von der Straße entfernt. Er schlich vorsichtig um das Haus herum. Wenn sein Haß auch noch so groß war, so ließ er doch nicht alle Vorsicht außer acht. Er wollte zwar Taplow mit Hilfe seiner Gase töten, aber er dachte nicht daran, sein eigenes wertvolles Leben dabei aufs Spiel zu setzen, vielleicht am Galgen zu enden.

Er hatte seinen Plan gut durchdacht und eine Nacht gewählt, da Taplow allein im Hause war. Ein dichter Nebel verhüllte alles, lag zwischen den Mauern und ließ den großen Garten wie in einen undurchdringlichen, grauen Mantel gehüllt erscheinen.

Das Gras unter seinen Füßen war naß, und die Bäume bewegten sich leise, knarrend und ächzend. Die dunklen Fenster starrten schwarz und ausdruckslos in die Nacht. Nur der eine Flügel des Hauses war erleuchtet.

Pinner schlich vorsichtig an der Mauer entlang, bis er an das beleuchtete Fenster kam. Er reckte den Hals und sah hinein. Zunächst erkannte er, daß das, was er aus der Entfernung für ein Fenster gehalten hatte, eine Tür war, deren obere Hälfte aus Glas bestand. Davor war ein Vorhang, aber da er nicht ganz schloß, störte er ihn nicht.

Der Raum schien die Bibliothek zu sein. Ein lustiges Feuer prasselte im Kamin, neben dem ein Mann saß und las. Es war ein Mann in den mittleren Jahren, etwas behäbig; sein ergrauendes Haar war an den Schläfen gelichtet.

Pinner betrachtete ihn, und unwillkürlich ballten sich seine Hände.

Plötzlich hob der Mann den Kopf und schloß das Buch halb. Pinner schreckte zurück. Die Nacht war kalt, und durch den Anblick des hellen Feuers wurde die nasse Kälte, in der Pinner stand, nicht gemildert. Trotzdem stand er bewegungslos, bis der andere wieder weiterlas.

Dann probierte er ganz leise die Tür, sie gab nach. Er griff in die Tasche und holte eine Glaskugel hervor. Er hielt sie vorsichtig in der rechten Hand, während er mit der linken die Tür ganz aufstieß.

Durch den kalten Windstoß schossen die Flammen wild empor, das Buch fiel aus Taplows Händen.

»Diese verdammte Tür,« sprang er auf, »ich habe sie doch geschlossen.«

Als er die Mitte des Zimmers erreicht hatte, nahm er den dunklen Umriß von Pinners Gestalt wahr und stand plötzlich still.

»Wer ist da?« rief er.

Pinner hob als Antwort seine rechte Hand und warf die Glaskugel ins Zimmer. Dann zog er sich schnell zurück und schloß die Tür. Die Kugel fiel vor Taplows Füße und zersplitterte in tausend Scherben.

Der Mann schreckte zurück, dann beugte er sich nieder um das Wurfgeschoß zu betrachten. Plötzlich fuhren seine Hände empor, als ob er etwas fortreißen wollte, das ihm die Kehle zupreßte. Seine Knie schienen nachzugeben, und dann fiel der Körper mit einem dumpfen Fall zu Boden.

Pinner stand noch volle fünf Minuten bewegungslos da. Endlich öffnete er mit einem Lachen der Befriedigung die Tür, aber wegen des Geruches, der aus dem Zimmer strömte, zog er sie hastig wieder zu. Es roch seltsam nach verfaulten Birnen.

Pinner ging nach der Stelle zurück, wo er in den Garten gekommen war. Er ergriff den herunterhängenden Zweig eines Baumes und schwang sich auf die Mauer. Auf der anderen Seite ließ er sich leicht herabfallen.

Plötzlich umringten ihn mehrere dunkle Gestalten, sein Arm wurde gefaßt, daß es schmerzte, und eine Stimme sagte: »Kommst du freiwillig mit?«

Pinner schauderte; denn er hatte in seiner Tasche eine Pappschachtel, die noch eine säuberlich in Watte gepackte Glaskugel enthielt.

Jeder von uns schätzt das Leben. Pinner liebte es besonders. Er stieß einen Schreckensruf aus, als er daran dachte, was ihn erwartete, und glitt bewußtlos in die Arme seines Angreifers.

»Er ist ohnmächtig geworden,« sagte ein Mann.

»Sei vorsichtig, er verstellt sich vielleicht!« warnte ihn der andere.

»Unbesorgt,« sagte der Mann, der Pinner hielt, »er ist tatsächlich bewußtlos.«

»Dann bring ihn schnell in den Wagen!« befahl der andere. »Es ist keine Zeit zu verlieren, jeden Augenblick kann jemand hier entlangkommen.«

Am Rande der Straße stand ein Wagen, in den der leblose Körper des Chemikers schnell hineingetragen wurde. Zwei Männer setzten sich nach vorn, während der dritte, der anscheinend der Anführer war, sich mit dem bewußtlosen Gefangenen nach hinten setzte.

Durch den frischen Luftzug kam Pinner sofort wieder zu sich, mit einem Stöhnen richtete er sich auf und schaute erstaunt auf seine Umgebung. Zuerst fiel ihm auf, daß das Innere des Wagens dunkel war. Trotzdem konnte er deutlich die Gestalten der Männer vor sich erkennen.

Jetzt erst bemerkte er, daß sie gewöhnliche Kleidung trugen, und als seine Augen zu dem Manne an seiner Seite wanderten, sah er, daß dieser ebenfalls bürgerliche Kleidung trug. Selbstverständlich gab es Detektive in Zivilkleidung, aber irgend etwas in ihm, das er nicht genau bestimmen konnte, sagte ihm, daß diese Männer nichts mit der Polizei zu tun hätten.

»Ihr bringt mich doch nicht auf die Polizei?« fragte er mit einer Stimme, die trotz aller Beherrschung zitterte.

Der Mann an seiner Seite drehte sich zu ihm und starrte ihn an. Selbst in dem ungewissen Licht konnte Pinner erkennen, daß sein Gesicht von einer Maske verdeckt war. Er schrak zusammen, und aus irgendeinem Grunde kamen ihm die Geschichten in den Kopf, die er über den »Würger« gelesen hatte.

»Wir bringen dich nicht auf die Polizei,« beruhigte ihn der Mann.

»Wer seid ihr denn? Was wollt ihr von mir?«

»Das wirst du schon früh genug erfahren. Sei jetzt ruhig! Du brauchst nichts zu befürchten. Aber sei vorsichtig und mache uns keine Unannehmlichkeiten! Versteht du?«

»Ich möchte nicht sterben,« sagte Pinner einfach.

In dem Augenblick hielt der Wagen, und ein Mann stieg aus. Obgleich Pinner es nicht sehen konnte, hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde. Der Wagen fuhr hindurch, das Tor wurde wieder geschlossen, und der Mann kehrte auf seinen Platz zurück.

»Es ist alles in Ordnung, das Licht brennt in seinem Zimmer,« sagte er.

Nach einigen Sekunden hielt der Wagen wieder.

»Mach deine Augen zu!« befahl der Mann neben ihm, und Pinner gehorchte.

Ein Tuch wurde vor seine Augen gebunden, eine Hand faßte ihn und zog ihn aus dem Wagen. Er fühlte, wie er Stufen hinaufgeführt wurde. Eine Tür wurde geöffnet und schloß sich hinter ihm. Dann wurde er einen langen Korridor entlang in ein Zimmer geführt und dies hinter ihm verschlossen. Jemand entfernte das Tuch. Er war im nächsten Augenblick von der Fülle des Lichts geblendet. Er blinzelte unsicher mit den Augen, dann sah er am Tisch vier Männer. Drei von ihnen waren diejenigen, die ihn gefangen hatten. Den vierten Mann hatte er noch nicht gesehen. Er unterschied sich von den anderen dadurch, daß er jedesmal, wenn er etwas zu sagen hatte, die Hände tief in die Hosentaschen steckte.

Alle vier Männer waren maskiert. Der größte von ihnen klopfte auf den Tisch, und die anderen wandten sich ihm aufmerksam zu.

Der Mann am oberen Ende des Tisches sagte: »Sie sind Philipp Pinner, von Beruf Chemiker. Stimmt das?«

Pinner nickte und schaute staunend von einem zum anderen. »Ja, das stimmt, aber was –?«

»Einen Augenblick,« unterbrach ihn der andere, »beantworten Sie nur meine Fragen!«

Pinner schwieg.

»Mit Chemiker,« fuhr der andere fort, »meine ich nicht, daß Sie Medizin herstellen, um Krankheiten zu heilen, also Apotheker sind, sondern Sie beschäftigen sich mit wissenschaftlichen Untersuchungen. Ist das so?«

Wieder nickte Pinner; denn er fürchtete, wenn er sprechen würde, könne er vielleicht zuviel sagen.

»Soviel ich gehört habe, ist Ihre Spezialität Giftgase. Sie sind eine Autorität auf diesem Gebiet, und man hat mir erzählt, daß Sie selbst einige Entdeckungen gemacht haben.«

»Ja, das stimmt,« sagte Pinner und in diesem Augenblick kam ihm ein Gedanke:

Er hatte in seiner Tasche noch die kleine Pappschachtel. Wenn er sie unbemerkt herausbekommen könnte, dann würde er sich die Männer vielleicht solange vom Leibe halten können, bis er sich selbst in Sicherheit gebracht haben würde. Wenn er erst die Tür erreicht hätte, würde er die Gasbombe werfen und dann fliehen.

Er machte eine unbewußte Bewegung mit der Hand. Der Mann am anderen Ende des Tisches, der genau beobachtete, wie sich seine Gedanken im Gesicht widerspiegelten, rief bestimmt:

»Wenn Sie versuchen, die Hand in die Tasche zu stecken, schieße ich Sie sofort nieder.« Pinner sah das Licht auf dem Lauf eines Revolvers blitzen.

Der Anführer wandte sich leise an den Mann, der links von ihm saß. Dieser erhob sich langsam von seinem Sitz und kam auf Pinner zu.

»In welcher Tasche?« fragte er.

Da Pinner einsah, daß aller Widerstand vergeblich war, bezeichnete er sie. Der Mann zog behutsam die Pappschachtel heraus und brachte sie vorsichtig seinem Chef. Der öffnete sie und betrachtete interessiert die kleine Glaskugel.

»Sie sieht ganz harmlos aus, und doch genügte eine von dieser Sorte, um Taplow zu töten,« sagte er leichthin.

Er sah Pinner fest an, und bei der teuflischen Grausamkeit dieser furchtbaren schwarzen Augen begann der Chemiker zu zittern.

»Setzen Sie sich, Pinner!« sagte der Unbekannte, auf einen Stuhl deutend. »Wir wollen die Angelegenheit ausführlich besprechen.«

Als Pinner ihm gehorcht hatte, begann er: »Könnte diese kleine Kugel so klein gemacht werden, daß sie mit einem Luftgewehr, einer Schleuder oder – sagen wir – mit einem Pusterohr abgeschossen werden könnte?«

»Warum soll ich das sagen?« fragte Pinner.

»Wenn Sie es nicht tun,« sagte der andere, »werden Sie Ihre Strafe für die Ermordung Taplows erhalten.«

»Niemand kann beweisen, daß ich es war,« höhnte Pinner mit zurückkehrendem Mut. »Und ihr seht nicht so aus, als ob ihr es wagen würdet, gegen mich als Zeugen aufzutreten,« fügte er hinzu.

Er sah wie sich die drei Männer gleichzeitig aufgeregt zu ihrem Chef wandten, doch dieser zeigte nicht die geringste Erregung.

»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen,« sagte der ruhig, »aber in einem Punkte sind Sie im Irrtum.«

Er wandte sich an den Mann zu seiner Rechten. »Willst du einmal die Tür zu unserem Gastzimmer öffnen?« fragte er freundlich.

Der Mann erhob sich und ging zur Tür am anderen Ende des Zimmers. Zunächst sah Pinner nichts, als der andere jedoch auf einen Knopf drückte, war das Vorzimmer von weißem Licht erfüllt.

Ein Strick war um einen Balken geschlungen, und die Schlinge pendelte drohend hin und her. Pinner erblaßte bei dem Anblick; denn es schossen ihm Gedanken durch den Kopf, die er nicht zu Ende zu denken wagte.

»Ein grausames, aber sicher wirkendes Mittel,« sagte der andere lachend, »besonders bei Widerspenstigen anzuwenden. Was meinen Sie dazu, Pinner?«

Pinner, der kein Wort hervorbringen konnte, fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen.

»Glauben Sie, daß Sie jetzt unsere Frage beantworten können?« beharrte der andere.

»J – Ja,« antwortete Pinner zögernd, »ich glaube, ich bekomme es fertig, es ist zwar schwierig, aber mit einiger Vorsicht werde ich es schon schaffen.«

»Vorsicht ist gerade, was ich erwarte. Die kleinen Kugeln müssen innerhalb einer Woche fertig sein. Sie müssen natürlich die Gewähr übernehmen, daß sie auch ihre Wirkung tun. Ich möchte nicht, daß die Sache nachher nicht klappt.«

»Ich verstehe meine Arbeit,« sagte Pinner stolz.

Der andere nickte: »Das stimmt auch mit den Auskünften überein. Ich denke, das ist alles, also in einer Woche!«

»Soll ich sie hierher bringen?«

»Nein! Wir werden noch darüber sprechen.«

Dann wandte sich der »Würger« mit leiser Stimme an den Mann, der das Auto gesteuert hatte. »Fahre ihn jetzt fort, du kannst ihn ungefähr eine Stunde umherfahren, und dann laß ihn in der Nähe seiner Wohnung aussteigen!«

Er sprach nicht eher weiter, als bis der Gefangene und sein Begleiter das Zimmer verlassen hatten. Dann wandte er sich an den kleinen Mann, der dauernd die Hände in den Hosentaschen hatte.

»Sieh möglichst bald deine Bücher durch und sende mir die Namen der Eisenbahnangestellten, die eine Verpflichtung gegen dich haben. Je höher die Stellung ist, die sie einnehmen, desto besser.«

»Verpflichtungen?« wiederholte der Mann.

Der andere nickte. »Ja, Zahlungsverpflichtungen,« erklärte er.


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