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17

Nachdem Luke mit Edna Gray das Rennen in Newmarket besucht hatte, fuhren sie beide nach London zurück. Sie setzte ihn in der Nähe seiner Wohnung ab und begab sich dann ins Hotel. In der folgenden Woche hatte Luke viel zu tun. Er versuchte Schritt für Schritt, Garcias Aufenthalt festzustellen, aber manche der ausländischen Polizeidienststellen arbeiteten langsam und antworteten nicht immer prompt auf eine dringende Anfrage von Scotland Yard. Aus Deutschland erhielt er innerhalb von drei Tagen eine Mitteilung über die Telegramme, die von Berlin und München im Namen von Alberto Garcia an Edna abgesandt worden waren. Er konnte aber daraus nur ersehen, daß sie mit der Maschine geschrieben und mit ›Alberto‹ unterzeichnet worden waren.

Von Punch Markham empfing er viele Meldungen, die ihn nicht interessierten. Nur ab und zu war etwas dabei, das er brauchen konnte. Punch hatte sich mit größter Begeisterung an seine Aufgabe gemacht; er beobachtete nicht nur Goodies Rennpferde, sondern spionierte auch Goodie selbst nach. Er hatte eine persönliche Abneigung gegen den Trainer. Eines Tages besuchte er Luke in London.

»Sehen Sie einmal her, Mr. Luke«, sagte er und zeigte auf sein blaues Auge.

Punch war über alle Maßen wütend.

»Das ist nicht die Art und Weise, wie man andere Leute behandelt. Das hat einer seiner Stallknechte getan. Ich weiß ja, daß es den Leuten nicht gefällt, wenn man ihre Pferde beim Morgengalopp beobachtet, aber deswegen braucht man einen doch nicht gleich halbtot zu schlagen!«

Punch hatte sich den Morgengalopp ansehen wollen, nachdem er am Abend zuvor erfahren hatte, daß ›Weiße Lilie‹ geprüft werden sollte. Er war in solchen Dingen beschlagen und hatte sich vorsichtig in einer Bodensenkung versteckt, von der aus er die Arbeit der Pferde beobachten konnte. Bevor aber die Pferde auf dem Platz erschienen, hatten zwei Leute das Gelände abgesucht. Punch war im letzten Augenblick davongelaufen, und dabei hatten sie ihn gefaßt. Markham beschrieb den einen der beiden so deutlich, daß Luke nach der Schilderung Manuel erkannte.

»Goodie führt etwas im Schilde, darauf gehe ich die höchste Wette ein«, sagte Punch. »Meiner Meinung nach hat er ›Weiße Lilie‹ anderswohin geschickt, wo sie trainiert wird. Aber ich glaube nicht, daß er mit dem Gaul das Cambridgeshire-Rennen gewinnt. ›Weiße Lilie‹ war zwar ein gutes Pferd, aber es hatte im Alter von einem Jahr einen Leistungsrückgang, und ich habe allerhand anstellen müssen, um den Gaul so weit in die Höhe zu bringen, daß ich ihn verkaufen konnte. Sie können sich todsicher darauf verlassen, Mr. Luke, daß das Tier das Cambridgeshire-Rennen nicht gewinnt. Warum Goodie sich mit dem Pferd soviel Mühe gibt, weiß ich nicht. Aber der Kerl mogelt immerzu, der kann gar nicht anders, selbst wenn er wollte. Wenn ich nur in den Stall hinein könnte!«

»Sie würden doch nichts erfahren. Keiner seiner Leute spricht englisch.«

Aber Punch wollte sich damit nicht zufriedengeben. Luke tat, was er konnte, um ihn vor allzu kühnen Wagnissen zu warnen. Niemand war gefährlicher als ein übereifriger Amateurdetektiv – das wußte er.

*

Luke verließ sein Büro an dem Abend kurz vor sechs. Er hatte seinen Schreibtisch abgeschlossen und zog gerade seinen Mantel an, als es an der Tür klopfte. Er war allein im Büro; sein Assistent war schon eine halbe Stunde früher gegangen. Das Klopfen wurde wiederholt; der Betreffende mußte sehr aufgeregt sein und es eilig haben.

»Herein.«

Die Tür öffnete sich, und Rustem trat ein. Sein Gesicht war aschgrau, und die Hand, die er Luke entgegenstreckte, zitterte. Zum erstenmal sah der frühere Rechtsanwalt in seiner äußeren Erscheinung vernachlässigt aus; er machte fast den Eindruck, als ob er den ganzen Tag in seinen Kleidern geschlafen hätte.

»Zum Kuckuck, was ist denn mit Ihnen los?« fragte Luke erstaunt.

Rustem zwang sich zu einem Lächeln.

»Es geht mir nicht besonders gut – es sind die Nerven«, erwiderte er ängstlich.

»Setzen Sie sich doch. Sind Sie vergiftet worden – oder ist sonst etwas los?«

»Na, einen so guten Witz habe ich lange nicht gehört«, sagte Rustem und lachte, aber seine Stimme klang hohl. »Nein, meine Nerven sind kaputt – die Leute verfolgen mich ...«

»Das klingt ja, als ob Sie an Verfolgungswahn litten«, entgegnete Luke mit einem Lächeln..

»Was machen Sie heute abend? Wäre es nicht möglich, daß wir uns einmal unterhielten? Ich sage Ihnen offen, ich bin vollkommen erledigt. Ich dachte, wir könnten einmal zusammen ausgehen und irgendwo zu Abend essen. Ich möchte Sie auch noch wegen einer anderen Sache sprechen. Ich habe gehört, daß das Polizeiwaisenhaus nicht genügend Mittel hat. Vielleicht könnte ich tausend Pfund stiften ...«

Luke schüttelte den Kopf.

»Nehmen Sie das lieber in Ihr Testament auf; da macht es sich ganz gut und ist nicht so peinlich. Nein, im Augenblick braucht das Waisenhaus kein Geld, und ich möchte Sie bitten, diesen Schritt zu unterlassen. – Also, was ist nun mit Ihnen, Rustem – meldet sich etwa Ihr Gewissen?«

»Nein«, sagte Rustem laut und sprang auf. »Ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen. Natürlich habe ich manches getan, was ich, bei reiflicher Überlegung, besser unterlassen hätte. Wenn ich immer gewußt hätte, wie die Dinge auslaufen würden ...«

Luke dachte schnell nach.

»Also, es ist gut, ich komme mit Ihnen und will Ihnen sogar zugestehen, daß Sie mich einladen.«

Irgend etwas stimmte nicht. Rustem klammerte sich geradezu an ihn, als sie am Themseufer entlanggingen, und auf dem Weg nach Soho sprach er dauernd auf seinen Begleiter ein. Aber er sagte ihm nichts Besonderes, und seine Worte waren manchmal etwas zusammenhanglos.

Luke paßte auf wie ein Schießhund, aber schon lange vor dem Ende des Essens sah er, daß Rustem ihm nichts Wichtigeres mitteilen wollte oder konnte. Wahrscheinlich hatte der Mann nur wieder die Absicht, sich ein Alibi zu verschaffen.

Rustem zog das Essen hinaus, blieb so lange wie möglich bei Tisch sitzen und machte dann Luke den Vorschlag, verschiedene Klubs zu besuchen.

»Es wird nicht gerade sehr vorteilhaft für Sie sein, wenn Sie sich in meiner Gesellschaft sehen lassen«, erwiderte Luke offen. »Ihre Freunde werden glauben, daß Sie plötzlich ein Polizeispitzel geworden sind. Und wenn Sie wollten, könnten Sie mir ja auch tatsächlich eine Menge erzählen.«

Aber Rustem schien die üble Nachrede nicht zu fürchten.

In dem kleinen Klub, in dem sie sich schon früher einmal getroffen hatten, sahen sie Mr. Trigger. Er saß in derselben Nische, in der Luke einmal mit Rustem gesessen hatte, und vor ihm stand ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit. Er lächelte Luke liebenswürdig zu, aber Rustem schaute er ärgerlich an.

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie nicht etwas trinken? Ich selbst halte mich an Limonade. Sie werden wahrscheinlich darüber lachen, aber ich mag keine starken alkoholischen Getränke.«

Er warf einen Seitenblick auf Rustem.

»Und es wäre auch ganz gut, wenn verschiedene meiner Bekannten meinem Beispiel folgten.«

Rustem, der beinahe die Fassung verloren hatte, als sie Trigger hier trafen, hatte nicht den Mut, darauf zu antworten.

»Manchmal muß ich etwas ausspannen, dann komme ich hierher. Sonst wird es mir von all den vielen Zahlen ganz wirr im Kopf!«

»Ihre Erholung besteht dann darin, Limonade zu trinken«, sagte Luke lächelnd.

Er schätzte Trigger, den er in gewisser Weise für vollkommen ehrlich hielt, obwohl der Mann mit übelbeleumundeten Leuten zusammenarbeitete.

»Die Limonade ist es nicht allein; man kann hier auch Leute beobachten. Man sieht hier mehr Verbrecher als vor dem Schwurgericht in Old Bailey.«

Wieder sah er Rustem von der Seite an.

»Sind Sie Mitglied des Klubs, Mr. Luke? Dann sind wir beide die einzigen anständigen Kerle, die hier verkehren. Es ist nicht gerade meine Absicht, Verbrecher zu treffen, wenn ich hierherkomme. Mehrere von der Sorte treffe ich sowieso, wenn wir eine Direktionssitzung abhalten.«

Diesmal war die Herausforderung zu stark, als daß Rustem sie überhören konnte.

»Wollen Sie damit sagen –«, begann er wütend.

»Wenn Sie glauben, daß ich jemand anders meinen könnte als Sie, dann sagen Sie es mir bitte«, entgegnete Trigger ruhig. »Ich erkläre Ihnen, und zwar in Gegenwart von Mr. Luke, daß ich in Zukunft bei den Direktionssitzungen meiner Firma nichts weiter diskutiere, als was zum Geschäft gehört. Und Geschäft bedeutet: Geld, Telegramme, Organisation. Wenn mir von zuverlässiger Stelle ein Pferd genannt wird, das das Rennen gewinnt, dann handle ich dementsprechend. Ich will über das Pferd nichts weiter wissen, als daß es vier Beine und einen Kopf hat und schneller läuft als all die anderen Pferde, die für das Rennen gemeldet worden sind. Warum es gewinnt, geht mich nichts an, und ich dulde auch nicht, daß über solche Dinge in unseren Versammlungen gesprochen wird. Ich will mir nicht nachsagen lassen, daß ich irgendwelche gesetzwidrige Handlungen begehe. Ich habe nichts getan, was irgendwie gegen das Gesetz oder die Rennregeln verstößt.«

Luke konnte sich denken, was geschehen war. Die Leute hatten wahrscheinlich eine Versammlung abgehalten, und einer der vier – wahrscheinlich Rustem – hatte da Dinge zur Sprache gebracht, die außerhalb des Geschäftsbereiches lagen. Wahrscheinlich hatte sich Trigger dagegen gewehrt und auch eine Auseinandersetzung mit den anderen gehabt, wobei Blanter den kürzeren zog.

»Sie sind ja ein ganz scheinheiliger Kerl«, entgegnete Rustem gehässig.

Trigger lächelte.

»Ja, ich bin wirklich ehrlich – und mehr als das: Ich bin meiner Sache sicher!«

Trigger trank seine Limonade aus, zahlte dem Kellner den doppelten Preis, den er verlangte, und erhob sich.

»Ich will Sie beide allein lassen. Vermutlich haben Sie wichtige Angelegenheiten miteinander zu besprechen«, sagte er höflich und ohne Ironie. »Aber, Mr. Luke, ich möchte Ihnen noch eins sagen: Wenn der Mann hier« – er zeigte auf Rustem – »behaupten sollte, daß ich mich auf andere Dinge einlasse als auf ein reines Geschäft, dann lügt er wie gedruckt. Ich brauche mich nicht davor zu fürchten, daß er der Polizei etwas verrät. Mir kann er nichts anhaben, aber er selbst ist nicht ganz harmlos.«

Mit dieser geheimnisvollen Andeutung verließ Trigger den Klub. Er hatte den Hut ziemlich kühn aufgesetzt und sich eine dicke Zigarre angezündet.

»Das ist ein ganz gemeiner Lump«, erklärte Rustem. »Daß ein solcher Kerl sein ungewaschenes Maul aufmachen darf –«

Aber dann unterbrach er sich plötzlich, wie er es mindestens schon ein dutzendmal an dem Abend getan hatte.

Mit Mr. Arthur Rustem ging es bergab. Zehn Jahre lang hatte er eine beherrschende Stellung in der Verbrecherwelt eingenommen, doch jetzt zeigte er sich feige und furchtsam. Und er hatte Grund dazu. Während er früher das Kommando führte, mußte er jetzt tun, was andere von ihm verlangten. Er hatte seine Unabhängigkeit aufgegeben und sich einem stärkeren Willen unterstellt. Und er hatte nicht den Mut, mit den anderen zu brechen, weil sie drohten, ihn zu ruinieren.

Luke machte verschiedene Versuche, das Gespräch auf Dr. Blanter zu bringen; er hatte keinen Erfolg, obwohl er verschiedene anrüchige Geschichten aus dessen Vergangenheit auskramte. Rustem wußte das alles natürlich selbst viel besser, denn er hatte Blanter einmal verteidigt, als dieser als Angeklagter vor Gericht gestanden hatte.

Erst gegen elf Uhr abends konnte Luke Rustem loswerden. Rustem taumelte ein wenig, als er an die frische Luft kam, aber dann riß er sich zusammen und verabschiedete sich korrekt.

Er war noch nicht weit gegangen, als ein Wagen an der Bordschwelle neben ihm hielt und jemand seinen Namen rief. Erschrocken drehte er sich um und sah in das rote Gesicht von Blanters Diener, der am Steuer des Wagens saß.

»Steigen Sie ein, der Doktor will mit Ihnen sprechen«, sagte der Mann heiser.

Rustem zögerte, aber dann folgte er doch der Aufforderung. Der Wagen bog in die Richtung Haymarket ein – und das war nicht der Weg zur Half Moon Street. Die Fahrt ging weiter zur Pall Mall, dann hielt das Auto, und der Chauffeur stieg aus.

»Bleiben Sie sitzen, ich will mit Ihnen sprechen.«

Rustem lehnte sich aus dem Fenster hinaus.

»So, das ist für Sie«, sagte der Chauffeur und schlug Rustem mit einem Gummiknüppel zusammen.


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