Edgar Wallace
Gucumatz
Edgar Wallace

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17

Peter hatte sich schon früher mit aufregenden Kriminalfällen beschäftigt, aber es war ihm bis jetzt noch nie vorgekommen, daß er deshalb nicht einschlafen konnte. Er wälzte sich unruhig hin und her und fiel endlich in einen dumpfen Halbschlaf, als ihn ein Geräusch am Fenster hochfahren ließ.

Er sprang rasch aus dem Bett und zog vorsichtig den Rolladen ein wenig hoch, um hinauszuschauen. Es war eine sternklare, kalte Nacht. Sein Fenster lag auf der Rückseite des Hauses, und man konnte von da aus in den winzigen Garten sehen. Es war alles still, und Peter wollte sich gerade zurückziehen, als sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Mauer löste, über den kleinen Rasenplatz schlich und auf der andern Seite verschwand.

Er lehnte sich weiter zum Fenster hinaus und schaute angestrengt in die Dunkelheit. Als er sich dabei auf die Fensterbank stützen wollte, berührte er einen kalten Gegenstand. Es war ein Stahlhaken, der mit seiner Spitze in dem Holzbrett der Fensterbank steckte. Mit einem kräftigen Ruck riß er ihn los und entdeckte, daß eine Strickleiter daran befestigt war. Sie war so lang, daß Peter eine ganze Weile brauchte, bis er sie ins Zimmer hereingezogen hatte.

Er schlich nun zum Kamin und holte seine große Taschenlampe, die für alle Fälle dort lag. Dann ging er schnell zu dem offenen Fenster zurück und leuchtete in den kleinen Hinterhof hinunter.

Er konnte nichts entdecken, aber es war natürlich möglich, daß sich der Eindringling hinter dem niedrigen Fahrradschuppen versteckt hatte, der an der Mauer angebaut war. Wenigstens hatte er die Gestalt vorher in diese Richtung verschwinden sehen.

Der Mann konnte auf verschiedene Weise in den Hinterhof gekommen sein. Entlang der kurzen Straße, in der Peters Pension lag, lief eine breite Mauer, die die Vorderhäuser von den Rückgebäuden trennte, und auf diesem Wege konnte ein Einbrecher leicht hereinkommen. Noch einfacher war es, über die Mauer zu klettern, von der auch der frühere Eindringling heruntergesprungen war.

Peter leuchtete sorgfältig diese Mauer und die Hauswand ab; dort entdeckte er noch eine zweite Strickleiter, die von einer anderen Fensterbank herunterhing.

»Die Sache wird immer geheimnisvoller!« murmelte er und schloß rasch das Fenster. Er spürte plötzlich keine Müdigkeit mehr.

Einige Minuten später war er aus dem Hause. Er schlenderte gemütlich wie ein nächtlicher Spaziergänger die Straße entlang. Als er zu der Ecke kam, sah er einen Mann von der Mauer springen und rief ihn an. Einen Moment schien der Unbekannte zu überlegen, dann rannte er plötzlich mit erstaunlicher Geschwindigkeit quer über die Straße. Peter lief ihm nach, aber der andere hatte bereits einen zu großen Vorsprung. Schon wollte er die Verfolgung aufgeben, als aus einer der Seitenstraßen eine behelmte Gestalt auftauchte. Der Polizist hatte die Situation mit einem Blick erfaßt, und es gelang ihm nach kurzer Jagd, den Ausreißer zu packen.

»Alles in Ordnung«, sagte eine rauhe Stimme, als Peter dazukam. »Ich habe ihn!«

Der Polizist schien böse Erfahrungen mit nächtlichen Herumtreibern gemacht zu haben, denn er durchsuchte seinen Gefangenen sehr sorgfältig nach Waffen. Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß der Mann außer einem kurzen Stemmeisen nichts bei sich trug, brachte er ihn zur Wache. Peter ging nebenher, als er ihn abführte.

»Sind Sie der Herr, den ich besuchen sollte?« fragte der Festgenommene auf dem Weg zur Polizeiwache. »Heißen Sie vielleicht Dewin?«

»Das ist allerdings mein Name«, entgegnete Peter.

Die Stimme des Mannes klang unsicher.

»Ich habe doch gar keinen Krach gemacht! Diese gewöhnlichen Polypen da wissen ja nichts über mich, aber der Inspektor wird mich bestimmt erkennen«, flüsterte er Peter zu.

»Nun halten Sie aber den Mund!« rief der Polizist böse. »Leute wie Sie vergißt man nicht so leicht! Sie sind Lightfoot Jerry, ich habe Sie gleich erkannt.«

Der Gefangene schluckte verlegen.

»Habe nie geglaubt, daß ein Polyp so gute Ohren hat!«

»Ich war zufällig auf dem Polizeigericht von Westlondon, als Sie das letztemal abgeurteilt wurden, und Ihr Gesicht ist mir sehr gut in Erinnerung geblieben«, sagte der Beamte sarkastisch.

Als sie auf der Wache ankamen, begrüßte der diensthabende Inspektor Jerry sofort als alten Bekannten, wenn auch seine Worte nicht sehr freundlich klangen.

»Was soll das heißen, Jerry – in Ihrem eigenen Stadtviertel ein Ding zu drehen?« fragte er vorwurfsvoll.

»Tut mir furchtbar leid, Mr. Brown«, entgegnete Jerry bescheiden. »Ich sollte hundert Pfund für die Sache kriegen, und da konnte ich nicht widerstehen. Leider habe ich keinen Erfolg gehabt . . .«

»Wer wird Ihnen schon hundert Pfund bieten«, fuhr ihn der Beamte an. »Keine faulen Ausreden!«

»Das ist keine Ausrede, Mr. Brown«, sagte Jerry ernst. »Obgleich ich zugeben muß, daß es wie eine fadenscheinige Entschuldigung aussieht . . .«

Und dann erzählte Lightfoot Jerry eine merkwürdige Geschichte. Am gestrigen Tag, gegen Mittag, hatte er einen mit Bleistift geschriebenen Brief erhalten, in dem jemand bei ihm anfragte, ob er sich hundert Pfund verdienen wolle. Er solle sich mit dieser Nachricht um sechs Uhr abends an der Stelle einfinden, wo die Eisenbahnbrücke die Great West Road kreuzt. Sein Auftraggeber werde unter der Brücke auf ihn warten, um ihm seine Instruktionen zu geben.

Dem Brief waren zwei Einpfundnoten beigelegt, und obwohl Jerry eine Falle der Polizei vermutete, ging er doch zu der angegebenen Stelle.

Die Straße war völlig menschenleer und verlassen, als er an der Brücke ankam. Nach einiger Zeit tauchte ein Wagen auf, der bis dicht zu ihm heranfuhr und aus dem ein Mann ausstieg.

»Es war inzwischen dunkel geworden, und ich konnte sein Gesicht kaum erkennen«, erzählte Jerry. »Er erklärte mir, was ich zu tun hätte, und sagte mir auch, daß Strickleitern da wären und daß alles für mich vorbereitet würde. Er gab mir einen Plan des Hauses, in dem das Zimmer dieses Herrn eingezeichnet war. Ich sollte nur einen Geldbeutel mit einem Schlüssel mitnehmen.«

»Sollte nicht auch noch eine Million Pfund drin sein?« erkundigte sich der Inspektor spöttisch.

»Ein Schlüssel – das ist alles, was ich weiß. Hören Sie, Inspektor, Sie glauben, daß ich Ihnen ein Bären aufbinden will, aber was ich Ihnen jetzt sage, stimmt – es gibt in London einen Mann, der frühere Sträflinge manchmal mit irgendwelchen Aufgaben betraut.«

Bei dieser Behauptung blieb er hartnäckig. Schließlich nahm Peter den Inspektor beiseite, der noch immer ungläubig dreinschaute.

»Am besten, Sie teilen Clarke diese Sache mit«, meinte er ernst. »Ich bin fest davon überzeugt, daß die gefiederte Schlange dahintersteckt.«

Der Inspektor nickte zögernd.

»Ich kenne Lightfoot schon seit Jahren . . .«

Er überlegte. Oberinspektor Clarke war ein Mann, mit dem man rechnen mußte. Er war erst kürzlich zum Bezirksoberinspektor befördert worden und hatte ein beträchtliches Ansehen beim Polizeipräsidenten.

Schließlich ging er in sein kleines Büro, und Peter hörte, daß er telefonierte. Nach fünf Minuten kam er zurück.

»Mr. Clarke wird selbst herkommen, um den Mann zu vernehmen«, sagte er. »Er glaubt, daß Ihre Vermutung richtig ist . . .«

Peter kam plötzlich ein Gedanke, und er bat um die Erlaubnis, einige Fragen an Jerry stellen zu dürfen. Aber in diesem Punkt gab der Inspektor nicht nach. Jerry blieb in seiner Zelle, und erst als Clarke eine Stunde später ankam, konnte Peter seine Fragen anbringen.

Der Gefangene wurde wieder geholt; er war ziemlich ärgerlich, weil man ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.

»Sie haben doch schon mal gesessen, Jerry?« fragte Peter. Der Mann stimmte widerwillig zu. »Lernten Sie damals einen Mann mit Namen William Lane kennen?«

Lightfoot Jerry überlegte.

»Ja – ich habe ihn in Dartmoor gesehen. Er saß in der Abteilung D, ich gehörte zur Abteilung A. Er war verknackt worden, weil er falsche Banknoten gedruckt hatte.«

»Haben Sie sich einmal mit ihm unterhalten?«

Jerry schüttelte den Kopf.

»Nie. Er arbeitete in der Schuhmacherwerkstatt, zusammen mit einem gewissen Harry und dem kleinen Hugg. Einmal lagen wir zwar gemeinsam in der Krankenabteilung, aber ich hatte auch da keine Möglichkeit, mit ihm zu sprechen.«

»Halten Sie es für möglich, daß er es war, der Ihnen unter der Eisenbahnbrücke den Auftrag gab?« forschte Peter weiter.

Jerry überlegte.

»Nein . . ., und doch könnte es möglich gewesen sein. Ich habe Lane ja niemals sprechen hören, soviel ich weiß, war er überhaupt sehr mundfaul.«

Als Jerry wieder fortgebracht worden war, nahm Clarke, der während des ganzen Verhörs geschwiegen hatte, Peter am Arm und zog ihn in eine Ecke.

»Los, bekennen Sie Farbe! Was wollte der Kerl aus Ihrem Zimmer holen?«

Peter sah ein, daß er sein Geheimnis unmöglich noch länger für sich behalten konnte.

»Er sollte mir dies hier stehlen.« Kurz entschlossen zog er den Geldbeutel aus der Tasche. »Ich kann Ihnen jetzt nicht erzählen, wie er in meinen Besitz kam, weil sonst jemand anders belastet würde. Joe Farmer trug diesen Schlüssel stets bei sich; ich glaube aber nicht, daß Sie viel damit anfangen können.«

Clarke betrachtete das Stück Pappe, das an dem Schlüssel hing.

»Eine ziemlich primitive Geheimschrift«, erklärte Peter. »Die Auflösung heißt Gucumatz – damit bezeichneten die alten Azteken die Gottheit der gefiederten Schlange. Was der Schlüssel zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht; ich glaube, daß er ein außerordentlich wichtiges Glied in der Kette ist, kann vorerst aber beim besten Willen des Rätsels Lösung nicht finden.«

Clarke betrachtete den Schlüssel von allen Seiten durch ein Vergrößerungsglas und untersuchte besonders die ausgefeilten Buchstaben. Schließlich zuckte er nur ratlos die Achseln.

»Haben Sie sich denn nicht wenigstens eine Theorie zurechtgelegt?« fragte er dann.

Peter schüttelte den Kopf.

»Der Fall wird immer mysteriöser und so unwahrscheinlich, daß ich mir ganz gut vorstellen könnte, daß dies der Schlüssel zu einem Kasten mit wichtigen Dokumenten ist – genau wie im Märchen.«

»Er sieht mir eigentlich mehr nach meinem Türschlüssel aus.«

Clarke steckte den Schlüssel in den Geldbeutel und schob beides in die Tasche.

»Sie wissen viel mehr über den Fall, als Sie mir erzählt haben, Dewin. Aber ich hoffe, daß ich noch vor Ihnen die Tür entdecke, die durch diesen Schlüssel geöffnet wird!«

Um halb sechs in der Frühe kam Peter nach Hause, aber er konnte sich nicht entschließen, ins Bett zu gehen. Er nahm ein Bad und rasierte sich, machte dann aber den Fehler, sich halb angezogen einen Moment auf die Couch zu legen . . .

Er wachte erst wieder auf, als der Gong zum Mittagessen ertönte.


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