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Gregory Beale war in jeder Beziehung ein Sonderling und hatte den Zeitungen durch seine verschiedenen Spleens schon häufig Stoff geliefert. Unter anderem war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen das Studium der Lebensgewohnheiten armer Leute. Verkleidet streifte er durch die verrufensten Gegenden Londons; er wohnte und schlief dort – und verteilte von Zeit zu Zeit erhebliche Beträge an Familien, die einen besonders harten Kampf ums Dasein führen mußten. Dabei gab sich der Mann in seiner Verkleidung – mit zerzaustem Bart und feuerroter Krawatte – niemals als Gregory Beale zu erkennen. Er hatte ein Dutzend anderer Namen und änderte seine Adresse von Woche zu Woche. Bald wohnte er in Limehouse, bald in Poplar, bald bei den Victoria Docks oder in Eastham. In der letzten Zeit war ihm die Sorge für die Armen etwas langweilig geworden – möglicherweise hatte er auch einige schlechte Erfahrungen gemacht. Eines Tages erfuhr die Gelehrtenwelt Londons, daß er nach Mittelamerika gegangen sei, um sich dem Studium der alten indianischen Kulturen zu widmen, die ihn schon immer besonders interessiert hatten.
Sechs Jahre, nachdem sein Anwalt die Verwaltung des ungeheuren Vermögens übernommen hatte, fuhr der Schnellzug, der Mr. Beale zurückbrachte, langsam in Waterloo Station ein.
Kein Freund holte den Forscher ab. Er stand ganz allein auf dem Bahnsteig – eine große, sehnige Gestalt mit braungebranntem Gesicht; seine blauen Augen leuchteten noch wie früher, nur seine Haare waren etwas grauer geworden.
Endlich bahnte sich sein Diener John einen Weg durch die Menge, um das Gepäck seines Herrn in Empfang zu nehmen.
»Ah, John Collitt – ich kenne Sie kaum mehr!« sagte Mr. Beale liebenswürdig.
»Jawohl, Sir – ich hoffe, daß Sie eine gute Reise hatten.«
Die Tür eines eleganten Wagens wurde vor ihm aufgerissen.
»Um das Gepäck kümmert sich eine Agentur – fahren Sie mich jetzt sofort nach Hause.«
Er sank in den tiefen Sitz zurück und beobachtete mit fast kindlicher Freude die vielen Bilder Londons, die an ihm vorüberzogen. Ein Mann schob einen Karren mit Äpfeln – auf der Westminster Bridge Street riefen Zeitungsjungen Extrablätter aus – das Parlamentsgebäude war hellerleuchtet.
Mr. Beale atmete tief. Er war wieder daheim!
Der Wagen fuhr durch den finsteren Park in die Brompton Road, bog links ein und hielt vor einem großen, vornehmen Haus. Der untersetzte, kahlköpfige Butler kam eilig die Treppenstufen herunter.
»Willkommen zu Hause, Mr. Beale.«
Basseys Stimme klang heiser. War es nur Erregung, oder war er so alt geworden? Gregory Beale schaute ihn verwundert an.
»Schönen Dank, Bassey.«
Der Hausmeister stieg vor ihm die Treppenstufen empor. Feierlich trat er dann zur Seite und ließ seinen Herrn zuerst durch die Tür gehen.
»Eine junge Dame wartet im Studierzimmer, Sir. Ich wußte nicht recht, was ich mit ihr anfangen sollte. Sie sagt, sie sei auf eine Annonce hin gekommen . . .«
Gregory Beale nickte lächelnd.
»Stimmt schon, ich habe telegrafisch in der Zeitung inseriert . . . Brauche eine Sekretärin. Bringen Sie die junge Dame bitte her.«
Daphne Olroyd folgte dem Hausmeister. Als sie eintrat, begegnete sie dem freundlich forschenden Blick Mr. Beales.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Miss . . .?«
»Olroyd«, erwiderte sie und lächelte ihn an. »Ich fürchte, daß ich etwas ungelegen komme – leider wußte ich nicht, daß Sie verreist waren.«
»Das wissen die meisten nicht. So bedeutend bin ich nicht, daß diese große Stadt von meiner Ankunft Notiz nimmt. Übrigens haben Sie doch ein Telegramm erhalten, in dem Sie aufgefordert wurden, sich vorzustellen. Mein Anwalt, Mr. Holden, hat es Ihnen gesandt; anscheinend war das Gehalt, das ich in der Annonce angab, so hoch, daß sich viele Leute um den Posten bewarben.«
Bildete sie es sich nur ein, oder klang wirklich ein Ton von Enttäuschung in seiner Stimme? Ihr Mut sank bei diesem Gedanken. Das Inserat hatte sie von einem unbekannten Freund zugeschickt bekommen und sich ohne große Hoffnungen um die Stelle beworben.
»Ich glaube, daß ich fast alle Ihre Ansprüche erfüllen kann«, erklärte sie jetzt schnell, um von vornherein jeden Einwand zu entkräften. »Ich kann sehr schnell maschineschreiben und stenografieren; Französisch spreche ich ausgezeichnet . . .«
Er hob abwehrend und beruhigend die Hand.
»Ich glaube Ihnen ja. Wo arbeiten Sie zur Zeit?«
Sie sagte es ihm. Anscheinend machte der Name Leicester Crewe gar keinen Eindruck auf ihn; er fragte sie nur, warum sie die Stellung wechseln wolle.
Sie zögerte etwas mit der Antwort.
»Das hohe Gehalt reizt mich natürlich, aber – vor allem möchte ich von Mr. Crewe fort.«
Er nickte und schaute einige Zeit nachdenklich zu Boden.
»Gut«, sagte er schließlich und fügte dann zu ihrer nicht geringen Freude hinzu: »Ich engagiere Sie – wann können Sie anfangen?«
Mit beschwingten, leichten Schritten verließ sie zehn Minuten später das Haus. Sie war gut gelaunt und dachte an nichts Böses. Doch als sie schnell aus der düsteren Nebenstraße in die Hauptstraße einbog, löste sich ein Mann aus dem Dunkel einer Mauer; er hatte sie von dem Augenblick an beobachtet, als sie das Astoria-Hotel verließ. Geräuschlos überquerte er die Straße und folgte ihr. Sie ahnte nicht, daß sie verfolgt wurde, bis sie sich an einer Ecke zufällig umdrehte und die dunkle Gestalt undeutlich durch den Nebel auf sich zukommen sah.
Zuerst wollte sie davonlaufen, dann überlegte sie sich aber, daß es vielleicht nur ein ganz harmloser Spaziergänger sei, und wollte warten, bis er vorübergegangen wäre. Doch plötzlich blieb die Gestalt stehen. Nur einen Augenblick konnte sie die Umrisse eines Mannes erkennen, dann war er im Nebel verschwunden. Gleich darauf wußte sie, warum er nicht weitergegangen war.
Ein Polizist kam auf seinem Patrouillengang langsam auf sie zugeschlendert. Und die Beauftragten der gefiederten Schlange vermeiden Begegnungen mit der Polizei.